Konsumententempel – vom Plattenladen zum Megastore
Dem kleinen Plattenladen um die Ecke steht das Wasser bis zum Hals. Der Zug der Zeit fährt zum Mega-Store: hypermoderne "Erlebniszentren" mit Video-Monitoren und Cafeterias, mit riesigem Sortiment, fachkundigem Personal und einem High-Tech-Ambiente, mit dem etwa "Tower Records" (r.) am Londoner Piccadilly Circus lockt. Beobachtungen zum Strukturwandel im Schallplattenhandel.
Selbst die bekanntermaßen eher hartgesottene britische Presse muß schon aut ihre traditionellen satirischen Qualitäten zurückgreifen, weil sie dem Phänomen der neuen Mega-Stores beikommen: „Ohne entsprechende Ausrüstung würde man sich nicht trauen, ihr gesamtes Inneres zu erkunden – feste Schuhe. Kompaß, leuchtend oranger Anorak, ein Riegel Pfefferminz-Schokolade. Ein Trip in die Reggae-Abteilung nimmt unter Umständen kaum weniger Zeit in Anspruch als ein Flug nach Jamaika. Und ju’r die Couniry & Western-Abteilung benötigt man schon einen Tagesritt auf einem frischen Pferd“, heißt es etwa im englischen Trend-Magazine „Q“.
Ganz so schlimm ist das alles in Wahrheit natürlich nicht, aber die Dimension jener vier Megastores, die da im Gebiet um die Londoner Oxford Street um Käufer buhlen, sind schon beeindruckend: Im Umkreis einer Meile bringen dort vier Geschäfte rund 69r aller im gesamten Königreich verkauften Tonträger an den Mann – zwei Läden der britischen Kette HMV, Richard Bransons Virgin-Mega-Store und eine Filiale der amerikanischen Firma Tower Records. Der jüngere der beiden HMV-Shops,m seiner heutigen Form 1986 eröffnet, gilt als größtes Plattengeschäft der Weh. nur einige hundert Meter entfernt vom legendären. 1927 gegründeten Stammhaus der 46 Filialen starken Kette mit dem Hund und dem Grammophon („His Masters Vbice“) im Emblem. Kaum kleiner ist der Londoner Superstore des Multi-Unternehmers Richard Branson und die Tower-Niederlassung. Aber es sind nicht allein die Größenverhältnisse, die diese Mega-Stores zu einem Phänomen werden ließen.
PLATTENSHOPS ALS FREIZEIT-ZENTREN
Der harte Konkurrenzkampf entlang der Oxford Street hat die Händler erfinderisch gemacht. Der Innenarchitektur ihrer Läden etwa lassen sie größte Aufmerksamkeit angedeihen. Virgin läßt seiner Einrichtung alle drei Jahre von einer führenden Design-Gruppe ein trendgerechtes Facelift verpassen. Die Designer des neuen HMV-Stores haben für den Laden einen Stil kreiert, den sie „Studio Tech Environment“ nennen, und auch bei Tower hat man den Wert des Laden-Stylings erkannt: „Es geht dabei nicht so sehr um die Farbe der Wände. Es gehl darum, sich Gedanken über die Bedürfnisse des Kunden zu machen: Kann er alles leicht finden? Gibt es gute Wegweiser? Erlebt er das Plattenkaufen bei uns als angenehm?“, erklärt Steve Smith, der von den USA aus die Expansion des Unternehmens leitet.
Doch mit schicker und sachgerechter Innenarchitektur allein ist es beim verwöhnten Publikum der späten Achtziger nicht mehr getan. Extravagantere Attraktionen sind angesagt. „Erlebniswelten“ heißt das Zauberwort, nach dem wirklich moderne Händler ihre Läden inzwischen auszurichten suchen.
Russ Solomon, Gründer und Besitzer von Tower Records. hat in Amerika vorgemacht, wie das geht: “ Wir versuchen eine Atmosphäre und ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Leute gerne eine Weile aufhalten, um zu sehen, was so los ist. was es an Neuem gibt. Wenn sie das erstmal getan haben, kaufen sie sowieso meistens etwas. „
Damit das funktioniert, muß eine ganze Menge Entertainment geboten werden. Videomonitore,
die non-stop die neuesten Clips präsentieren, gehören im State-Of-The-Art-Plattenladen schon fast zur Selbstverständlichkeit. Fast alle Megastores werben inzwischen mit Autogrammstunden und Live-Auftriiten bekannter Gruppen. Im vergangenen Herbst kamen zu einer Autogrammstunde mit Depeche Mode mehr als 1000 Fans in einen der beiden HMV-Shops, wenige Wochen später spielten Echo And The Bunnymen einen Live-Set auf dem Dach des anderen.
Wenn Virgin-Boß Branson mal nicht mit einer Yacht kieloben im Atlantik treibt oder mit dem Heißluft-Ballon abstürzt, produziert er höchstpersönlich Ideen zur Unterhaltung seiner Kunden. So hat er in seinem Londoner Supershop lebensgroße Wachsfiguren von Popstars wie Michael Jackson aufstellen lassen (besonders gelungen sind die freilich nicht). Und im Keller gibt’s (hinter Glas) eine kleine CD-Fabrik zu bestaunen.
Tower’s Russ Solomon, der mit Branson außer dem Backenbart und dem Ideenreichtum auch eine gewisse Exzentrik teilt, läßt in seinen fünf Los Angeles-Läden derzeit eine mannshohe Maschine testen, die dem Kunden auf Knopfdruck über Kopfhörer 30 Sekunden lange Ausschnitte aus aktuellen Alben vorspielt und dazu auf einem Monitor Information zur Platte, Biographien der Kunstler oder aktuelle Tourdaten zeigt.
Eine noch entscheidendere Rolle als modisches Laden-Design und unterhaltendes Beiwerk aber spielt auch für die Megastores ihr Angebot, in der Handelssprache Sortiment genannt. Vor allem Russ Solomon hat da eine ganz spezielle Philosophie geprägt.
„Wir tun im Grunde folgendes: Wir bauen sehr große Läden in kultivierten Städten mit anspruchsvollem Publikum, das eine große Auswahl haben will. Wir bieten ihm die Auswahl! Man muß wirklich wahnsinnig viel fihren. wenn man die Nase vorn haben will.
Nehmen wir zum Beispiel mal Miles Davis: Der hat 62 Alben gemacht: wieviele davon findet man in einem normalen Plattenladen? Acht, zehn? Man braucht schon einen verflucht großen Laden, um all diese Dinge führen zu können. „
Die Devise heißt also: so viele Platten wie möglich von so vielen Musikern wie möglich. Nicht nur das aktuelle und vielleicht auch noch das vorletzte Album eines Künstlers, sondern alle.
Die Tower-Leute nennen diese ihre Spezialität „deep catalog selling“. Das schließt nicht nur die Erzeugnisse der großen Industriefirmen, sondern auch die Produkte kleiner Independent-Labels mit ein. Chef Solomon gibt sich halt gerne als Indie-Fan: „13 bis 15 Prozent unseres Umsatzes kommen aus unserem Bestand an Independent-Platten. Darunter sind auch Platten, die nicht nur unabhängig hergestellt, sondern auch unabhängig vertrieben werden: zum Teil nehmen wir sie direkt von den Labels in Kommission.
RIESEN-AUSWAHL BIS NACH MITTERNACHT
Das ist ein wichtiger Teil unseres Geschäfts, den aufzugeben ich hassen würde. Denn daß wir all diese Independent-Platten führen, macht Tower eigentlich erst zu dem, was Tower ist: der Ort, zu dem Musikfans kommen, um das Unübliche zu finden – und nicht nur das, was sie auch in der Plattenabteilung eines Kaufhauses auftreiben können. „
Die größten Tower-Filialen haben einen ständigen Vorrat von rund 600000 Platten, selbst die kleinsten haben immer noch 150000 auf Lager, im Vergleich zu den etwa 25000, die die Geschäfte anderer amerikanischer Ketten durchschnittlich in ihren Regalen stehen haben.
Bis Mitternacht sind diese gewaltigen Massen den Käufern zugänglich, freitags und samstags sogar noch länger – die großzügigen amerikanischen Ladenschlußgesetze machen’s möglich. Und das Publikum nutzt das aus: „Manche unserer Shops sind richtige Szene-Treffs. Es macht Spaß, bei uns einzukaufen“, tönt Russ Solomon stolz.
Zusätzliche Pflege erfährt das Image der Tower Shops auch noch durch eine Tower-eigene Zeitung, „Pulse“ betitelt und stilistisch an den berühmten „Rolling Stone“ angelehnt, die ausführlich und durchaus mit journalistischem Anspruch über die Musik berichtet, die die Ladenkette verkauft.
Mit diesem Konzept hat es der Sohn eines Gemischtwarenhändlers aus Sacramento weit gebracht. Heute regiert Solomon über ein Imperium aus 41 Läden in 33 US-Städten plus London und Tokyo, in denen allein im Geschäftsjahr 1986 250 Millionen Dollar umgesetzt wurden. Ein Ende des Tower-Wachstums kann Solomon nach eigener Aussage selbst noch nicht absehen, sein Appetit ist jedenfalls noch lange nicht gestillt. Selbst ein Laden in Moskau ist inzwischen im Gespräch.
WOM IN DEUTSCHLAND BOOMT KRÄFTIG MIT
Längst hat das Mega-Store-Fieber auch die Bundesrepublik erreicht, und zwar in Form der Kette WOM (World Of Music). Im Jahre 1982 gegründet, gerade als bei Tower in Amerika ein gewaltiger Wachstumsschub einsetzte und auch die Londoner so richtig loslegten, ist das Unternehmen derzeit mit neun Läden in sieben Großstädten präsent; in diesem Monat kommt eine neue Niederlassung (in Frankfurt) hinzu. Mit einigem Geschick haben sich die W0MMacher die besten Tncks der Engländer und Amerikaner abgeschaut und dazu noch einige selbst entwickelt. Mit Tower, HMV und Virgin hat man etwa das „deep catalog seiling“-Konzept gemein – im Deutschen heißt das dann „tiefgestaffeltes Sortiment“. Mehr als 1000000 Tonträger stehen im bisher größten WOM-Shop in Köln, über 60000 verschiedene Titel halten die größten Niederlassungen der Kette bereit – da können sich die Deutschen durchaus mit ihren britischen und amerikanischen Kollegen messen.
Wie in deren Shops sind auch in den WOM-Läden zahlreiche Videomonitore im Einsatz, meist in großflächigen Videowänden im Eingangsbereich. Schließlich haben die WOM-Macher auch das Entertainment-Prinzip der Amerikaner in ihre Strategie aufgenommen. „Wer zu WOM kommt, setzt seinen Fuß in eine musikalische Erlebniswelt“, heißt es in einer Selbstdarstellung der Firma. WOM-Mitgesellschafter Klaus Seepanik spricht denn auch gerne von der „Atmosphäre der Kommunikation in unseren Läden. Das sollen wirklich Treffs für die Musikfreaks sein, an denen man sich die neuesten Informationen über Musik holt.“
In dieses Konzept der „Musik zum Erleben“ paßt auch ein Service, den das Unternehmen den ausländischen Firmen voraus hat: Die einst im deutschen Plattenhandel übliche und seit den frühen 70er Jahren immer mehr in Vergessenheit geratene Tugend des Vorspielens hat man bei WOM wieder aufgegriffen und erweitert. Mehrere hundert Kopfhörer, in denen non-stop LPs und CDs zu hören sind, hängen in jeder ihrer Filialen. Vertriebschef Christoph Bühring-Uhle: „Bei uns muß keiner die Katze im Sack kaufen.“
Auch bei WOM schmückt man sich gerne mit prominenten Namen und lädt deshalb zu Live-Performances und Autogrammstunden mit Stars wie Kim Wilde, den Simple Minds oder Supertramp ein. Besonders agil sind die WOM-Leute in puneto Werbung. Neben intensiver Zusammenarbeit mit diversen Stadtzeitungen und privaten Radio-Stationen leistet man sich auch noch, getreu dem großen Vorbild Tower Records, eine eigene Zeitschrift, das allmonatlich erscheinende „WOM Journal“.
All das hat sich bisher für World Of Music bestens ausgezahlt; im vergangenen Jahr konnte die Firma ihren Umsatz um 31% auf 68 Millionen Mark steigern, 1988 sollen runde 100 Millionen draus werden.
Der Erfolgshunger ist damit aber noch keineswegs gestillt; man plant, sich kräftig weiter zu vergrößern. Vertriebsleiter Bühring-Uhle, der für die Expansion zuständig ist: „Durch die Beteiligung von Hertie. das im Januar letzten Jahres bei uns eingestiegen ist, können wir das jetzt noch besser. Hertie ist in vielen Städten in den besten Verkaufslagenpräsent, diesen Vorteil wollen wir nutzen.“ Nach der Eröffnung in Frankfurt soll Ende September Karlsruhe den nächsten Schritt in der WOM-Expansion erleben.
Doch während sich WOM im Glänze seines Aufstiegs zum größten Tonträgerspezialisten der Bundesrepublik sonnt, haben andere große Sorgen. Die mittleren und kleinen Plattenhändler in Deutschland, schon seit Jahren nicht gerade mit fetten Zuwachsraten verwöhnt, erleben – wie es ein Handelsblatt formuliert – derzeit eine „Welle der Pleiten“.
HARTE ZEITEN FÜR DIE KLEINEN
Genaugenommen hat ihr Darben schon in den 60er Jahren begonnen. Und schuld daran war ausgerechnet die Blüte der Rockmusik in dieser Zeit. Denn die eher betulichen mittelständischen Radiohändler, die bis dahin den Handel mit Schallplatten (quasi als Nebenerwerb) in ihrer Hand hatten, zeigten sich dem Boom der progressiven Klänge nicht gewachsen. Sie hatten in ihren Geschäften weder genug Raum, den plötzlich enorm zunehmenden Ausstoß der Industrie zu bewältigen, noch kannten sie sich in der neuartigen Musik genug aus. Ein besonders hippes Einkaufsklima herrschte in ihren Läden auch nicht gerade.
Einen zusätzlichen Schlag ins Kontor erhielten die Händler, als um 1970 die Preisbindung für Schallplatten fiel. Bis dahin hatten LPs durch die Bank 22 Mark gekostet; damit war’s nun vorbei. Findigere und progressiver eingestellte Händler wie Govi oder Montanus traten auf den Plan, wirkten als Preisbrecher und wuchsen schnell zu respektablen Handelsketten heran. Den Radiohändlern blieb da oft nur der Zusammenschluß zu Einkaufsgenossenschaften, die Selbstbeschränkung auf ein reines Klassik-Repertoire oder sogar der Rückzug aus dem Geschäft.
„Manche der Kleinen zehren heule fast nur noch von Kundschaft mit Aversionen gegen die großen Firmen – zumindest in den Großstädten“, konstatierte WOM’s Bühring-Uhle. „Sie sind ja nicht nur von großen Fachhandelsketten wie uns bedroht, mit deren breitem Angebot und Service sie nicht mithalten können. Noch gefährlicher sind für sie die ganz großen Kaufhaus-Ketten und Medienmärkte mit ihren Billigpreisen. Zwischen denen und uns werden viele der Kleinen leider zerrieben.“
Besonders die Medienmärkt sind Bühring-Uhle ein Dorn im Auge: „Die müssen mit den Platten ja oft gar kein Geld verdienen. Die haben sich riesige Läden draußen vor der Stadt auf die grüne Wiese gestellt und benutzen die Platten jetzt, in dem sie sie zu Niedrig-Preisen als Lockmittel einsetzen.“
Diese Sichtweise teilt auch Dieter Oehms, der Vertriebschef des Polygram-Konzerns: „WOM zerstört ja wenigstens nicht die Preise. Aber andere verhauen uns die Produkte.“ Oehms beobachtet das Sterben des kleinen und
mittleren Handels keineswegs unbeteiligt, wenn ei auch meint: „Man wird das wohl nicht ganz aufhalten können.“ Zu genau weiß die Industrie, daß sie auf den Mittelstand des Handels nicht verzichter kann. Vor 15 Jahren wurden in der Bundesrepublik noch in über 5000 Geschäften Schallplatten verkauft, heute sind es nur noch knapp 2000, Kaufhäuser eingeschlossen.
Da findet der deutsche Tonträgermarkt mil seinem Jahresumsatz von 2,5 Milliarden Mark fasl nur noch in den Großstädten statt. In mancher Regionen müssen die Fans schon bis zu 50 km weil fahren, um bestimmte Schallplatten kaufen zu können. Doch auch in der Provinz wollen unc müssen die Plattenfirmen Geld verdienen. Polygram hat deshalb vor anderthalb Jahren ein „Mittelstandsprogramm für den Tonträger-Einzelhandel“ erarbeitet. Vor allem mit Konditionsverbesserungen will das Unternehmen den Kleinen unter die Arme greifen.
Oehms rät ihnen außerdem zum Umdenken. „Es gibt schon Überlebenschancen. Man muß sich halt als kleiner Händler eine Nische suchen. Riesen wie WOM oder Saturn sollte man nicht nacheifern.“
Sowohl Oehms als auch WOM-Mann Christoph Bühring-Uhle empfehlen den Konkurrenten aus dem Mittelstand die wiederauferstandene Musiccassette als Handelsobjekt. Dank Waikman-Boom und erstklassiger Autostereo-Geräte gibt’s inzwischen wieder zweistellige Zuwachsraten. Oehm: “ Warum probiert’s nicht mal einer mit einem reinen Cassetten-Laden? Bei den MCs sind die Großen doch gar nicht so engagiert!“
Das Händlermagazin „Der Musikmarkt“ urteilte kürzlich, die negative Entwicklung des kleinen und mittleren Fachhandels in der Bundesrepublik sei „kein unabänderliches Schicksal wie ein Vulkanausbruch“. Die kleinen Fische werden’s mit großem Interesse gelesen haben.