Kommentar: Kommt jetzt die Impfpflicht durch die Gästeliste?
Obwohl gerade an der Frischluft einiges geht, wird die Konzertbranche einen schwierigen Herbst vor sich haben. Der Frage, ob man irgendwann nur für Geimpfte und Genesene Konzerte veranstaltet, wird sich die Live-Branche bald stellen müssen.
Die Aufregung um die (oft falsch verkürzten) Aussagen von Jens Michow vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft zeigt, dass die Nerven blank liegen. Sobald nur jemand zu deutlich betont, dass eine hohe Impfquote der sicherste und beste Weg ist, um im Konzertleben, im Einzelhandel und in der Gastronomie wieder so etwas wie eine „Normalität“ zu erreichen, laufen die Gemüter heiß. Ein Problem, vor dem die Politik natürlich gerade auch steht. Kaum sagte zum Beispiel Helge Braun vor einigen Tagen, dass er Einschränkungen für Nicht-Geimpfte erwartet, schoss Kanzlerkandidat und Parteikollege Armin Laschet entrüstet zurück. „Ich halte nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen“, meinte er im ZDF-Sommerinterview.
Keine „Impfpflicht durch die Hintertür“, aber …
In diesem Zusammenhang fällt immer wieder die inzwischen recht abgewetzte Formulierung, dass es keine „Impfpflicht durch die Hintertür“ geben werde. Man versteht natürlich, warum das betont wird. Eine Impfpflicht von Seiten der Regierung ist psychologisch fragwürdig und juristisch vermutlich entweder nicht haltbar oder zumindest anfechtbar. Aber heuchlerisch ist es trotzdem, das immer wieder zu betonen. Denn eine gefühlte Impfpflicht wird es früher oder später geben – nicht durch die Hintertür, sondern durch den Haupteingang, die Gästeliste oder meinetwegen auch die Ticketkontrolle. Ein Satz, der natürlich etwas polemisch ist, aber trotzdem eine sehr reale Situation beschreibt. Die Live-Branche wird, ähnlich wie der Einzelhandel, irgendwann im Herbst oder Winter allein aus wirtschaftlichen Gründen erwägen, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen. Wenn jeder die Möglichkeit hat ein Impf-Angebot anzunehmen und eine klare Mehrheit dies wahrgenommen hat, wird man in Bereichen, die nicht zur Grundversorgung gehören, schnöde gegenrechnen, ob es finanziell clever ist, noch Rücksicht auf die Ungeimpften zu nehmen. Vor allem, weil das Virus – wie ja die aktuellen Entwicklungen belegen – in dieser Gruppe seine Opfer sucht.
Die Sache mit dem Hausrecht
Das sagt so ungefähr zum Beispiel auch Jens Michow in seinem Statement, von dem wir hier die von ihm auf seiner Facebook-Seite richtig gestellte Version zitieren: „Wenn das Infektionsrisiko bei Getesteten zu groß ist, müssen jedenfalls Veranstaltungen nur für Geimpfte und Genesene erlaubt werden. Wenn Veranstaltungen unter diesen Bedingungen ohne Abstandsregeln durchgeführt werden dürfen, erlaubt es unser Hausrecht, nur diesen Personen Zugang zu gewähren. Auch das Personal und die Künstler müssen für solche Veranstaltungen dann natürlich geimpft sein.“ Die Livebranche steht dabei unter einem enormen finanziellen Druck: Zwar gibt es staatliche Unterstützung wie den „Neustart Kultur“, der gerade viele Open-Air-Veranstaltungen mitfinanziert, aber trotzdem drängt die Branche darauf, früher oder später wieder Konzerte mit voller Auslastung machen zu können – weil eben nur diese finanziell tragbar sind. Bei „BILD Live“ sagte Michow dazu: „Es muss möglich sein, eben für diejenigen, die den Schutz haben, auch Veranstaltungen durchzuführen und zwar ohne Restriktionen. Ich betone immer wieder gerne, dass Veranstaltungen mit Abstandsregelungen für uns keine Veranstaltung sind, weil sie nicht wirtschaftlich sind. Professionelle Veranstalter müssen auch Geld verdienen können und mit 100 Prozent Kosten und 25 Prozent Einnahmen lässt sich nur mal kein Geld verdienen.“
Wie geht man mit Getesteten um?
Ein entscheidender Punkt in diesem Statement ist die Sache mit dem „Infektionsrisiko bei Getesteten“. Vorfälle wie die jene in Utrecht, wo nach einem Techno-Festival 1.000 der 20.000 Besucher eine Corona-Infektion mit nach Hause brachten, lassen vermuten, dass die Tages-Antigen-Tests entweder zu unsicher sind, oder sich viele nach dem Test noch infiziert haben und diese Infektion auf dem Festival im Gedränge weitergetragen haben. Das waren zumindest die Interpretationen der holländischen Gesundheitsbehörden. Wobei es ebenso sein könnte, dass Geimpfte den Virus weitergeben. Aber auch hier kommt man am Ende zur logischen Schlussfolgerung: Am sichersten ist man, wenn man sich nur mit Geimpften und Genesenen umgibt und auch das eigene private Umfeld im Idealfall komplett durchgeimpft ist: Je mehr Geimpfte, desto geringer die Angriffsfläche des Virus.
In anderen Ländern, die schon ein wenig länger impfen, kann man derweil Szenarien beobachten, die sich auch bei uns abspielen könnten: Nachdem die ersten Shows im wieder eröffneten Madison Square Garden in New York nur für Geimpfte und Genesene geöffnet waren, die dann ohne Maske und Abstand feierten, hat man den Kreis inzwischen wieder auf Getestete erweitert. Es gibt sogar vor Ort die Möglichkeit des Testens. Eine Option, die zwar bei uns auch denkbar wäre, aber auch hier wird die Regierung vermutlich irgendwann damit beginnen, die Kosten der Tagestests nicht mehr zu übernehmen, um die Anreize für eine Impfung zu verstärken.
Nur „normal“ ist rentabel
Bleibt am Ende die Frage, wie die Künstlerinnen und Künstler zu der Sache stehen. Am besonderen Fall Nena, zeigt sich, dass auch hier Konflikte entstehen können. Ebenso im Umfeld von Konzertlocations wie dem Docks, das in den letzten Monaten oft für Schlagzeilen sorgte. Die große Mehrheit wird aber wohl auch alles unterstützen, was wieder zu „normalen“, sprich „rentablen“ Konzerten führt. Selbst wenn gerade durch das Aufflammen der Infektionen durch die Delta-Variante generell die Sorge um einen weiteren Herbst ohne große Auftrittsmöglichkeiten umgeht, so werden viele Akteure der Branche spätestens zum Jahresende forcieren, dass es weitergehen muss und – wenn es der Staat erlaubt – Konzerte ohne Abstandsregeln und Masken stattfinden können, wenn alle geimpft oder genesen sind.
Die großen, verschobenen Touren erhöhen den Druck
Viele große Touren der letzten Jahre sind nämlich auf Anfang 2022 verschoben worden, die Locations auf Anschlag ausgebucht – auch das ergibt eine Druck-Situation, die den Prozess befeuern wird, hier Fakten zu schaffen. Im Einzelhandel sprach vor kurzem einer der größten Verbände, der Handelsverband Deutschland, einen ausdrückliche Impf-Appell aus – gut möglich, dass auch die Live-Branche das bald offiziell tun wird. Es wird jedenfalls kein Zufall sein, dass sich Michow so umfangreich geäußert hat und die Situation recht schonungslos beschrieben hat.