Kettcar: Sylt
„Elvis has left the Kartenhaus“: Kettcars neues Album SYLT, unter die Lupe genommen und kritisch gewürdigt von MUSIKEXPRESS-Leser Benno Schwinghammer.
Dass die Jungs von Kettcar „musikalisch das Rad nicht neu erfinden“ war ihnen schon länger klar. Es waren eben schon immer die Texte, auf die die Leute aufmerksam wurden. Mit ihrem dritten Studioalbum wagen die Hamburger zwar keine großen Experimente, weder musikalisch noch textlich, können aber dennoch überzeugen.Sylt ist ein Idyll, landschaftlich schön, aber überfüllt mit Neureichen und Blendern. Die oberflächliche „oberste“ Gesellschaftsschicht feiert sich dort in noblen Restaurants in Kampen und Westerland selbst. Warum Kettcar ihr jüngstes Album nach der Insel der oberen 10.000 benannt haben, wird wohl am ehesten an der ersten Singleauskopplung „Graceland“ deutlich: Der Wohnsitz und der Lebenswandel des Kings, namentlich Elvis Presley, steht für die uns umgebende Gesellschaft, deren Oberflächlichkeit und Verlogenheit bei einer Party besonders deutlich wird, „die Luft ist geschwängert mit Lügen“ und alle warten nur auf das nächste große Ereignis, den nächsten „Hüftschwung“.Musikalisch kommt das neue Album etwas rockiger daher als seine beiden Vorgänger, so dass der selbst gegebene Genrebegriff des Gitarrenpop leicht zu wackeln beginnt. Der Textteil lässt auch im dritten Album der Band keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Ganz im Gegenteil: Kritiker bringen Kettcar häufig in Verbindung mit „schnulzigen“ Liedern über Liebe. Sie werden durch SYLT enttäuscht werden. Denn wo das zweite Album von Verliebtheit und Glück nur so sprühte, bewegt sich das neue Werk irgendwo zwischen nüchtern und realistisch. Der Song „Am Tisch“ wirkt beim ersten Hinhören lebensbejahend. Dass es eher um Enttäuschung und Entfremdung geht, wird erst beim genaueren Hinhören klar. Ähnliche Gefühle werden in vielen Liedern der Platte angesprochen, ein weiteres Beispiel dafür ist der Track „Verraten“.SYLT wurde von drei Produzenten beeinflusst, entsprechend ergibt sich ein abwechslungsreiches Erscheinungsbild: teils lustig, teils dramatisch, düster, aufgewühlt und bedrückend, dann auch wieder pathetisch; was bei vielen Sängern peinlich wirken würde, kommt bei Markus Wiebusch fast schon philosophisch rüber. Die Menschen dagegen, über die Wiebusch singt, sind „lieber peinlich als authentisch“, gerechtfertigt mit dem Satz „authentisch war schon Hitler“ („Kein Außen mehr“), der ihre ganze Stumpfsinnigkeit offenbart.Die Texte sind insgesamt gradliniger und besser verständlich als diejenigen, mit denen Kettcar 2002 debütierte. Die heutigen wirken dagegen trotzdem nicht blasser, sondern nur wie etwas anderes – kein Schritt nach vorn, keiner zurück, einer zur Seite.SYLT ist ein weiteres gutes Album von Kettcar, facettenreich und intelligent, manchmal etwas zu vorhersehbar, aber dennoch nicht langweilig und keinesfalls „schnulzig“. Kettcar dringen nicht in neue Sphären vor, was aber auch niemand mehr erwartet, weil sie schon genug Maßstäbe gesetzt haben. Die Texte fokussieren sich vor allem auf die Lügengebäude derjenigen, die entweder „tot oder jung“ sein wollen – so wie Elvis, der sein Leben auf diese Weise gestaltete. Markus Wiebusch sagt dazu nur: „Elvis has left the Kartenhaus“ („Graceland“).
Benno Schwinghammer – 08.05.2008