Kommentar

„Kaulitz & Kaulitz“: Eine Serie, die nichts für Kapitalismuskritiker & Neil-Young-Fans ist


Unsere Review zur Serie, die zeigt, wie zwei Typen alles geworden sind, was sie mal werden wollten.

Das Magdeburger Brüderpaar Bill Kaulitz und Tom Kaulitz führt via Reality-TV vor, wie man sich erfolgreich rauskratzen kann, aus dem provinziellen Mief der ostdeutschen Dörfer. Eine Netflix-Serie begleitet die beiden Musiker jetzt durch ihren Alltag. Lest hier unsere Gedanken zu „Kaulitz & Kaulitz“.

1. Reality Soap

Seit dem 25. Juni zeigt Netflix die erste Staffel der Serie „Kaulitz & Kaulitz“. Angelehnt, um nicht zu sagen 1 zu 1 von den bekannten US-Formaten gleichen Strickmusters (z.B.„Keeping Up with the Kardashians“) abgeguckt, bringt sie uns Lifestyle und Alltag der berühmten Tokio-Hotel-Zwillinge nahe. Durchgehend geplottet und gescriptet bietet diese Soap alles an, was Zerstreuungsfernsehen vermag. Und mehr. Darin liegt dann vielleicht die Besonderheit, dieses vergnüglichen, in diesem Fall ausschliesslich für den europäischen Markt produzierten Formats. Wir sind „dabei“ und natürlich doch wieder nicht, obwohl sich das Leben der beiden 34-Jährigen als vorgeblich realitätsnah gestreamtes Dauerfeuerwerk aus Fun und Arbeit, aus Selbstironie und Reklame präsentiert.

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Kann man das kritisch sehen? Bestimmt. Macht das Spaß? Allerdings! Denn so, wie die kurz vorm Untergang der DDR in Sachsen-Anhalt geborenen Brüder das pralle, von Contentzwang und „Geld haben“ geprägte Leben in Übersee umarmen, hat man deutsche Künstler noch nie gesehen. Es liegt viel Freiheit in dem, was die beiden sich einfach mal so zutrauen und für sich entscheiden. Und eine Form von „Das nehmen wir jetzt auch noch mit“, die gerade skeptischen Geistern aus dem Kulturbetrieb hierzulande völlig fremd sein dürfte. Die vorgeführte Entgrenzung und das kapitalistische Freiheitsversprechen tanzen letztendlich den hiesigen Kritiker:innen auf der Nase herum.

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Wo das alles herkommt, wie Bill und Tom dort ankamen, wo sie jetzt sind, beleuchtet die Serie ausführlich. Sie öffnet Türen einen Spalt breit, spendiert Einblicke, aber hält sich dort zurück, wo Schmerzpunkte allzu sichtbar werden. Sie ist nicht voyeuristisch unterwegs. Ist das schon eine Form von Lüge oder Verschweigen? Vielleicht, aber das Zuschauer:innengehirn kann ja durchaus das Nichtgezeigte dazurechnen. Diese Qualität hat die erste, achtteilige Staffel, denn sie läßt zu, dass die Kamera ab und zu ein wenig länger auf den Gesichtern der Zwillinge verharrt, als unbedingt nötig. Ein gefrierendes Lächeln, hochgezogene Augenbrauen, zitternde Mundwinkel – all das ist, trotz aller Schrillheit, wahrnehmbar und kann vom Sofa aus eingeordnet werden.

2. Zwillinge

„Kaulitz & Kaulitz“ erzählt eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte zwischen Bill und Tom. Im Alter von zehn Jahren in ein Kaff namens Loitsche in der Nähe von Magdeburg verfrachtet, mussten sich die die beiden früh mit ihrer Andersartigkeit, ihren Wünschen, die zu groß für die Provinz waren, auseinandersetzen. In Rückblenden, werden diese schweren ersten Jahre von beiden beschrieben, auch ihre Mutter kommt zu Wort und wirft einen traurig/hilflosen Blick zurück. Schwierigkeiten und Herabwürdigungen in der Schule konnten nur zu zweit ausgehalten und bewältigt werden. Zuhause, im Kinderzimmer, wurde alles immer wieder gut, wuchsen Resilienz und Ehrgeiz durch gegenseitiges Trösten und Empowern.

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Soviel wird also deutlich: Sie hatten sich gegenseitig und haben sich eben noch heute. Ihre Vertrautheit und immense Verbundenheit ziehen sich durch jede Folge. Sie bilden den Markenkern der Zwillinge. Ohne einander können sie nicht, daraus machen sie keinen Hehl. Bill, der queere Aneckende und Tom, der ruhige Heterosexuelle mit Sinn fürs Praktische, bilden ein Match made in heaven. Das ist ihr großes Glück. Nur so konnte ihre Karriere zustande kommen, denn – auch das gehört zur Wahrheit – an der Musik ihrer Band Tokio Hotel kann es nicht gelegen haben. Diese ist längst zur Randerscheinung und Unterfütterung eines Showlebens geworden. Sie spielt kaum noch eine Rolle. Auch Gustav und Georg, die beiden in Magdeburg zurückgelassenen Bandmitglieder, sind eigentlich nur Staffage und Zuarbeiter, wenn auch eine hochsympathische. Gegen Bill und Tom, die beiden eloquenten Dampfplaudertaschen, kommen sie ohnehin nicht an.

3. Geld

Davon ist im Hause Kaulitz genug vorhanden. Es wird ausgegeben, aber auch permanent eingenommen. Die Serie begleitet Kaulitzens emsige Vermarktungsarbeit, die von einer nicht geringen Anzahl Mitarbeiter:innen unterstützt und gemanagt wird. Ein Podcast („Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood“, supererfolgreich, wöchentlich) McDonald’s Werbung, Shows im Privatfernsehen – alles wird gemacht. Ohne zu zögern. Weil es um Moneten, um Patte geht. Und um permanente Sichtbarkeit. Man schaut, sich mitunter windend, dabei zu. Besonders Bill scheint ein fast sexuelles Verhältnis zu seinen Kreditkarten zu haben, etwa, wenn er sich für fünfstellige Beträge spontan eine Glitzerklamotte kauft („Das zahlt in die Karriere ein, am Ende des Tages, Tom!“).

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Diese Essenz von Pop wird uns vorgeführt. Und seine Möglichkeiten. Die Zufriedenheit, die beide verströmen, wenn sie über Luxusgüter und ihren Markenkonsum reden, ist auf weirde Art zum Neidischwerden. Scheiß auf Indie. Die zweite Erfolgsband aus dem Osten, Rammstein, badet zwar auch im Champagner des Lebens, aber anders. Brutaler und Unbarmherziger. Und misogyn. Ihr hat der Ruhm, räusper, nicht gut getan, „Tokio Hotel“ schon, zumindest jetzt gerade. Ihre Message: „Wir haben ja gesagt, ihr werdet schon sehen, Dorfmotherfucker!“, ist die weitaus sympathischere, weil sie die Übeltäter:innen und Mobber:innen hinter sich läßt, anstatt selbst zu ihnen zu werden.

Großzügig wird mit Freund:innen und Familie geteilt. Werden Geschenke gemacht und unter Arme gegriffen. Eine Form von naiver Großzügigkeit, die vieles ausklammert, die man aber nicht übel nehmen kann und will. Bill und Tom als Platzhalter für unsere, aus politischen und moralischen Gründen nicht ausgelebten Exzessfantasien und heimlichen Wünsche. Auch dafür sorgt die Serie. Sie fungiert in ihren besten Momenten als Entlastungsfantasie.

4. Privacy

Nur Bill zeigt sein Haus. Tom, seit Jahren mit Heidi Klum verheiratet, möchte nicht zu viel preisgeben. Er geriert sich in diesem Format als Ehemann und Stiefvater, als Angekommener. Barbecues, Hundesitting, College-Besichtigungen und Arbeit am neuen Album. Er ist Versorger und Tröster. Und die große, sympathische Figur. Ab und zu fragt man sich im Verlauf der Serie, wie er an die Bullies in Loitsche zurückdenkt. Vermutlich so: Ihr verlegt Fliesen für den Betrieb eures Onkels, ich lebe in Hollywood und schlafe mit Heidi.

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Bill ist ein Suchender und trotzdem der stolze Präsentierer seines Umfelds. Parties, Top-Kleidung, Datingenttäuschungen: Unsere Neugierde wird befriedigt. Ab und zu blitzt bei ihm ein wenig Traurigkeit auf. Auch Charlotte Kaulitz, die Mutter der Zwillinge, äussert sich zu den Lebensumständen ihrer Sprösslinge. Ohne den Begriff „Bodenständigkeit“ überstrapazieren zu wollen – sie erdet ihre Söhne anscheinend. Ihrer Zuneigung und zuverlässige Liebe sei es zu verdanken, dass sich beide entfalten konnten. Die von ihr gestalteten Familienalben öffnet sie großzügig: Bill in Mädchenklamotten und mit Zopffrisur. Tom mit Spielzeuggitarre. Ihr zuliebe holten beide online ihren Realschulabschluss nach.

5. Heidi

Ja, auch sie taucht in der Serie auf.

6. Dämonen

Erstaunlich ungeschönt werden immer wieder Bilder und Clips aus der ersten Erfolgsphase der Band eingespielt. Fast hatte man das Ausmaß des Hypes um Tokio Hotel Anfang der 2000er schon vergessen. Hysterische Fans bedrängten die Teenager 24/7. Zuerst stoisch, dann panisch, versuchten Bill und Tom Karriere und Privatleben klarzukriegen und scheiterten. Das Haus in Hamburg – hastig angemietet – bot irgendwann keinen Schutz mehr. Im Gegenteil. Traumatische Erlebnisse mit Stalker:innen, ein Einbruch, enttäuschte weibliche Fans, weil Bill sich schließlich outete, verhinderten das Glücklichsein im Rampenlicht.

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Erst nach der hastigen Flucht Richtung L.A. wurde das ersehnte Leben möglich. All das denkt „Kaulitz & Kaulitz“ mit, lässt es auf einer Nebenspur mitlaufen, zeigt es in kurzen Sequenzen. Die Verletzten haben ihre Wunden selbst versorgt, müssen sich aber um Narbenpflege kümmern. Eine Berührung, ein Blick – Tom spendet seinem Bruder immer wieder Trost, denn er hatte es leichter, in einer Welt, in der das sogenannte „Normale“ regiert. Die Serie berichtet eben auch davon.

7. Musik

Natürlich wird die Band auch auf Tournee begleitet. Aufwendige Bühnen, Outfits der Extraklasse, treue Fans der ersten Stunde – all das täuscht nicht darüber hinweg, dass es meist lediglich um zwei öffentliche Figuren geht und nicht um das jeweils neue Album. Tapfer kämpft gerade Tom gegen diesen Umstand an, obwohl er realistisch bleibt. Er will zwar ernst genommen werden – als Musiker, Produzent und Songschreiber ist er ehrgeizig und fokussiert – findet sich aber mit den Gegebenheiten ab, lässt seinem Bruder, dem Bühnentier, den Vortritt. Das hat für den Zuschauenden etwas sehr Rührendes an sich, obwohl schon auch auffällt, daß die Zwillinge nie über ihren musikalisch sehr limitierten Tellerrand hinausschauen. Show ist der King im Vordergrund. Man wundert sich daher mitunter, worüber sich die Zwillinge so wundern, in Bezug auf ihre Außenwahrnehmung.

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Dennoch: Die Band zeigt sich arbeitsam und zuverlässig. Man ist pünktlich, isst gesund und liefert ab. Die Songs, die Texte, die Performance nehmen halt auffällig wenig Raum in der Serie ein. Weil es um sie ja auch gar nicht geht.

8. Zukunft

Es ist davon auszugehen, dass Bill und Tom Kaulitz die größten deutschen Stars unserer Zeit werden. Vielleicht sind sie es auch schon. Weil sie so undeutsch sind. So selbstironisch und locker. So schlau im Umgang mit den Medien und auch sonst. So passioniert. Die Serie ist nichts für Kapitalismuskritiker:innen. Sie ist nichts für 3sat-Fetischist:innen oder Neil-Young-Hörer:innen. Aber für den Rest, für den Rest von uns ist sie was!