Joy Division: Das war kein Theater
Die Geschichte von Joy Division gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Popgeschichte.
Selten hat ein Bandname so gelogen wie dieser: Trauer, Einsamkeit, Vertorenheit, Qual – all das mag man mit Joy Division assoziieren, „Freude“ sicher nicht. Aber der weniger böse als schmerzvolle Zynismus der Benennung ist trotzdem typisch für die Band und ihren Kopf Ian Curtis, der zeit seines (kurzen] Lebens Singular und umstritten war wie kaum ein Zeitgenosse.
Es begann, wie so vieles, mit den Sex Pistols: Die spielten am 4. Juni 1976 in einem kleinen Saal über der Free Trade Hall in Manchester, vor 70 Leuten, von denen etwa 65 später selbst als Musiker oder anderweitig bekannt wurden – von einem gewissen Steven Morrissey bis zu den beiden Schulfreunden Peter Hook und Bernard Sumner. Am nächsten Tag kaufte sich Hook einen Baß, stöpselte ihn in Opas alten Plattenspieler und „schrieb“ seinen ersten „Song“: „Gutz For Garters“. Bernard, der schon eine Gitarre besaß, war begeistert und die Band somit gegründet: Warsaw hieß sie anfangs, nach der polnischen Hauptstadt, vielleicht aber auch, weil das so schön zeitgemäß klang: „Kriegs-Säge“.
Als Sänger fand sich ein dürrer, bis zu den Fingernägeln mit Punk-Zorn angefüllter Jüngling namens lan Curtis, auf dessen tarngrüner Militärjacke der Schriftzug „Hate“ prangte. Die Schlagzeuger wechselten vorläufig; erst nach dem ersten Auftritt am 29. Mai 1977 als Support der Buzzcocks im Electric Circus blieb Stephen Morris fest dabei. Der Sound der Band war typisch für ihre Zeit: ein Orkan von Lärm, Wut, Verzweiflung und Do-it-yourself-Unbeholfenheit, der sich von den vielen anderen Punks der zweiten Generation durch Curtis‘ grabestiefe Stimme unterschied. „Eigentlich war er gar kein Sänger“, sagte Peter Hook Ende 90er rückblickend, „deshalb versuchte er, so abgründig und tief wie möglich zu singen, und er war unglaublich emotional.“
Vom Rest der neuen Szene hielten sich Warsaw so weit wie möglich fern – die Isolation generierte einen zunehmend originellen Stil, der nicht nur akustisch schokkierte: Das von Sumner gestaltete Cover der ersten EP An Ideal For Living, die im Juni 1978 in einer Auflage von 1.000 Stück erschien, zierte das Bild eines Hitlerjungen. Inzwischen hieß die Band außerdem Joy Division, nach der in Karol Cetinskys Buch „House Of Dolls“ beschriebenen „Freudenabteilung“ in Nazi-Konzentrationslagern, wo inhaftierte Frauen als Zwangsprostituierte gehalten wurden. Die grelle Provokation war nicht ganz unüblich: Viele Punk- und New-Wave-Bands stießen auf der Suche nach dem perfekten Ausdruck für ihre Verzweiflung über eine kranke, leere, kaputte Industriewelt auf Signaturen und Bilder aus deren schlimmster Epoche – aber sie ging, wie meist, nach hinten los: Kulturgourmets galten Joy Division nun als typischste Vertreter der faschistoiden Züge der neuen Musik.
Auf der Bühne gab sich die Band so kalt und schroff wie möglich: Ansagen gab es nicht, bunte Lichter auch nicht; lan Curtis stand mal wie gelähmt da, tobte dann wieder herum wie ein Veitstänzer und überschüttete das befremdete Publikum mit Texten, die Sinnlosigkeit, Sehnsucht und Entfremdung in niederschmetternde Sentenzen faßten. Seine Darstellung war eigentlich kein Theater: Curtis war Epileptiker, zudem schwer depressiv und der Welt wie sich selbst nur unter schweren Medikamenten zumutbar. „I’m ashamed of the person I am“, sang er 1980 in „Isolation“.
Bei jenem Pistols-Gig 1976 war auch Tony Wilson, der nun, von der Independent-Idee entflammt, die Plattenfirma Factory gründete, um Joy Division unter Vertrag zu nehmen. Im Mai 1979 erschien das Album UNKNOWN PLEASURES, das, wie Jon Savage später schrieb, „nicht nur eine Stadt definierte – Manchester -, sondern ein ganzes Zeitalter“. Es wurde eines der wichtigsten und bewegendsten Debüts aller Zeiten, aber seinem „geistigen Vater“ Ian Curtis konnte der (relative) Erfolg nicht mehr helfen: Zwischen zwei Beziehungen (zu seiner Frau Deborah und der belgischen Geliebten Annik Honore) zerrissen, nahm er an Ostern 1980, ein Jahr nach der Geburt seiner Tochter Natalie, eine Überdosis Phenobarbitol, wurde gerettet, zum Psychiater geschickt – und erhängte sich am 18. Mai in der Küche seines Hauses (zwei Tage vor der Abreise zur ersten US-Tour von Joy Division). Am 23. Mai wurde die Leiche des 23jährigen verbrannt. Zwei Wochen danach erschien Joy Divisions größter Hit „Love Will Tear Us Apart“, im Juli das vor Curtis‘ Tod fertiggestellte Album Closer. Beide Cover entstanden nach Entwürfen von Curtis: Zu sehen sind eine grabähnliche Inschrift und betende Steinfiguren auf dem Friedhof von Genua.
Der Tod des Sängers war ein finaler Schlag, der Joy Division für alle Zeiten aus der Musikgeschichte tilgte – scheinbar. Während Sumner, Hook und Morris nach einem Jahr Trauer und seelischer Rekonvaleszenz als New Order schließlich einen wirklichen Neuanfang wagten (mit der Single „Ceremony“. an deren Komposition Curtis noch mitgewirkt hatte), gärte das Erbe vor sich hin, um in den 90er Jahren unerwartet neue Blüten zu treiben: Bands wie Nine Inch Nails griffen Ian Curtis‘ ästhetische Ideen „unbeschreibliche Schönheit in absoluter Häßlichkeit“, wie ein Kritiker schrieb – auf, später verbreiteten sie sich wie ein Lauffeuer, und im Jahr 2005 ist die Zahl der neuen Gruppen, die irgendwie an Joy Division erinnern, unübersehbar.