Jarvis Cocker


Der Mann ist ein Geek. Der Mann ist ein Star. Und auf seinem neuen Album auch noch Rocker. Dennoch wird aus "mir nie ein Macho werden". Denn Jarvis Cocker ist nicht zuletzt: "Post-Feminist". So viele Facetten sind gerade genug für das große ME-Interview.

„Um das klarzustellen: Ich vögele nicht in der Gegend ‚rum!“ Hat er das gerade wirklich gesagt? Kurz umdrehen. Steht da etwa ein feixender Kollege vom klatschsüchtigen NME? Jarvis grinst. Das kann man trotz des Vollbarts sehen. Der 45-jähnge Britpopstar, für seine Stilsicherheit berühmt, trägt braunen Anzug, hellbraunes Hemd, eine farblich passende Krawatte. Kaum vorstellbar, dass er mit Pulp einst in Anzügen aus Gardinenstoff auftrat. Er fügt sich wie ein Puzzleteil in das gediegene Ambiente des Hamburger Hotels „The George“ ein – dem vermutlich britischsten Hotel außerhalb Britanniens. „Wollen wir nach draußen geben? Es ist so ein schöner Tag.“ Jarvis Cocker geleitet uns in den friedlichen Innenhof. Die Vögel tirilieren. Er ist ausnehmend höflich, fragt nicht nur danach, wo wir gern sitzen möchten, sondern schenkt auch gleich Wasser ein. “ Sorry wegen des Spruchs eben – ich benutze solche Worte normalerweise nicht.“

Ich dachte eigentlich, wir führen unser Gespräch in der Hotel-Bibliothek. Nun sitzen wir hier draußen. Wärst du dennoch so freundlich, dir vorzustellen, wir wären von Büchern eingerahmt? Aber gern. Das bekomme ich hin.

Danke, das ist wichtig für die Dramaturgie. Du warst ja schon früher ein Büchernarr. Als Schüler hast du Lesewettbewerbe gewonnen… Ah, du hast Nachforschungen über mich angestellt, sehr gut! Ja, also, in England gibt es diese Lesetests. Wenn du dabei eine bestimmte Punktzahl erreichst, gewinnst du einen Preis. Ich war nicht der Einzige, der das geschafft hat. Aber ich lese wirklich sehr gern. Ich mag auch Bibliotheken sehr. Gerade neulich wäre ich fast Mitglied in einer geworden. Aber ich habe es mir selbst verboten, weil ich immer vergesse, die Bücher zurückzugeben.

Musstest du schon horrende Strafgebühren zahlen?

Manchmal habe ich sogar das vergessen. Man kommt nicht umhin, zu sagen, ich habe schon Bücher gestohlen. Weil es mir zu peinlich war, sie nach so langer Zeit wieder zurückzubringen. Ich besitze zum Beispiel noch ein paar aus meiner Schulbibliothek.

Tatsächlich?

Ja. Warte mal… Nein, aus der Leihbücherei in Sheffield habe ich nie etwas mitgehen lassen. Oder?… Doch! Als ich nach London gezogen bin, habe ich wohl einige Alben aus der Plattenabteilung mitgenommen.

Jarvis Cocker stiehlt!

Ich fühle mich wirklich grauenhaft deswegen. Deshalb mein selbst auferlegtes Bibliothekenverbot. Aber neulich dachte ich, dass ich mit 45 Jahren vielleicht erwachsen genug sein könnte. Ich ging also in die Amerikanische Bibliothek in Paris. Ein großes Vergnügen! Allein, an den Bücherrücken entlangzugehen. Zu sehen, da hat sich jemand Gedanken über die Anordnung der Wissensgebiete gemacht hat. Das gibt dir viel bessere Möglichkeiten, etwas Jarvis Cocker Er schrieb mil Pulp Mitte der 90er Britpop-(»eschichte dank Hits wie „Common People“ und „Disco 2000“ (von DIEFE-RENTCLASS, 1991). Cocker hatte Pulp 1978 in Sheffield gegründet. Auf THIS ISHARDCORE (1998) und WELOVE 1.1 KE (2001) rechnete er mit dem Popstar-Zirkus ib. Der Ex-Fniuenheld ist seit 2002mitderfranzösischen Modedesignerin CamilleBidau.lt-Wuddington verheiratet. Milderen Sohn Otto (13) und dem gemeinsamen Sohn Albert (6) leben sie in Paris.

Interessantes zu entdecken, als nur online zu recherchieren. Außerdem muss man in Bibliotheken ruhig sein.

Als ich gestern in der Bibliothek war, um mich auf unser Gespräch vorzubereiten, quakte jemand in sein HandyInder Bibliothek?!

Ja, ich war entsetzt.

Das ist womöglich genau das, was … sorry, ich muss mal checken, ob mein Handy aus ist… sie auch in England planen. Weil immer weniger Leute kommen, wollen sie solche Regeln aufheben.

Ihr sicherer Tod.

Fraglos. Ich bevorzuge die althergebrachte Methode.

Stimmt es, dass du wegen deiner exzellenten Lesefähigkeiten als Schüler zu einem Auswahltest für die Universitäten von Oxford und Cambridge eingeladen wurdest?

Ja, aber dabei haben sie mich nach einem Buch gefragt, dass ich nicht kannte. Ich tat aber so. Den Test habe ich dann natürlich in den Sand gesetzt.

Es war ein Roman von Thomas Hardy. Über den habe ich meine Magisterarbeit geschrieben.

Oh, wirklich? Ich fand ihn damals total langweilig. Ich mochte Dickens gern. Vielleicht sollte ich Hardy noch eine Chance geben.

Er gilt als früher Feminist. Bei ihm waren Frauen immer die Stärkeren. Dass du Frauen schätzt, ist offensichtlich. Du hast schon sehr viele Lieder über sie geschrieben — auch die Hälfte der Songs auf FliRTHER COMPLICATIONS dreht sich um sie. Bist du ein Feminist?

Schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass aus mir nie ein Macho werden wird. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, die stark von Frauen bestimmt war (Jarvis‘ Vater verließ die Familie, als er sieben Jahre alt war. Erwuchs mit Mutter Christine und Schwester Saskia auf-Anm. d. Autorin).

Ich bin daran gewöhnt, dass Frauen Entscheidungen treffen, Dinge organisieren und die Kontrolle haben. Das ist für mich auf fundamentale Weise die natürliche Ordnung der Dinge. Und auch der Auslöser für einige Probleme, gerade in Beziehungen. Ich tendiere dazu, die passive Rolle zu übernehmen. Das ist nicht immer unbedingt die richtige.

Vielleicht bin ich ein Post-Feminist.

Was genau magst du an Frauen?

Da bewegen wir uns in einer Grauzone. Wenn du Frauen respektierst und versuchst, sie gleichberechtigt zu behandeln, aber gleichzeitig begehrst du sie, dann wird die Sache schwierig. Du machst sie auf eine bestimmte Art zu Objekten, weil du dich nicht nur auf sie als Mensch beziehst, sie erregen dich auch. Und erotische Anziehung darf ja nicht zu nett und freundlich sein.

… oder zu mütterlich.

Genau. Also manchmal begibst du dich da in schwierige Gefilde (lächelt vielsagend).

Um das Thema „Versuchung“ geht es auch in dem Song, den du mit Beth Ditto bei den NME-Awards 2007 gecovert hast: Heaven 17s „Temptation“. Woher kanntest du Beth?

Wir kannten uns gar nicht. Der NME hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte, ein Duett zu singen. Mir fiel aber irgendwie niemand ein, ich wollte fast schon absagen. Da machte ich ein Mittagsschläfchen, was ich gerne tue. Dabei lief im Radio dieses Lied, und ich dachte: „Ah, das könnte was sein!“ Ich kannte die Musik von The Gossip und Beth’s Gesang und rief sie an. Sie hatte Lust. Erst beim Soundcheck haben wir uns zum ersten Mal getroffen. Es lief dann alles sehr gut.

Sind dir eigentlich irgendwelche Platten-Produzentinnen bekannt?

Kate Bush produziert ihre Alben selbst. Und es gibt diese weiter auf Seite ?#

fürchterliche Frau, die bei den 4 Non Blondes war … Linda Perry! Sie produziert auch.

Stimmt. Pink zum Beispiel.

Das ist wirklich kein gutes Beispiel. Sie ist fürchterlich. Auch wenn sie eine nette Person sein mag. Ich kann niemandem vergeben, der dieses grauenhafte „What’s Going On“-Lied geschrieben hat (singt dieses grauenhafte „What’s Going On“-Liedan). Jesus Christ, it’s bad!

Steve Albini hat dein Album aufgenommen. Ihr habt beide den Ruf, zurückhaltend zu sein. Wie ist es gelaufen?

Ich glaube, er hatte nicht besonders viel Ahnung davon, was ich früher alles so gemacht habe, und umgekehrt war es ähnlich. Er geht das sehr geschäftsmäßig an. Er ist keiner von den Typen, die die Band zum Essen einladen und dann Sachen sagen wie „Ich möchte, dass ihr mich mehr als einen Freund seht“. Das war gut. Er sieht sich nicht als Plattenproduzent, sondern als Techniker, dessen Job es ist, den Sound einer Band einzufangen.

Er nennt sich nicht mal „Produzent“.

Er regt sich sogar fürchterlich auf, wenn ihn jemand so nennt. Er will nicht mal in den Credits erscheinen. Wenn Bands trotzdem darauf bestehen, dürfen sie „aufgenommen von Steve Albini“ schreiben. Er ist in vielerlei Hinsicht die Antithese zu den meisten Produzenten, denen es nur um eines geht: Ego, Ego, Ego. Ich fand diesen Ansatz sehr erfrischend. Und ich hatte auch das Gefühl, dass ich dabei vielleicht etwas lernen könnte.

Und, hast du?

Ja, weil ich so mehr Verantwortung übernehmen konnte. Ich meine, ich war schon immer sehr stark in die Produktion meiner Platten eingebunden. Wir haben außerdem viel gemeinsam: Wir sind fast gleich alt. Wir haben beide kurz nach Punk damit angefangen, Musik zu machen. Außerdem verbindet uns die Liebe zum Kartenspielen.

Zurück zum Album. Jarvis Cocker klingt darauf auf einmal wie ein Bluesrocker. Du schreist zudem viel mehr herum als auf JARVIS. Wie konnte das passieren? Ich weiß nicht. (Mit tiefer Stimme:) Ich glaube, ich habe das Tier in mir entdeckt.

Du sagst, dass die Songs, die du schreibst, ein Nebenprodukt deines Leben sind. So wie Haare, die wachsen.

Ja, dieser Aspekt ist mir sehr wichtig.

Was hat dich in den vergangenen beiden Jahren also beschäftigt, dass sich deine Songs jetzt nach Bluesrock anhören?

Es fing bei der Tour zum letzten Album an. Ich hatte mir dafür eine Band zusammengestellt, und wir beendeten die Auftritte oft mit Coverversionen von Rockklassikern. Die Band stand da drauf. Ross, der Drummer, und Tim, der Gitarrist, sind große Black-Sabbath-Fans. Sie sahen sich im Tourbus ständig „Pink Floyd Live At Pompeji“ und die Led-Zep-Doku „The Song Romains The Same“ an. Von ihnen habe ich gelernt, dass Rockmusik nicht schlecht sein muss. Früher, als ich Pulp gegründet habe, konnte ich damit nichts anfangen. Das war der Feind, den es zu bekämpfen galt. Besonders in einer Heavy-Metal-Stadt wie Sheffield. Damals hörte ich viel Easy Listening, und am Ende landete ich bei Scott Walker. Jetzt war es an der Zeit, diese Musik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Du hast das von langer Hand geplant?

Nein. Wie du siehst, trage ich ja weder Lederhosen noch Motorradstiefel oder ein Bandana. An meinem Körper wirst du kein einziges Tattoo finden (zieht die Ärmel hoch und zeigt seine Arme). Ich wollte einfach etwas in der Art machen, was sich gut, glaubwürdig und natürlich anfühlt.

Hat die Tatsache, dass du 2007 das Meltdown-Festival kuratiert hast, auch etwas damit zu tun? Immerhin hast du Bands wie Motörhead und Iggy & The Stooges auftreten lassen.

Leute wie Iggy und Motörhead machen schon ewig ihr Ding, ganz egal, was musikalisch um sie herum passiert. Es gab eine Zeit, da schien Rockmusik etwas richtig Gefährliches zu sein, verstehst du? Eine sehr vitale Form der Musik, die die Menschen sehr ernst genommen haben. Heute sind Hardrockbands ja fast nur noch ein Witz. Wenn du zu einem Motörhead-Konzert gehst, ist das immer noch eine ziemlich körperliche und schmerzhafte Angelegenheit.

Du kannst es nicht passiv konsumieren, du musst da richtig durch.

Ja! Oder Bands wie Sunn O))), die eine sehr laute, basslastige Musik machen. Sie spielen manchmal einen einzigen Akkord für 40 Minuten. Ich habe sie einmal in London gesehen. An einer Stelle war der Bass so tief gestimmt, dass alle Gläser aus der Bar gefallen sind.

Das ist eine eher ungewöhnliche Form, Musik zu hören.

Ja, Musik ist heute ja überall. Du kannst sie auf dem Handy hören oder einen Internet-Dienst abonnieren und bekommst 100 kostenlose Downloads im Monat. Man kann leicht vergessen, dass Musik einmal als subversiv angesehen wurde. Ich habe Leute wertschätzen gelernt, die diese Idee weiterhin verfolgen.

Du hast Filmwissenschaften studiert. Der österreichische Regisseur Michael Haneke sagt, Kunst sollte die Menschen immer auch etwas verstören. Dein Ansatz scheint ähnlich zu sein. Ja, wobei ich der Überzeugung bin, dass Musik eine Ausdrucksform von Unterhaltung ist, also darf sie auch unterhalten. Aber eben nicht nur. Sie kann dich auf einer intellektuellen Ebene ansprechen oder sie kann dafür sorgen, dass du herumspringen möchtest. Ich glaube, Menschen benutzen Kunst heute manchmal, um sich zu sedieren … Ist dir aufgefallen, dass die Fernseher immer größer werden? Sie dominieren die Wohnzimmer.

Lass uns über deine Wahlheimat Paris sprechen. Findest du dort die Anonymität, die dir in London gefehlt hat?

Ja, wobei ich auch noch oft nach London pendle. Und dort stürzen sich die Leute heute auch nicht mehr auf mich. Es ist eine Menge Wasser die Themse heruntergeflossen seit den glorreichen Jahren von Pulp. Außerdem trage ich jetzt Vollbart, es erkennt mich ohnehin niemand.

Wäre das hier ein öffentliches Restaurant, du wärst schon zigmal fotografiert worden.

Oh, das gibt es auch bei euch in Deutschland? Ich kenne das aus englischen Magazinen wie „Heat“, dass sie die Leute für Promi-News bezahlen: „Ich habe Jarvis Cocker am Mittwoch um 17.45 Uhr in der Liverpool Street Station gesehen. Er aß ein Baguette. Die Mayonnaise tropfte an seinem Kinn herunter.“ Sie sind ganz heiß auf Fotos in unvorteilhaften Posen.

Prominente stehen heute unter viel größerer Beobachtung.

Furchtbar. Alles hat sich gedreht. Früher wollten Leute mit einem Arbeiterklassehintergrund prominent werden, um ihrem Leben zu entfliehen. Ruhm und Prominenz waren so erstrebenswert, weil man sich damit von gesellschaftlichen Konventionen frei machen konnte. Heutzutage müssen Prominente sein wie alle anderen, sonst landen sie dauernd in den News. Das Leben von Amy Winehouse oder Pete Doherty muss die Hölle sein. Drogen und Alkohol sind heute aber auch sehr leicht zu bekommen. Ganz normale Menschen können das Leben eines Rockstars führen. Du kannst ausgehen und dich am Wochenende mit allen möglichen Drogen betäuben, wirst danach aber nicht mit peinlichen Fotos von dir in der Boulevardpresse konfrontiert.

Das erledigen die Leute ja selbst, indem sie die Partybilder ins Internet stellen.

Stimmt auch wieder.

Du hast Mitte der 90er-Jahre einschlägige Erfahrungen mit der Klatschpresse gemacht, dein neues, anonymeres Leben gefällt dir besser?

Ja, viel besser. Obwohl das schon eine seltsame Sache ist. Offensichtlich sehne ich mich weiter auf Seite 40

ja nach Aufmerksamkeit. Würde ich sonst auf Bühnen herumhampeln? Wenn das kein aufmerksamkeitsheischendes Verhalten ist, was dann?

Das muss nicht heißen, dass du jenseits der Bühnen auch im Mittelpunkt stehen willst.

Es ist nun mal mein Job. Trotzdem ist es wichtig für mich, dass ich einen normalen Alltag habe. Weil ich den für meine Texte brauche. Aber das ist auch irgendwo scheinheilig. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen normalen Beruf. Ich bin ein wandelnder Widerspruch.

Apropos Bühne: Du bist ja jemand, der sehr gern mit den Leuten im Publikum spricht.

Ja, mit denen in den ersten beiden Reihen — die anderen erkenne ich ja nicht. Mich überrascht und freut, dass da immer noch viele relativ junge Leute kommen. Ich fand es immer gut, wenn das Publikum gemischt ist. Überhaupt: Jede Form von Abwechslung macht Situationen interessanter. Und ich finde es auch wichtig, dass Frauen zu den Gigs kommen.

Das war zu Pulp-Zeiten auch schon so.

Ja, das ist aber wichtig. Ich mag es nicht, wenn es zu männerdominiert wird.

Was bei Motörhead hingegen der Fall sein dürfte.

Da hast du wohl Recht (lacht). Und bei anderen Bands musst du eine Sonnenbrille aufsetzen, weil der Widerschein der Männerglatzen dich so blendet. Ich möchte hier jedoch darauf hinweisen, dass glatzköpfige Männer bei meinen Konzerten sehr willkommen sind!

Albumkritik S. 88

www.myspace.com/jarvspace