„Reflektor“-Kolumne

Jan Müllers „Reflektor“-Kolumne, Folge 8: Wie sich Yanka zwischen Anhedonie und Wut bewegte


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die achte Folge, in der er von Yanka Dyagilevas unvergleichlicher Mischung aus Folk und Punk erzählt.

Wir versäumen viel, wenn wir nicht darauf schauen, was sich außerhalb von England, den USA und Deutschland musikalisch ereignet. Insbesondere die letzte Dekade der Sowjetunion bietet uns unermessliche Schätze. Es gab zum Beispiel die Band Kino aus Leningrad, deren charismatischer Sänger Wictor Zoi zum Superstar avancierte. 1990 kam er bei einem Autounfall ums Leben. Er wurde 27 Jahre alt. Nach seinem Tod nahmen sich in Russland Teenager scharenweise das Leben. Noch heute ist sein Grab eine Pilgerstätte.  Dankenswerterweise wurde der Beginn seiner Karriere unlängst von Kirill Serebrennikow unter dem Titel „Leto“ verfilmt.

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Die letzte Dekade der Sowjetunion bietet uns unermessliche Schätze

Unbedingt hörenswert ist außerdem die Musik des für den russischen Underground stilprägenden Singer/Songwriters Alexander Bashlachev. Auch er überlebte die Sowjetunion nicht. Im Alter von ebenfalls 27 Jahren stürzte er im Jahr 1988 aus einem Fenster. Aus dem sibirischen Omsk stammte der von Bashlachev beeinflusste Egor Letov. Seine 1984 gegründete Band Graždanskaja Oborona (Zivilverteidigung) überstand das Ende der Sowjetunion. Sie machten einfach immer weiter. Zu Sowjetzeiten wanderte Letov, von der Mutter eines Bandkollegen angeschwärzt, für seine Musik in die Psychiatrie. Eine damals gängige Praxis, Regimekritiker zu unterdrücken.

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Letov schuf eine sehr eigenständige und unvergleichliche sibirische Variante des Punk. Seine Musik wuchs aus der anfänglichen Gegen-alles-Haltung entspringend mit der Zeit zu einer tiefsinnig-kraftvollen Instanz heran. Nach politischen Verirrungen in der Post-Sowjet-Zeit mutierte sie schließlich in einen schamanisch-existenzialistischen Rock. Gegen alles war diese Kunst allerdings bis zum Schluss. Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 veröffentlichte Letov über 60 Alben. Dann machte seine Leber nicht mehr mit.

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Yankas Musik, im Kern Folk, im Ausdruck jedoch Punk, ist tatsächlich unvergleichlich

Über allem jedoch steht Yanka Dyagileva. Geboren wurde sie 1966 in Novosibirsk. Auch sie wurde von Bashlachev inspiriert und lernte dann wenig später Letov kennen, der ihr Partner wurde. Yanka stieg in Letovs Band ein und er produzierte ihre Alben kongenial. Ihre Beziehung soll, so wird berichtet, schwierig gewesen sein. Als ich die Aufnahmen ihrer Musik in den 90er-Jahren das erste Mal hörte, war ich sofort verzaubert. Ihr tieftrauriger und zugleich trotziger Gesang fuhr mir direkt unter die Haut. Ihre Songs sind entweder spärlich von der eigenen Akustik-Gitarre begleitet oder in Letovs rohe Lo-Fi-Punk-Sounds gebettet.

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Yankas Musik, im Kern Folk, im Ausdruck jedoch Punk, ist tatsächlich unvergleichlich. Manchmal ähneln ihre Melodien denen von Kinderliedern. Ihre Poesie ist von Schimpfwörtern durchsetzt, deren Benutzung für Frauen in der damaligen Zeit in Russland ansonsten undenkbar war. Ich spreche kein Russisch. Und vermutlich sind die Texte all dieser russischen Punk-Poeten schwer übersetzbar. Aber Yankas Stimme und ihre Kompositionen brechen die Sprachbarriere mühelos nieder. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle gerne einige Zeilen zitieren. In dem Song „Domoi!“ (Nach Hause!) singt Yanka: „Von diesen steinernen Systemen in geschwollenen Köpfen / theoretischen Propheten, gedruckten Göttern / von funkelnder, widerhallender und brennender Nichtigkeit / Nach Hause!“

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Ihre Schwermut, ihre Wut und ihre Hoffnungslosigkeit haben uns einige der schönsten Songs aller Zeiten beschert

Trotz ihrer Anhedonie (so auch ein Titel eines ihrer Alben) berichten Zeitgenoss*innen, dass Yanka privat mitunter sehr lustig und fröhlich sein konnte. Yankas Schwermut, ihre Wut und ihre Hoffnungslosigkeit haben uns einige der schönsten Songs aller Zeiten beschert. In ihrem kurzen Leben schrieb Yanka leider nur in etwa 30 Lieder, die sie in unterschiedlichen Fassungen aufnahm. Die letzten Zeilen in „Pridyot Voda“ (zu Deutsch „Wasser wird kommen“), einem neun Minuten langen, ergreifenden Lied, dem letzten, das Yanka geschrieben und aufgenommen hat, lauten: „Das Wasser kommt / Ich werde schlafen / Wenn der Frühling kommt.“

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Als offizielles Todesdatum gilt der 9. Mai 1991. An diesem Abend verließ Yanka die Datscha ihrer Familie außerhalb von Nowosibirsk und kehrte nicht zurück. Ihre Leiche wurde am 17. Mai von einem Fischer im Fluss Inya gefunden. Die Umstände von Yankas Tod sind unbekannt. Sie wurde 24 Jahre alt. Meine Reflektor-Folge über sowjetischen Underground ist ab sofort online. Ich sprach mit Alexander Pehlemann, dessen Buch „ Warschauer Punk Pakt“ ich euch ans Herz legen möchte.

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Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 10/2021.