„Ich hatte den Schlüssel vom Mädchenbau“
Jedes dieser Bilder erzählt eine Geschichte. Nur welche? Wir haben nachgefragt. Heute: Patrice
Der französische Fotograf, Aktivist und Künstler JR gestaltete das Cover von Patrice‘ neuem Album one. Er ist bekannt für seine eindrucksvollen Portraits, die er in überdimensionalen Street-Art-Ausstellungen bevorzugt an den Orten ausstellt, an denen die Fotos entstehen. Dieses Bild zeigt einen Teil von JRs Projekt „Women Are Heroes“, aufgenommen in den Slums von Kibera, Kenia.
Wir haben uns in Paris kennen gelernt, vor sechs, sieben Jahren. Seit dem haben wir Kontakt gehalten und uns gegenseitig wachsen sehen. Er ist ein Visionär, er macht sein Ding, ist positiv, er hat eine klare Message. Er arbeitet mit Energie, so wie ich das auch tue. Er ist einfach connected, würde ich sagen – und ein sehr netter Mensch. In Kibera habe ich mitgeholfen, den Zug zu bekleben, den man im Bild sieht, und auch die Dächer. Sie haben alles mit Zeitrafferkamera aufgenommen, davon wusste ich aber nichts. Und in diesem Film gab es eine Szene, in der ich in das Wellblechdach von einem Haus einbreche. Man sieht, wie mein ganzer Fuß drin steckt, ich ziehe den Fuß wieder raus, schau‘ mich um, ob mich jemand gesehen hat, und ziehe das Dach schnell wieder hoch … alles aufgenommen mit der Kamera. Wir haben uns totgelacht darüber. Ich habe auch die Musik gemacht zu der Dokumentation über „Women Are Heroes“, dafür haben sie mir Sounds gegeben, die sie dort aufgenommen haben, zum Beispiel von dem Zug, der über die Schienen fährt, und die habe ich mit in die Musik verwoben.
Jamaika – dorthin fährt Patrice, um auszuspannen.
Wir wohnen bei einem Freund, er hat eine Farm, wir essen, was im Garten wächst, und werden morgens vom Hahn geweckt. Es ist unfassbar idyllisch dort. Jamaika ist allerdings auch ein extremes Land, es ist sehr gewalttätig. Es gibt dort keine Grenzen, alle sind immer in deinem business. Wenn du eine große Nase hast, nennen sie dich „Big Nose“. Gerade das, was du versuchst zu verbergen, wird sofort ausgebreitet. Das ist aber auch cool, denn dadurch wird man gezwungen, aus sich heraus zu gehen.
Patrices Vater Gaston Bart-Williams, ein oppositioneller Journalist, Regisseur, Schriftsteller und Künstler, kam bei einem Bootsunfall in seiner Heimat Sierra Leone ums Leben, als Patrice elf war.
Mein Vater hatte unter anderem in London studiert und war dann in Berlin auf der Filmhochschule, in einem Jahrgang mit Werner Herzog. Ich kann heute gar nicht mehr alles genau nachvollziehen, zum Beispiel warum er sich für Deutschland entschieden hatte. Er hatte mit ein paar Freunden auch einen Club in Köln, wo sich lustigerweise die Eltern meiner Freundin Ayo kennengelernt haben.
Im Sommer 2008 spielte Patrice im „Vorprogramm“ von Barack Obama, als dieser als US-Präsidentschaftskandidat seine Rede an der Berliner Siegessäule hielt.
Das war natürlich eine Ehre, den späteren „Weltpräsidenten“ zu treffen. Auf der anderen Seite ist das eben ein Politiker und ich bin Musiker – das sind verschiedene Welten. Politik ist zwar auch eine Kunstform, sie baut jedoch nicht auf Ehrlichkeit auf. Wenigstens ist Obama charismatisch, er inspiriert Menschen, ist gebildet und nicht so dumm wie sein Vorgänger. Außerdem hatte ich zuvor noch nie jemanden getroffen, der so bewusst mit Aufmerksamkeit umgeht. Obama weiß genau, aus welchen Winkeln die Kameras auf ihn zeigen. Er weiß genau, wie viel Zeit er mit jemandem verbringen sollte, der so aussieht wie ich. Und er weiß, wie er mit mir reden muss. Und als er zu mir sagte „Hey, was geht ab!“, klang das auch nicht aufgesetzt, denn er trägt das alles in sich.
Ein Patois-Wörterbuch, das Patrice benutzte, um Jamaika-Kreolisch zu erlernen.
Für mich war ja vor allem Bob Marley eine krass ikonische Figur. Darüber kam dann der Rest. Meine musikalische Sozialisierung war insgesamt sehr jamaikanisch geprägt. Meine Freunde und ich, darunter auch Gentleman, waren viel in diesem Club in Köln – „Petit Prince“. Und wenn man Dancehall und Ragga feiert, geht das nur auf Patois. Außerdem ist die Muttersprache meines Vaters, Krio, dem Patois sehr ähnlich – sie wurde geprägt von den Maroons, Jamaikanern, die nach der Sklavenbefreiung nach Sierra Leone kamen. Bei der Musik, die ich heute mache, ist allerdings höchstens noch ein Hauch Patois zu hören. Das ist seit der zweiten Platte so, seither singe ich englisch.
Patrice backstage mit seinem Sohn Nile.
Nile hat mir und meiner Freundin gegenüber einen riesigen Vorsprung. Er wächst im Studio und hinter Bühnen auf, ein echtes Rock’n’Roll-Baby. Inzwischen ist er viereinhalb. Und er kann Schlagzeug spielen, Mann, es ist einfach unglaublich. Ich habe Aufnahmen, da trommelt er und ich singe: „Kingfish“, eines der neuen Stücke. Er spielt das komplett mit allen Akzenten, und er kann die Stücke auch schon selbst perfekt singen. Was das Technische angeht, können solche Musiker-Kinder sogar schnell auf einem Prince-Level landen. Sie tun sich superleicht mit allen Instrumenten. Das Problem ist: Wenn Musiker so gut sind, fehlt ihnen beim Songschreiben oft der Kampf mit der Materie. Sie müssen nichts kompensieren wie z.B. Bob Dylan, der eben nicht besonders singen kann und das über unglaublich tolle Texte ausgleicht. Feststeht jedenfalls, dass Nile der geborene Frontmann ist. Später wird er mich einfach vom Mikro wegschieben und sagen: „Jetzt bin ich dran!“
Die Schule Schloss Salem ist das Internat in der Nähe des Bodensees, das Patrice besuchte. Der langjährige, konservative Leiter von Schloss Salem, Bernhard Bueb, veröffentlichte 2006 das vieldiskutierte Buch „Lob der Disziplin“.
Auf dem Bild ist das Gebäude von Salem zu sehen, in dem ich in der Mittelstufe war. Daneben erkennt man den Mädchenbau. Um als Junge hinein zu gelangen, musste man einsteigen. Es sei denn, man hatte den Zentralschlüssel … Und, nun, es gab da Leute, die hatten sich diesen Schlüssel besorgt. Wir waren wohl die schlimmste Generation, die je an dieser Schule war, wir haben es wirklich übertrieben. Was später Bernhard Bueb in seinem Buch geschrieben hat, war jedenfalls ziemlich weltfremd, es hatte nichts mit der Realität an seiner Schule zu tun. Ich war ja als Stipendiat dort und brachte eine gewisse Straßenschläue mit. Da gab es viele Superreiche, Aristokraten, meine ersten Freundinnen waren allesamt Komtessen. Der Style da ist: Ralph-Lauren-Hemdchen, gegelte Haare, Levi’s-Jeans, Timberlands, die Mädchen mit Perlenohrringen – die laufen alle so rum. Dass ich dort hingekommen bin, war eine erzieherische Maßnahme meiner Eltern, sie wollten, dass ich zu Hause rauskomme, ich war halt dort nur mit den ganzen „Assis“ abgehangen …