Genesis-live: Maskierter Rock


Genesis ist so ungewöhnlich wie die Fotos aul diesen Seiten. Zu den irresten Verkleidungen schauspielert sich der 23jährige Sänger und Band-Chef Peter Gabriel durch die surrealistischen Geschichten, die er in seinen Songs vorträgt. Musikalisch begleitet wird er von Tony Banks (Klavier, Mellotron, Orgel, Gitarre), Mike Rutherford (Bass, Gitarre), Phil Colllns (Schlagzeug) und Steve Hackelt (Leadgitarre). Vergleiche mit Bowle oder Alice Cooper drängen sich auf, aber im Gegensatz zu den beiden bringt Genesis keine swingenden Rock’n’Roll Sachen, sondern komplizierten Heavy-Rock, der am ehesten noch dem Sound von ‚Yes‘ gleicht. Obwohl Genesis vorwiegend in Theatern auftritt, gibt es zwischen ihrer Show und einem seichten Musical wie etwa ‚Jesus Christ Superstar‘ mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Genesis hat Neuland betreten. Ist es vielleicht die modernste Gruppe der Gegenwart? ME erlebte ihre Show neulich In London:

FLEDERMÄUSE IN DER DRURY LANE

Das Konzert hat schon begonnen, aber wir sitzen immer noch im Auto und können keinen Parkplatz finden. In dieser Gegend von London ist normalerweise nichts los, aber heute abend sind die winzigsten Gassen vollgepfropft mit Genesis-Fans-Autos. Auf einem alten Fischmarkt finden wir dann doch noch ’ne Lücke und machen uns auf die Socken zum Drury Lane Theatre. Waouh! Der Bau überrascht. Es ist ein herrliches altes Theater mit riesig vielen Marmortreppen, purpurnen Samtteppichen, alten Skulpturen, kleinen Nischen und goldenen Verzierungen.

Ich hatte wohl eine Vorstellung von dem, was mich erwarten würde, aber die kühnsten Erwartungen gingen unter, als ich jetzt in die Atmosphäre von Genesis tauchte. Ultraviolettes Licht, Peter Gabriel in einem langen Gewand mit Fledermauskragen – Genesis live. 5000 Fans sitzen gebannt von Genesis – Vibrations. Niemand swingt, keiner flippt aus. Sprechen ist fast eine Todsünde. Ich habe das Gefühl, dass ich im Kino bin, denn noch läuft die Show wie ein Film an mir vorbei. Die beiden überdimensionalen Gitarrenkörper, die die Kulisse bilden, tragen einen Teil dazu bei. Zu dem Fledermauskostüm von Peter werden nämlich Dias auf diese Gitarren projeziert, auf denen sich echte Fledermäuse in schaurige Masken umwandeln; Horrorbilder, bei denen ich abfliege. Mit dem nächsten Song kommt ’ne weitere Überraschung. Der ganze Saal ist plötzlich in ein Kosmos verwandelt, eine Million kleiner Sterne ziehen Kreise. Der Effekt wird dadurch erreicht, dass eine Spiegelkugel mit vielen winzigen Flächen angestrahlt wird und routiert. Peter verschwindet aus dem Spotlight und lässt die anderen Musiker alleine spielen. Allerdings nur für kurz. Der Meister hat das Spiel in der Hand, lässt die Spannung wachsen, kommt zurück und kündigt schlicht ‚This is Musical Box‘ an.

EIN TOLLER SCHERZ

Sanft setzt die Musik ein und die Stimme des alten, weisen Mannes erzeugt eine durchsichtige, sublime Atmosphäre. Nicht lange, crash, ein stampfender Rhythmus kommt näher, schwillt zum Orkan und verschwindet wie eine sanfte Welle. Ein weiterer Höhepunkt kündigt den Schluss des Songs an und wie schon die alten Meister der Klassik ihren Symphonien ein Ende gaben so gebraucht auch Genesis dieselben alten Akkorde. Tosender Beifall. Die Spannung die während des ganzen Stücks gehalten wurde, löst sich mit einem Schlag und bringt die Wände zum Zittern. Peter ist schon wieder voll beschäftigt; er hat die Maske des Alten abgenommen und erzählt ’ne neue Story… hm? Die Akustik in diesem Haus ist zwar astrein, aber seine Stimme kommt trotzdem nur sehr dünn hier in der letzten Loge an. Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das eine Rasierklinge nimmt, sie zwischen die Beine halt, nach oben bis zum Kopf und den Rücken herunter zieht – und auseinanderfällt. Die Story kommt gut an, etwa, als hätte er einen wahnsinnigen Witz erzählt.

EKSTASE

In dem folgenden Song ‚I Know What I Like‘ spielt er einen Gärtner, der den Rasen mäht. Mit zögernden, weit ausholenden Schritten misst er den Rasen ab, um dann, in gebückter Haltung das Gras zu schneiden. Der Song ist astrein und Peters Talent als Pantomime kommt sehr klar heraus, aber mir bleibt der Zusammenhang von Text, Musik und Peters Schau unverständlich. Ich sollte allerdings nicht zu lange darüber nachdenken, sonst läuft die Show ohne mich weiter und ich höre… was höre ich? Marschmusik aus dem ersten Weltkrieg ohne Zweifel, Piccoloflöten, Trommeln und ein Flammenmeer auf den Mammutgitarren leiten die Schlacht vom Epping Forest ein. Als das ‚Bataillon‘ vorbeigezogen ist, setzt Peter ein und singt surrealistischmärchenhaft über den Kampf. Er steigert sich langsam in die Rolle, wird in seinen Bewegungen immer ekstatischer, schlägt mit einem“ Stock um sich, peitscht in totalem Hass den Boden und geht selbst langsam zugrunde. Aber der Höhepunkt ist immer noch nicht erreicht.

SEINE AUGEN LEUCHTEN

Erst jetzt, in dem letzten Song Supper’s Ready‘, der fast . eine Stunde dauert, holt er die stärksten Sachen auf die Bühne: er bindet sich die Blume um und erscheint mit einem merkwürdigen Kasten auf dem Kopf. Dann wird es plötzlich für Sekunden dunkel. Er tänzelt auf die Bühne und schwingt wie ein Hexenmeister eine leuchtende Neonröhre durch die Luft, bleibt stehen, schaltet auch diese letzte Lichtquelle aus und was passiert? Seine Augen leuchten! Es ist Wahnsinn. In dem total dunklen Raum strahlen gespenstisch zwei hellblau fluoreszierende Augen. Seine Stimme klingt wie aus ganz weiter Ferne und es folgt ein Musikpart, der die verklärten Fans wieder ins Gleichgewicht bringt. Aber dann explodiert vollkommen unerwartet eine Magnesium-Bombe und der Saal ist sekundenlang schmerzhaft hell. Nach diesem Schock hängt Peter unter der Decke. Ja, er schwebt an unsichtbaren Strängen wie eine Marionette in der Luft und singt. Als er sich ganz langsam wieder dem Boden nähert, senkt sich auch der Vorhang. Das Publikum muss erst aus diesem Genesis-Traum erwachen, bevor der Applaus einsetzen kann. Die Fans, die zum Teil in Genesis-Kostümen gekommen sind, verlangen noch 30 Minuten eine Zugabe, aber es ist vorbei. Genesis gibt keine Zugabe.

DISCOGRAPHIE

Nursery Crime (1971) Foxtrott (1972) Genesis live (1973) Selling England by the Pound (1973)