Willkommen in der „Digital Doom“-Ära
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 15 von „Gedanken zum Gegenwärtig*innen“, in der Julia Friese die Übergänge von Indie zu Techno zur Woke-Culture skizziert.
Drei Beobachtungen:
1. doom
Ein weiß gestrichenes Wohnzimmer. Ein Schreibtisch, an dem eine weiße Frau steht, Blick auf ihr Notebook geheftet. Über dem Bild steht: „I’m tired of living through historic events“. Es ist das Meme, das die vergangenen Jahre vieler privilegierter Menschen zusammenfasst. Für sie waren die „historic events“ bis dato nicht viel mehr als konstant schlechte Nachrichten, sowie der Rückzug ins Homeoffice. Und dennoch sind sie erschlagen vom Doom-Scrolling, also dem Nicht-aufhören-Können sich durch schlechte Nachrichten anderer zu scrollen. Während die Ukrainer*innen entweder im Krieg oder auf der Flucht sind, fragte man sich in weißen Wohnzimmern: Droht uns jetzt ein Dritter Weltkrieg? Ist unsere Zukunft jetzt auch gecancelt?
2017 erschien Tupoka Ogettes „Exit Racism“. Ein Sachbuch, speziell für weiße Deutsche, das ihnen erklärt, dass die Vorteile, die ihr Leben bietet, auf Kosten der People Of Colour gehen. Ogette nennt das ahnungslose „Alles paletti“-Dasein: „Happyland“. Mit dem Krieg in Europa erreichte die Bewohner*innen weißer Wohnzimmer eine Push-Nachricht, die sie kurz die Umrisse ihres eigenen Anspruchsdenkens erkennen lässt. Ich dachte, ich habe einen Anspruch auf Frieden und Unversehrtheit. Wie blauäugig – wie happyland – kann man sein?
2. vibe shift
A Vibe Shift is coming – also eine Zeitgeist-Trendwende steht bevor – schrieb Allison P. Davies für „The Cut“. Davies sprach mit dem Trendforscher Sean Monahan, der die jüngste Popkultur in folgende Epochen einteilt: Die Indie- & Hipster-Ära 2003 bis 2009: The-Bands und Cheap-Monday-Jeans // Die Techno-Revival-Ära 2010 bis 2016: Skrillex und Normcore-Sneaker // Die Woke-Culture-Jahre 2016 bis 2020: Billie, Drake und Greta. Black Lives Matter & MeToo.
Nun stünden wir direkt vor einer neuen Ära. Zu neu, um sie schon greifen zu können. Ein paar Tage später sprach dann auch Olaf Scholz von einer Zeitenwende, und Annalena Baerbock davon, dass sie „in einer anderen Welt aufgewacht“ sei, während sich die Boomer in den Timelines an der Idee die Wehrpflicht wieder einzuführen, erregten. Unschön.
Die Übergänge von Indie zu Techno zu Woke-Culture allerdings lassen sich sehr schön an dem Millennial-Popstar Katy Perry nachvollziehen: 2005 war sie als Gitarre spielende Indie-Sängerin gestartet („Simple“). Ruhm erlangte sie als cartooniger Gute-Laune-PinUp, der seine Singles von Skrillex und Calvin Harris (2009-2011) remixen ließ, um dann durch #MeToo zum Feminismus zu finden, was für ihre WITNESS-Ära kurzzeitig kurze Haare und die Abwesenheit eines Dekolletés bedeutete.
„Chained To The Rhythm“ (2017) markierte Perrys Übergang zur Woke-Ästhetik. Im dazugehörigen Video inszenierte sie das weiße Amerika als Freizeitpark „Oblivia“ – also Ort des angenehmen Nichtswissens. Und was macht Katy Perry jetzt?! Ihre aktuelle Single heißt „When I’m Gone“ und spielt in einem unterirdischen Serverraum. Perry sieht darin wieder aus wie zu Zeiten ihrer größten Erfolge. In ihrem Gesicht blitzt etwas Leuchtendes, Digitales. Was kann das bedeuten?
3. simple minds & digital doom
Der Meta-Konzern, zu dem Facebook und Instagram gehören, liefert mit seinem Metaverse-Werbespot „Old Friends, New Fun“ eine Antwort. Er zeigt, wie die wohlstandsgewöhnten Boomer, Gen-Xer und Millennials abermals der harschen Realität entkommen könnten, wie sie zurück in ihren Freizeitpark kommen: Der Spot beginnt mit einer Stofftierband, die „Don’t You (Forget About Me)“ von den Simple Minds spielt, bis man ihnen plötzlich den Stecker zieht.
Ihre Zeit ist vorbei. Ihr Club schließt. Die Stofftiere landen auf dem Müll. Der Hunde-Sänger wird als Maskottchen in einem Space-Center recycelt. Ein Besucher – zufällig ein PoC – erbarmt sich seiner, setzt ihm eine VR-Brille auf. Und schwupps – da ist er wieder, der alte Club. Im Metaverse findet der Hund seine Szene, seine Band und alte Unbeschwertheit wieder. Niemand im Metaverse hat allerdings einen Unterleib. Sex, Körper, Anfassen sind in der digitalen Variante des Wohlstands leider nicht erhältlich. Aber immerhin laufen wieder die Simple Minds.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2022.