Kolumne

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 14: … ICH MÖCHTE, DASS ES EUCH SCHLECHT GEHT


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 14, in der Julia Friese erklärt, warum Depression ernsthaft Pop ist.

Drei Beobachtungen:

1. full disclosure

Full disclosure: Diese Kolumne wurde von einer Person mit positivem Corona-Schnelltest geschrieben. „Full disclosure“ schreiben Menschen einem dieser Tage, bevor man sie trifft: Full disclosure, ich habe letzte Woche eine Freundin getroffen, die diese Woche PCR-positiv ist – trotzdem spazieren gehen? Full disclosure ist ein amerikanischer Rechtsbegriff, der das vollständige Offenlegen aller Begebenheiten – und Sicherheitslücken – meint.

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Nun ist er durch die Sicherheitslücke Corona in unsere Sprache gerutscht. Eine full disclosure liefert auch Stromae, als er in einer französischen Nachrichtensendung gefragt wird, ob seine Musik ihm geholfen hat, seine Einsamkeit zu überwinden, und Stromae – die vierte Wand der Sendung brechend – direkt in die Kamera blickt und singt, dass er tatsächlich mehrfach darüber nachgedacht habe, sich umzubringen. „L’enfer“ heißt der Song, der nicht nur das Thema mentale Gesundheit erneut ins Gespräch bringt, sondern auch mit der Erwartungshaltung an eine Nachrichtensendung bricht. Denn seine „full disclosure“ ist Werbung. Und Kunst. Darf eine Nachrichtensendung aber Kunst und Werbung sein? Und sind Kunst und Werbung noch zu trennen?

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 13: … DEEP DIVE IM ARCHIVE

2. real balenci and fake friendsi

Geht man diesen Fragen nach, bringen sie einen zur Frage der Gegenwart: Real oder fake? Kunst wird eher als real angesehen denn Werbung. Kunst gilt als zweckloser Ausdruck tief empfundener Wahrheiten, auch wenn diese, so wie sie in der Kunst beschrieben werden, nie passiert sind. Auto-Fiktion ist das Genre der Gegenwart. Eine Mischform – ja, eine Spannung zwischen Real und Fake, die sich nie endgültig auflösen lässt, und so die Neugier der Rezipient*innen hält.

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Der Erfolg des Kardashian-Imperiums ist der Real/Fake-Frage zu verdanken. Ist all das, was sie erleben – und posten – genial inszeniert, oder doch banal real? Warum tragen sowohl West als auch Kardashian nach ihrer Trennung von Kopf bis Fuß Balenciaga? Statten Designer*innen heute Scheidungen aus? Und warum kleidet KanYe West seine neue – real oder fake? – (inzwischen Ex-)Freundin Julia Fox ebenfalls in Balenciaga und organisiert dann ein Foto-Shooting ihres zweiten (!) Dates? Warum erscheinen diese Fotos im „Interview“-Magazin, das einst von Andy Warhol begründet wurde? Jenem Warhol, über den man sagt, er habe sich selbst als Kunstfigur erschaffen, um in seinem Leben – also seinem Werk – Kunst in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit zu reflektieren.

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Ist das eigentlich real? Oder nur eine Überinterpretation des eigentlich unterkomplexen Warhols? Sind Kim Kardashian und KanYe West jemals wirklich zusammen gewesen? Oder nur als Kunst und Werbung schillernd miteinander verschmolzen – bis dass der Tod sie scheidet? Kim Kardashian ist derweil das „neue Gesicht“ von Balenciaga. KanYe West entwirft mit dem Chef-Designer von Balenciaga gemeinsam eine Kollektion für GAP.

3. depression ist ernsthaft pop

Ronja von Rönnes Bestseller „Ende in Sicht“ wird als Roman über Depression vermarktet, allerdings haben die Protagonistinnen – die sich eigentlich das Leben nehmen wollten – in ihm eine ziemlich gute Zeit. In der „Zeit“ wiederum schreibt von Rönne, dass man Depression nicht romantisieren solle, denn durch eine Depression entstünde keine Kunst, sie verhindere sie eher.

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Lana Del Reys BORN TO DIE erschien vor genau zehn Jahren. Anna Gaca schreibt auf „Pitchfork“, dass sie die 2012er 5,5-Wertung des Albums gerne nachträglich erhöhen würde, da es ein wegweisendes Album war: Pop-Balladen mit HipHop-Beats und Lyrics depressiver Gleichgültigkeit seien schließlich Gegenwart. Im Pop ist die Depression also sexy, wie „L’enfer“ und BORN TO DIE, oder deutsches Komödienmaterial wie „Ende in Sicht“.

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Kunst, die gefallen will, kann die Depression, also das Empfinden von hartem Nichts, nicht produzieren – ja, sie will es vielleicht auch nicht – also muss sie sie notwendigerweise romantisieren – wie das Foto in der Online-Bestellmaske den tatsächlich nach Hause gelieferten Burger romantisiert. Eine Enttäuschung für den Preis von ungefähr „Sieben Euro Vier“. Der gleichnamige Song von Christin Nichols liefert hingegen den besten pop-depressiven Refrain des Jahres: „Ich möchte, dass es Euch schlecht geht.“ Mehr full disclosure geht nicht.

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Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 04/2022.