French Pop: 20 französische Alben, die wir unbedingt empfehlen
Françoise Hardy trifft Fishbach, Lio trifft Les Rita Mitsouko: 20 Empfehlungen französischer (und französischsprachiger) Alben.
Air: Moon Safari, 1998
Drei Jahre lang tüftelten Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel aus Versailles an ihrem Debütalbum, das als Lohn für diese Mühen sofort zum Klassiker avancierte. Während Daft Punk zeitgleich den Dancefloor robotisieren, eröffnen Air die Lounge- und Chill-out-Zone für all jene, die genug von Techno haben. Ursprünglich an klassischen Instrumenten wie Klavier und Gitarre geschult, kreierten Dunckel und Godin den unverwechselbaren, so nostalgischen wie futuristischen Sound von MOON SAFARI auf Analog-Geräten wie Moog und Korg MS-20. Atmosphäre ist alles: Sanft und doch suggestiv schweben die Tracks auf weichen Synthiewolken, akzentuiert von geheimnisvollen Samples, Akustikgitarren, gedämpften Bläsern und der Stimme von Gastsängerin Beth Hirsch, die auf „All I Need“ und „You Make It Easy“ zu hören ist. Die großen Hits des Albums – „Sexy Boy“ und „Kelly Watch The Stars“ – sind erstaunlich gut gealtert: Klassiker halt.
Brigitte Fontaine, Areski Avec Art Ensemble of Chicago: Comme À La Radio, 1969
Brigitte Fontaine ließ die Yé-Yé-Girls Ende der Sechziger wie biedere Chanson-Püppchen aussehen. In ihren Songs, die sie als Beat-Diva mit kurzen Haaren und teilweise im Spoken-Word-Stil vortrug, entstand eine oft verstörende Theatralik, hier unter inspirierter Mitwirkung des Multiinstrumentalisten Areski und der in Paris arbeitenden Avantgardisten vom Art Ensemble Of Chicago. Auf COMME À LA RADIO berichtete die Sängerin von Polizeigewalt und Entfremdung, ihre literarische Horrorrevue jonglierte auf einer Melange aus Dark Folk, Free Jazz und arabischer Musik. Eine hochauflösende wie elektrisierende Fusion, in der Flöten, Bläser und Percussion prominente Rollen besetzten. Sucht bis heute Vergleiche.
Camille: Le Fil, 2005
Dass LE FIL so erfolgreich werden sollte, war nicht unbedingt abzusehen. Denn das zweite Soloalbum der einstigen Nouvelle-Vague-Sängerin Camille Dalmais (sie sang z.B. „Too Drunk To Fuck“) ist purer Experimental-Pop: Mit Björks MEDÚLLA vergleichbare, teilweise A-Cappella-Vokalakrobatik, begleitet nur von minimalistischen Instrumentalarrangements. Der Clou bzw. titelgebender „Faden“ ist ein durchgehender, leiser Drone, den Camille als „ihre Note“ beschrieb und der am Ende ganze 39 Minuten allein erklingt – kein typisches Chartsfutter also. Doch die Leute liebten die lautmalerische Poesie von LE FIL, mit dem sich Camille für noch größere Erfolgsalben wie MUSIC HOLE warmlief/-sang. Der Track „Senza“ wurde gar für Autowerbung verwendet.
Étienne De Crécy: Super Discount, 1996
Zu Étienne de Crécys Überraschung verkaufte sich sein Album 1996 sogar in Supermärkten. Ein Blick aufs Cover verrät wohl auch, warum. Der DJ und Produzent hatte für diesen SUPER DISCOUNT nicht nur Tracks von sich und seinen Aliassen im Sortiment, er nahm Arbeiten mit Air und Alex Gopher gleich dazu. Tolles Angebot und Wegmarke: Die Compilation trug French House weltweit in die Clubs, eine elegante Disco-Soul-Variante der Club-Musik, die vom Filter-Glück erzählte, ein hypnotisches Basswerk besaß und Strobo-Träumereien auf Marihuana-Loops vorstellte. „Prix Choc“ wurde zum Signatur-Track für EDC, „Aff aires À Faire“ mit Philippe Zdar im One-Off La Chatte Rouge machte den Move zum Soundtrack.
Lio: Lio, 1980
1980 war Madonna als Superwoman und Pop-Heroine noch nicht geboren, da trat ein 16-jähriges „Material Girl“ mit dem bürgerlichen Namen Vanda Maria Ribeiro Furtado Tavares de Vasconcelos auf den Plan, von den Freuden der Fellatio zu singen („Le Banana Split“) – unschuldigst im rosa Hosenanzug tanzend, subversiv, wie sich das so gehörte. Als Lio stürmte die in Belgien lebende Chanteuse die Charts. Ihr Debüt klang wie eine elektronisch gepimpte Jukebox, die Vergangenheit und Zukunft in einem Streich mitnahm: von Fifties-Schmalz („Amicalement Vôtre“) über einen mausschnellen Latin-Song („Speedy Gonzales“) und New-Wave-Geklimper („J’obtiens Toujours Tout Ce Que Je Veux “) bis zum Disco-Groove mit Banane.
Mylène Farmer: Ainsi Soit Je…, 1988
Der Einfluss von Mylène Farmer auf die moderne Frenchpop-Szene ist kaum zu überschätzen. Von Mitte der 80er- bis Anfang der 90er-Jahre brachte sie zuckersüßen Dance-Pop mit Gothic-Schwermut zusammen, Hits wie „Libertine“ oder „Désenchantée“ liefen auf den Feten, der Kern ihrer Alben besteht jedoch aus zwielichtigedlem, sexuell aufgeladenem Dunkel-Pop. AINSI SOIT JE… ist ihre zweite LP, der Hit heißt „Pourvu Qu’elles Soient Douces“ und funktioniert bis heute im Radio, davor und danach gibt es einen Düsterwalzer zu Versen von Baudelaire, eine verstörende, auf Tierlauten basierende Prä-Techno-Collage im Stil von The Art Of Noise, ein Cover von Juliette Grécos „Déshabillez-Moi“ sowie den perfekten Pop von „Sans Logique“.
Mano Negra: Patchanka, 1988
Die ist die erste von vier starken Platten der Band um Sänger Manu Chao, der zehn Jahre später zum Solo-Star wurde. Mit seinem Mano-Negra-Kollektiv fegte er 1988 mit einem Handstreich den allgegenwärtigen Synthie in die Ecke: PATCHANKA bietet ein Dauerfeuer aus Punk, Rock, Ska, Rap, Reggae, Folk, Latin und mehr. Der Spaß kennt keine Grenzen, dies ist fantastische Sommermusik, die damals aus Bars und Cantinas schallte, aber auch auf Festivalbühnen und in verschwitzten Provinzdiscos gespielt wurde. Was damals galt, gilt auch noch heute: Der Energieschub der einsetzenden Bläser beim Hit „Mala Vida“ bringt selbst die steifsten Tanzflächen-Randsteher in Bewegung.
Les Négresses Vertes: Mlah, 1989
„Die französischen Pogues“, sagten damals alle, auch wegen des Sängers Helno, der ähnlich selbstzerstörerisch unterwegs war, 1993 an einer HeroinÜberdosis verstarb. Und tatsächlich, was die Pogues in Großbritannien mit irischem Folk erreichten, gelang Les Négresses Vertes mit der Musik ihrer Eltern, die aus Algerien oder Marokko nach Frankreich gegangen waren, dort in den Banlieues lebten und dafür kämpfen mussten, sich Gehör zu verschaffen. Der gekonnt gespielte Folk-Punk der Négresses Vertes drang durch, das Debüt MLAH verbindet mediterrane Sehnsüchte mit deftigen Arabesken und französischen Chanson- Traditionen. „Voilà l’Été!“, eine feine Sommerbeobachtung im Stil von Jacques Tati, war sogar in Deutschland ein kleiner Hit.
Jacques Brel: Les Marquises, 1977
Ein Belgier, kein Franzose. Und trotzdem mit zahllosen Klassikern des Chansons einer der Säulenheiligen der französischsprachigen Musik. Ab Ende der 60er-Jahre machte er sich rar, konzentrierte sich auf seine Schauspielkarriere – um 1977, zweieinhalb Jahre nach einer Krebsdiagnose, dieses Album zu veröffentlichen. Es ist eines seiner stärksten, blickt zurück auf seine Erfolgszeiten in den 60er-Jahren, zeigt aber in Songs wie dem dramatisch inszenierten „Vieillir“ auch dem Tod die Stirn, der ihn ein knappes Jahr später mit 49 Jahren ereilen sollte. Mitten in diesem Alterswerk verbirgt sich allerdings einer der modernsten Songs, den er je aufnahm: „Les F…“ shuffelt sich durch Frühsiebziger-Sound- und Funk-Patterns, die Bläser blasen, die Hammondorgel wummert, und Brel? Verhöhnt, quasi als letzte Amtshandlung, die flämischen Nationalisten.
Les Rita Mitsouko: The No Comprendo, 1986
Was für eine eigenartige Platte! Das Wave-Fach, in das sie bisweilen geschoben wird, mag nicht so recht passen, eher bewegen sich Catherine Ringer und Frédéric Chichin hier zwischen Postpunk-Ideen, Avantgarde und so einer Art Folk-Jazz. Das gibt eine unerwartete Menge an eingelösten Optionen, die erstaunlich gut gealtert sind, nachzuhören gleich zu Beginn der Platte: Wie stoisch „Les Histoires D’A“ durchrhythmisiert ist und von der Klarinette doch in den Swing geschoben wird – eine reine Freude! Das folgende „Andy“ hingegen steckt mit beiden Vorderhufen in einer Art Post-Funk, der alles von DFA bis Prince antriggert. Und „Bad Days“ ist schließlich die große, exaltierte Pop-Nummer. Produziert übrigens von Tony Visconti.
Daft Punk: Homework, 1997
Die deftigste Versuchung, seit es House-Schlachten gibt. Die Franzosen entwickelten mit diesem Album einen Sound, der nicht nur klug komponiert ist, sondern auch klug sampelt, von Barry White über Billy Joel (!) und Karen Young bis zu Vaughan Mason and Crew. Das Wirkprinzip des Albums: ein auf das Nötigste reduzierter Beat trifft auf instrumentale (oder, in „Around The World“, vokale) Hooklines. Das Ergebnis ist immer ein wenig schmutziger, als man das damals von House gewohnt war. Der wichtigste französische Act der letzten 30 Jahre.
Nino Ferrer: Métronomie, 1971
Mit Ferrers 60er-Jahre-Hits zwischen Beat und Chanson („Mirza“, „Le Téléfon“) hat diese Platte nicht viel zu tun, sieht man einmal davon ab, dass auch in „Mirza“ schon eifrigst georgelt wird. Doch in MÉTRONOMIE geht Ferrer in eine andere Richtung, lässt seinen Musikern viel Raum und siedelt die acht Tracks als eine Art Mini-Psychedelic-Progressive-Opus an, das streckenweise so eigenartig erscheint wie das Coverbild von Claude Verlinde. Wir hören ihn über den Kies schreiten und in „La Maison Près De La Fontaine“ die Vögel singen, bevor er den Folk-Barden gibt, der erzählt, dass man Krebse fischte und nackt baden ging. Seinerzeit ein Flop – aber wunderschön.
Téléphone: Crache Ton Venin, 1979
Ach, alleine dieses Cover! Jean-Baptiste Mondino, der später unter anderem für Madonna, David Bowie und Björk Videos drehte, zeigte Téléphone ganz genau so, wie man eine Band 1979 zeigen musste: mit (manchen zu) viel Haut. Die leise Punk-Vermutung, die einen bei diesem Bild überkommt und die die Nennung des Produzenten Martin Rushent (Buzzcocks, The Stranglers) womöglich unterstreicht, wird von der Platte aber nur teilweise eingelöst. Eigentlich spielen Téléphone eher einen harten Rock’n’Roll mit einer guten Portion Glam und Garage. In Frankreich wurden sie damit zu einer riesengroßen Band, die vor bis zu 100 000 Zuschauern spielte, Anfang der 80er-Jahre nahmen die Stones sie auf Welttournee mit.
Jacques Dutronc: Jacques Dutronc, 1966
Der King of Yé-Yé nahm in den 60er-Jahren einen Strang hervorragender EPs auf, in denen er französische Gelassenheit und Spuren des Chanson auf Beat- und Garage- Strukturen knallen ließ, dieses Album vereint die ersten drei davon. Gemeinsam mit seinem Co-Autor, dem Journalisten und Autor Jacques Lanzmann („Lui“) emanzipierte er den französischen Rock – und schaffte es auf die Plattenteller britischer Mods (er blieb bei den entsprechenden DJs, sicher auch wegen seines smarten Erscheinungsbildes, über Dekaden ein beliebter Gast). Die Hits sind „Et Moi, Et Moi, Et Moi“, die angemessen kratzig produzierten „Les Cactus“ und „Mini Mini Mini“ sowie „Les Gens Sont Fous, Les Temps Sont Flous“. Er heiratete später Francoise Hardy.
Sébastien Tellier: Politics, 2004
Die Haupterinnerung, die vielen von Sébastien Tellier geblieben ist, ist ja sein schwülstiger „Eurovision“-Auftritt mit „Divine“, der es 2008 lediglich auf einen 19. Platz schaffte. Sein Großwerk erschien vier Jahre zuvor: POLITICS, aufgenommen mit dem großartigen Tony Allen, ist ein vielsprachiger und opulent inszenierter Flow, dessen tatsächliche politische Inhalte im Nachhinein schwer auszumachen sind. Das ist aber angesichts großer Songs wie dem sich über siebeneinhalb Minuten ziehenden „La Ri-tournelle“ oder dem auf Deutsch eingesungenen „Mauer“ völlig egal.
Michel Polnareff: Polnareff’s, 1971
Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre galt Michel Polnareff als französische Antwort auf David Bowie und Scott Walker. Dann versickerten die Millionen, flüchtete der Künstler in die USA, kehrte unerkannt nach Frankreich zurück und legte erst 2018 ein erstaunliches Comeback hin. POLNAREFF’S ist sein Meisterwerk, eine überbordende, psychedelische und orchestrale Platte, die innerhalb weniger Sekunden von barockem Pop auf Barjazz überwechselt und im weiteren Verlauf alles bietet, was Musik in den 70ern auffahren konnte: trockenen Funk, große Chansons, opulenten Bigband-Pop. POLNAREFF’S klingt, wie sich Samstagabende angefühlt haben, als wir noch klein waren: groß, verschwenderisch, grenzenlos.
Françoise Hardy: Françoise Hardy, 1962
Der Output der Frühsechziger von Françoise Hardy war, wie das für diese Zeit typisch ist, nicht unbedingt auf LPs konzentriert, dazu kommt, dass die Alben in verschiedenen Ländern und verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden. Der erste französische Longplayer ist als Einstieg empfehlenswert, fasst er doch einige der schönsten Songs der Pariserin zusammen. Neben dem kleinen Walzer „Tous Les Garçons Et Les Filles“ sind es vor allem zwei Songs, die erwähnenswert sind: Das zart rhythmisierte „La Fille Avec Toi“, in dem man mit ein bisschen Fantasie den Bossa Nova ausmachen kann, mit dem sich Hardy später ausführlicher beschäftigte, und das gewitzte „Oh Oh Chéri“, Dekaden später von Stereo Total charmant gecovert. Das Besondere dieses Albums liegt aber über der Musik, es ist eher eine Stimmung: Hardys Songs waren stets eine Spur eleganter als jene von Yé-Yé-Kolleginnen wie Sylvie Vartan oder Sheila und haben deshalb die Zeit besser überlebt.
Hollydays: Hollywood Bizarre, 2018
Chanson und Elektronik sind schon lange gut aufeinander eingespielte Partner, doch selten klingt die Symbiose so lässig und zwingend wie bei Hollydays: Auf ihrem Debütalbum HOLLYWOOD BIZARRE bringen Elise Preyse und Sébastien Delage eine gute Idee nach der anderen unter, ohne die Stücke zu überladen. So ist der Titeltrack von deepen Dubsounds untermalt, während das fröhliche „On A Déjà“ auch Zaz-Fans gefallen dürfte. Das wavig-kühle „Une Autre“ erinnert an die großen Vorläuferinnen Les Rita Mitsouko, mit der dunklen Ballade „Le Démon“ und dem Coming-out-Song „Monsieur Papa“ zeigen Hollydays, dass sie auch nachdenklich können. Zum Hit des Albums wurde das sehnsuchtsvolle „L’Odeur Des Joints“, in dem sich Westerngitarre und Klickerklacker-Beats die Hände reichen.
Mirwais: Production, 2000
Anfang des Jahrtausends war das noch sexy, wenn jemand Alben für Madonna schrieb und produzierte. Mirwais machte das gut, stürmte aber erst in den intergalaktischen Sphären von „Disco Science“ und mit einem Breeders-Sample den Gipfel. Mit den vorher veröffentlichten Debüts von Daft Punk und Air trat PRODUCTION den Werbefeldzug für eine Öffnung der Elektronik in Richtung Pop an. Mirwais war ein Houseaffiner Mittelaltpunk, der sich im Cyberpop neu entdeckte, nirgendwo sonst hat er seine Roots so gnadenlos freigelegt wie im Discohit „Naïve Song“, der die Digitalisierung des Geschrammels zur Liebeserklärung machte. Und vor 20 Jahren war auch der Gebrauch von Auto-Tune noch ein Statement in Sachen Produktion.
Fishbach: À Ta Merci, 2017
Flora Fischbach befindet sich auf dem Weg zum Superstar. Als Schauspielerin ist sie in der Serien-Adaption der Romane um „Vernon Subutex“ zu sehen, ihre erste Platte À TA MERCI ist bislang ihre einzige: Für mehr fehlt die Zeit. Doch das ist nicht so schlimm, denn das eine Album wirkt lange nach. Präzise seziert Fishbach (bei ihrem Künstlernamen spart sie sich ein „c“) 80er-French-Pop-Traditionen, führt sie in die Gegenwart, nimmt dabei Impulse moderner Electronica, aber auch von US-Kolleginnen wie Angel Olsen oder Weyes Blood auf. À TA MERCI ist zwar sehr geschickt komponiert und arrangiert, aber weit davon entfernt, ein Designer-Produkt zu sein: Stücke wie „Mortel“ oder „Y Crois-Tu“ stehen für künstlichen Nebel und großen Pop.