Reportage

Freie Fahrt fürs Kino: Wie deutsche Autokinos während der Coronakrise ihren Boom erleben


Corona bedroht insbesondere Kulturbetriebe wie die Kinos. Aus der Not heraus entstehen immer mehr Autokinos – und setzen so in Deutschland eine 60-jährige Tradition fort.

Mitten in der Nacht fahren immer mehr Autos ins Industriegebiet in Köln-Porz. Kino in Coronazeiten bedeutet eben, nachts um halb 1 für einen USK-18-Film auf einen abgelegenen Platz zu fahren. Das Drive In Porz zeigt den Horrorfilm „Countdown“, unter den Zuschauer*innen ist auch die Kölnerin Marie Lauterbach mit einer Freundin. „Am Anfang habe ich mich schon in der Enge gegruselt, andererseits war ich froh, das Auto schnell abschließen zu können“, sagt sie. Sie hat sich mit ihrer Freundin in rote Decken gekuschelt. Die Decken halten nicht nur warm, sie schützen im Zweifel die Augen auch vor allzu gruseligem „Countdown“-Horror.

Das Drive In Porz mit seinen 1000 Plätzen ist eines von bundesweit fünf Autokinos der Kette. Sie unterhalten ansonsten noch Kinos in München, Stuttgart, Gravenbruch bei Frankfurt und Essen. Jährlich haben sie 250 000 bis 300 000 Besucher*innen, aktuell sind die Autokinos beliebter denn je. Pressesprecher Heiko Desch beobachtet einen regelrechten Ansturm, 2020 dürfte ein Rekordjahr werden. Gab es 2019 laut der Filmförderungsanstalt (FFA) bundesweit noch 18 Autokinos, so vervielfacht sich die Zahl dieses Jahr.

Geld verdienen in Coronazeiten

Klar, denn in normalen Kinosälen verbreitet sich Corona besonders leicht. Wenige wollen sich aktuell gefährden und stundenlang mit dutzenden Fremden in einem stickigen Raum sitzen. Langsam öffnen die Kinos zwar wieder, etwa in Hessen seit Kurzem mit 1,5 Meter Abstand, Teilnehmerlisten, pro Person 5 Quadratmeter Platz. Doch bis zur cineastischen Normalität dauert es wohl noch.

„Sing this Corona to me“: Die Coronavirus-Songs im Überblick

Doch wie sollen Kinos in Coronazeiten Geld verdienen? Die Initiative „Hilf deinem Kino“ verlagert die Werbung vor dem Film ins Internet. Interessierte wählen ihr Lieblingskino aus, schauen Spots online und unterstützen so gezielt. Ansonsten rufen etwa die Kalker Lichtspiele aus Köln dazu auf, Gutscheine zu kaufen, die bei der NRW-Wiedereröffnung Ende Mai nutzbar sind. Doch das eigentliche Kinoerlebnis gibt es derzeit vor allem im Freien, im Auto, wie in Porz bei Marie Lauterbach.

Sie hatte Autokinos vorher schon auf dem Schirm und schaut eher gelegentlich mit Freunden Filme. Noch schöner fände sie es, im Juli oder August ins Autokino zu gehen, wenn die Sonne untergeht. Andererseits: „Das Fenster runterzulassen geht ja auch im Sommer nicht“. Denn der Ton läuft über das Autoradio. Besucher*innen stellen vorher die Autokino-eigene UKW-Frequenz ein. Die Frequenzen müssen Betreiber vorher bei der Bundesnetzagentur anmelden.

Autokinos schießen wie Pilze aus dem Boden

Das hat die Bundesnetzagentur vor Corona nur „vereinzelt“ beobachtet, teilt ein Sprecher mit. Doch seit März hat sie 245 Frequenzen zugeteilt. Freilich sind das in der Mehrzahl bisher nur Frequenzen, doch vielerorts entstehen sogenannte Pop-Up-Kinos, etwa das Car Watch in Köln-Ehrenfeld. Dahinter stehen die Agentur ds!marketing und die Halle Tor 2, die erfahren mit Veranstaltungen sind. Auch Bundesligafußball möchten sie in ihrem Autokino bei Köln-Ehrenfeld zeigen.

07.05.2020, Baden-Württemberg, Pfaffenweiler: Autos und eine aufblasbare Leinwand stehen während einer Autokino-Vorstellung auf dem Festplatz auf dem Batzenberg während im Hintergrund die Rheineben zu sehen ist.

Heiko Desch von Drive In kennt diese Pop-Up-Kinos. Er schätzt, dass wegen Corona bisher 60 bis 80 deutschlandweit entstanden seien. Im Gegensatz zu diesen kurzfristig hochgezogenen Betrieben sieht er bei seinen fünf Kinos Vorteile: feste Leinwände oder asphaltierte Flächen, auf denen in jeder Reihe Erhebungen sind für die Vorderachse, sodass man eine bessere Sicht hat. „Wir sind als einziger Ganzjahresbetrieb schon das Original und sehen Pop-Up-Autokinos nicht als Konkurrenz“, sagt Desch. Insgesamt besuchten immer weniger die regulären Kinos, doch gingen die Besucher*innenzahlen bei den Autokinos immerhin weniger stark zurück.

Der erste Hamburger und eine Erpressung

In Deutschland hat alles 1960 im Drive in Gravenbruch bei Frankfurt angefangen. Noch vor dem ersten deutschen McDonald’s verkauften sie dort „Gravenbrucher“, Hamburger, und lockten in den Sechzigerjahren bis zu 600 000 Menschen pro Jahr zu sich. Mitunter auch ungeliebte Gäste, wie ein Theaterleiter erzählt, der von Anfang an dabei war. Drei junge Männer, 19, 22 und 23 Jahre alt, forderten in der Anfangszeit 100 000 Mark, zu übergeben in einem roten Schulranzen. Ansonsten zündeten sie das Büro und Restaurant an, drohten sie. Die Übergabe scheiterte, der Hintergrund blieb unklar.

Hinter der Maske: Wie Fynn Kliemann zu einem der größten Hersteller für Corona-Mundschutz wurde

Bis in die Siebziger eröffneten 40 Autokinos deutschlandweit, man holt sich ein Stück Amerika samt Filmkultur nach Hause. Doch in den Jahrzehnten darauf schlossen immer mehr Autokinos, große Multiplexe entstanden in den Innenstädten. Laut Heiko Desch konnten die Autokinos oft wenig für Schließungen. Die Flächen inmitten wachsender Städte waren schlichtweg attraktiver für Gewerbe oder Wohnungsbau. Das erste deutsche Autokino in Gravenbruch hingegen hat die Zeiten überstanden, 2005 konnten die Betreiber die Schließung abwenden. Zwar kann der Ganzjahresbetrieb Drive In, coronabedingt, an glorreiche Zeiten anknüpfen. „Auch wenn wir gerade überdurchschnittlich viele Besucher haben, hoffen wir, dass auch die normalen Kinos bald wieder zurückkommen, das ist schon unheimlich wichtig für die Kultur. Schließlich brauchen wir auch frische Ware an Filmen“, sagt Heiko Desch.

Für Marie Lauterbach hat es sich um halb 3 erstmal ausgegruselt. Die Decke hat sie sich später weniger oft hochziehen müssen. Eine andere Sorge konnte ihre Freundin nehmen: Nein, zwei Stunden Autoradio halte die Batterie aus. Der Heimweg wäre sonst mehr Horror als notwendig gewesen.

Was macht die Corona-Krise mit Musiker*innen? Fünf Fragen an Miss Platnum
Philipp von Ditfurth picture alliance/dpa