Folk, Punk & Politik


Erst Tracy Chapman, jetzt Michelle Shocked – die Anti-Stars kommen in Mode. Allein mit Gitarre, Geige und ihren politischen Überzeugungen lebt die musikalische Einzelkämpf erin auf einem Londoner Hausboot. ME/Sounds-Korrespondentin Sylvie Simmons ging an Bord.

Sie ist angezogen wie ein Junge, der von zu Hause weggelaufen ist. um auf See zu fahren. Passenderweise wohnt sie denn auch auf einem Hausboot, das in einem Londoner Vorort vor Anker liegt: am einen Ende die Küche, am anderen das Bett, dazwischen ein kleines Sofa, ein noch kleinerer Schreibtisch, ein Bücherregal, eine Geige und die Gitarre, die sie vor zehn Jahren gebraucht gekauft hat.

Im Moment befindet sich das Boot allerdings im etwas gediegeneren Vorort Surrey. weil die Maschine repariert werden muß. Am letzten Wochenende schipperte sie mit Billy Bragg (ihrem Polit-Kumpel. der sie auf seine letzte US-Tournee mitnahm) ein bißchen durch die Gegend, und durch das dreckige Wasser fraß sich der Motor fest. Wenn es aber funktioniert, fühlt sich die 25jährige Amerikanerin auf ihrem Boot „wie eine Schnecke“: In guter alter Troubadour-Manier kann sie ihr Heim überallhin mitnehmen.

Sie hat schon früh angefangen zu reisen — weil sie mußte: Der zweite Mann ihrer Mutter war Soldat: in Deutschland hat sie auch schonmal gelebt. Mit 16 fuhr sie dann auf eigene Faust los. um ihren leiblichen Vater zu suchen, „(toi Prototyp des radikal-atheistischen Hippies“, der in Texas an einer schwarzen Schule unterrichtete und eine Gitarre sowie eine Blues- und Bluegrass-Sammlung sein eigen nannte. Michelle zog nach Austin. New York, San Francisco. Amsterdam und wieder nach Austin, bis ihre Mutter — nachdem sie gehört hatte, daß Töchterchen mit Hausbesetzern und Punks zusammenlebte — sie mit 20 in eine Anstalt einweisen ließ („ich find ’s immernoch unglaublich, daß sie da immer noch soviel Einfluß auf mein Leben nehmen konnte“). Sie wurde in eine psychiatrische Klinik gesteckt, bis das Geld von der Krankenversicherung zur Neige ging, wie sie lachend erzählt. Dann war sie wieder frei, ging erst nach New York, um Geld zu verdienen, dann nach Europa und England, „weil es da eine sozialistische Tradition gibt“, die ihr in ihrer Heimat fehlte.

Bei einer Lebensgeschichte, die sich anhört wie ein zu einem Country & Western-Song umgearbeiteter Roman, können Michelles politische Ansichten kaum überraschen. Sie ist das älteste von acht Kindern — ihre Mutter und die sieben anderen sind äußerst strenggläubige Mormonen. Ihr Vater, ein kiffender Träumer, der immer davon sprach, sich eines Tages ein Boot zu bauen und einfach davonzuscgeln, verdrückte sich stattdessen. Fernsehen kam ihrer Mutter nicht ins Haus, und so mußte sie erst von zu Hause weglaufen und mit ihrem Vater zu Folk- Festivals in Texas fahren, um zum eisten Mal richtig Musik zu hören.

Sie belegte Kurse an der Texas Universität, hielt das aber nicht aus. zog herum, lebte mit allen und jedem, probierte die unterschiedlichsten Drogen und politischen Richtungen (..vom etwas rechten Flügel über Retlet-die-Wale-Liberalität bis nach ganz linksaußen“) und hätte sich wahrscheinlich mit einem Haufen immer neuer Hardcore Punk Bands in einem besetzten Haus eingenistet, wenn ihre Mutter sie nicht irgendwann aufgestöbert hätte.

., Was ich lustig finde“, lacht sie.“.ist, daß sie mich einen allen Hippie nennen. Da frage ich mich, wie man mit 25 Hippie sein kann. Ich bin nie Hippie gewesen, aber auch als ich mitten in der Hardcore-Szene steckte, waren mir diese Ideale irgendwie vertraut. Es ist eine Jugend-Kultur, die darauf gründet, daß man mit dem auskommt, was man hat. und die auf der Erkenntnis beruht, daß Freunde wichtiger sind als alle materiellen Dinge. So ähnlich funktioniert auch die Boot-Kultur, in der ich jetzt lebe.“

Denkt Michelle immer noch in den Begriffen „wir“ und „die anderen“ — wie früher die Hippies?

..Auf jeden Fall! Ich arbeite an einem eigenen Fanzine. das .Schizofeminist‘ heißen soll und sich intensiv mit der fundamentalistischen Ideologie auseinandersetzt. Kurz gefaßt, schafft Fundamentalismus die Vorstellung von .uns‘ und,den anderen‘, von .schwarz‘ und .weiß‘. Diese An zu denken ist mir schon als Kind eingetrichtert worden: Da waren die Leute, die getauft waren, und dort die Leute, die nicht getauft waren: die einen und die anderen, immer wieder.

Irgendwie bedaure ich das, denn ich sehe noch andere Möglichkeiten als Liebe und Haß oder gut und böse. Toleranz: fähig sein, das nicht Tolerierbare zu tolerieren und das Ungeliebte zu lieben.“ Sie lacht.

„Aber ich glaube nicht, daß ich ¿

dann so effektiv wäre, wie ich es offenbar gewesen bin! Ich kann sehr gut lieben und sehr gut hassen, und in meinen politischen Ansichten gab’s immer bloß .schwarz‘ oder .weiß‘.

Ich habe mich mal mit meinem Vater darüber gestritten, daß er mit dem Alter immer weicher wurde: liberal statt radikal. Ich habe ihm gesagt: .Sei doch froh, daß du eine Tochter hast, die da draußen an die Front geht und dich auf dem Laufenden hält.‘ Außerdem glaube ich, daß ich dadurch, daß ich Standpunkte kontrastiere, soweit gekommen bin, auch die andere Seite besser zu verstehen.

In Italien wollte ich mal zu einem Friedens-Camp für Frauen und bin vergewaltigt worden. Es war unten in Süd-Italien, sehr arme Gegend. Was ich erst später mitkriegte, war, daß die Männer dort nichts von der Message begriffen: daß Frauenbewegung etc. überhaupt nicht zu ihnen durchdrang, sondern daß sie das Ganze für einen Haufen Mösen hielten, die bloß auf sie warteten.“ Sie schüttelt den Kopf.

„Und dann war da dieser eine Typ, der dachte — ich weiß auch nicht was, aber ich habe das Gefühl, daß ich inzwischen verstehe, nach welcher Logik Männer denken: daß sie einen geblasen haben wollen, wenn sie dich in ihrem Auto mitnehmen.

Alles, was ich weiß, ist, daß Reisen eine der größten Freiheiten ist. die man haben kann: und wenn man als Frau aufwächst, glaubt man leicht, daß einem diese Freiheit nicht offensteht. Ich glaube, ich habe immer einen Gutteil meiner Energie darauf verwandt zu beweisen, daß das nicht so ist.“

Den Rest hat sie darauf verwandt, die Gesellschaft zu verändern, „den Status Quo so weit ins Wanken zu bringen, daß das Resultat die Neuverteilung allen Reichtums sein muß.“

Freiwillig oder notfalls auch durch Revolution?

„Mit allen denkbaren Mitteln“, lacht sie. „Aber Kreativität ist letztlich die einzige Lösung.“