Eurosonic-Festival
Über die Jahre hat sich die volksfestartige Newcomerschau im niederländischen Groningen zu einer der wichtigsten europäischen Talentbörsen entwickelt. Bedeutendste Erkenntnis in diesem Jahr: Kaum einer interessiert sich noch für starre Genre-Grenzen.
Die meiste Zeit verbringt man in der Schlange. An ihrer Länge lässt sich ablesen, wie gründlich die jeweiligen PR-Agenten im Vorfeld ihren Job gemacht haben – oder manchmal sogar, wie gut und potenziell „wichtig“ die jeweilige Band ist. Sieger nach Schlangenlänge an diesem Donnerstagabend: eindeutig der Londoner James Blake mit seinem Konzert im Mehrzweckclub Simplon, obwohl man nichts sieht. Blake führt seine minimalistischen Electro-Soul-Pop-Konvolute im Sitzen auf – und der Saal ist so voll, dass man keine Luft bekommt. Aber was für eine Stimme da durch den Vocoder dringt!
Das Eurosonic-Festival im niederländischen Groningen – in diesem Jahr zum 25. Mal durchgeführt – hat sich mit der Zeit zu einer Art mitteleuropäischer Ausgabe des SXSW-Festivals in Austin, Texas, gemausert. Eine Art Talentbörse also, wo die Agenten von Konzertveranstaltern und Plattenfirmen die Sounds of 2011 schon jetzt checken und unter Vertrag nehmen können. Prädestiniert für eine derartige Veranstaltung ist die Kleinstadt durch eine schier unglaubliche Menge allesamt fußläufig erreichbarer, im Zentrum liegender Venues. In dieser Form in Europa sicherlich einmalig.
Zwar hat das Eurosonic trotz der vielen Business-Vertreter dankenswerterweise die Anmutung eines Volksfestes, die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Bands wie die ebenfalls auftretenden White Lies oder Turbostaat sind aber trotzdem viel zu etabliert und gehören hier eigentlich nicht hin. In Groningen will man hören und sehen, was man vorher noch nicht kannte.
Die von einer neuen Künstler-Generation mit großem Selbstverständnis betriebene Aufweichung der alten Genre-Grenzen ist sicher die interessanteste musikalische Entwicklung der vergangenen Jahre. In Groningen kombiniert das eklektische Ensemble Retro Stefson aus Island spielerisch Soul, Indie-Pop und Seemannsmusik und das Brandt Brauer Frick Ensemble spielt House mit den Mitteln eines klassischen Orchesters. Anderes erscheint einem schon in diesem frühen Karriere-Stadium viel zu fertig und wenig originell: Die britische Singer/Songwriterin Clare Maguire sieht man im Geiste schon auf der „Wetten, dass … ?“-Bühne, The Joy Formidable haben zwar eine tolle Präsenz, das rockistische Gitarrengewitter der Waliser muss aber leider überwiegend ohne Melodien auskommen.
Und so war es dann am Ende eben jener Jüngling namens James Blake, der dem 20. Eurosonic das – erwartbare – Glanzlicht aufsetzte. Wie der Dubstep-Produzent mit Mut zur Soundlücke locker zwischen den Stilen changiert und trotz maximalen Stilwillens nie den Song aus den Augen verliert, das hat man in dieser Form noch nicht gehört.