Ein Himmel voller Geigen?


Beide Genres -Klassik und Rock- haben Großes hervorgebracht. Wenn jedoch versucht wird, leichten Pop mit klassischem Ernst zu verbinden, ist das meistens nur fürs Geldverdienen gut.

hatte der verblichene Staatsintendant August Everding jemals die Scorpions gehört? Wahrscheinlich, denn vor dem pfeifenden „Wind Of Change“ gab es 1991 kein Entrinnen. Radio an, und schon war es passiert. Doch zurück zum Kunstexperten August Ever-ding: „Der Geschmack der meisten ist nicht der Geschmack der Besten“, urteilte die Kultureminenz einst über Verfall und Ausverkauf künstlerischen Schaffens. Mag sein, klingt aber elitär. Sagen wir lieber: „Der Geschmack der meisten ist nicht unbedingt der beste.“ Stille, dann der Aufschrei entrüsteter Massen: „Wir leben in einem freien Land und müssen uns von niemandem sagen lassen, dass unsere Lieblingsmusik Dreck ist. Wem sie nicht passt, der muss sie ja nicht hören.“ Stimmt, liebe entrüstete Masse. Und wenn du es nicht ertragen kannst, dass Kritiker deine Lieblingsmusik als größte Grütze seit Menschengedenken bezeichnen, dann lies einfach nicht, was die Kritiker schreiben. Ein klassisches Unentschieden, ein Null zu Null. Punkteteilung auf niedrigstem Niveau.

Im Ernst: Da schickt sich eine gut abgehangene Rockband an, mit einem weltweit etablierten Klangkörper live und im Studio gemeinsame Sache zu machen. Das kann nur eines bedeuten: Alle Beteiligten wollen Geld verdienen. Das ist erlaubt – und gelingt sogar: „Moment Of Glory“, eingespielt von den Scorpions und den Berliner Philharmonikern, sprintet auf den dritten Platz der deutschen Albumcharts. 40 Anfragen aus aller Welt haben die Scorpions seit dem EXPO-Konzert erreicht. Die USA und sogar Malaysia möchten Live-Aufführungen. Kein Wunder, denn derlei Crossover geht weg wie warme Semmeln. Das war allerdings nicht immer so, weshalb wir uns an dieser Stelle eine kleine Rückschau gönnen.

Am Anfang stand ein lazzpianist namens lacques Loussier, quasi der geistige Vater des Klassik-Crossovers. Die Hüter der schönen, guten und ernsten Musik waren empört, denn der Franzose erfrechte sich Anfang der Sechziger, die Werke Johann Sebastian Bachs zu verjazzen. Blasphemie! Doch das Publikum war ganz wild auf das ketzerische Werk und kaufte „Play Bach“ in rauen Mengen. Kurze Zeit später bediente sich die britische Band Procol Harum bei Herrn Bach, die Barock’n’Roll-Single „A Whiter Shade Of Pale“ orgelte sich 1967 ins erweiterte Bewusstsein der Blumenkinder. Dann wurde es ernst. The Moody Blues, eine bis dato erfolglose R&B-ßand aus Birmingham, veröffentlichten das Konzeptwerk „Days Of Future Passed“. Der Clou daran: Die Fusion von Beatband und großem Orchester, von den Liner Notes als Fortschritt für die Menschheit gepriesen. Der Erfolg des Werks blieb überschaubar, doch eines wurde deutlich: Popmusiker buhlten Ende der Sechziger um die Anerkennung der Kulturkritik, wobei Geigen, Blechbläser und ein Hauch von Klassik willkommen waren, um zweifelnde Bildungsbürger von der eigenen Kulturbeflissenheit zu überzeugen. Und tatsächlich: Der Klassik/Rock-Mix wurde wahrgenommen, wenn auch als tiefster Underground, echte Avantgarde. Bands wie The Nice und Deep Purple interpretierten klassische Vorlagen oder komponierten ihre eigenen „Concertos“, vorzugsweise in mehreren Sätzen und mit „Schockakkorden“ garniert. Die Masse der Plattenkäufer griff lieber zu den Beatles, James Last oder Heintje. Kommerziell geschickter stellte sich die niederländische Band Ekseption um den Tastenderwisch Rick van der Linden an, deren Jazzrock-Versionen von Rachmaninoff & Co. nicht gar so lärmend daherkamen. Deep Purple bemerkten, dass man mit Hauruck’n’Roll mehr Geld verdienen kann, woraufhin Keyboarder Ion Lord seine Klassik-Schrullen nur noch in Solowerken verwirklichen durfte. Mal mit, mal ohne Eberhard Schoener. Und auch Nice-Organist Keith

Emerson hatte dazugelernt, gründete die Gelddruckerei Emerson, Lake & Palmer und ließ den studierten Musiker raushängen. Das war’s, das Ende vom Lied. Disco und Punk fegten alles hinweg.

Doch dann kamen die achtziger lahre, und mit ihnen findige Marketingmenschen, die in der Bevölkerung das Bedürfnis nach leichtverdaulicher Klassik entdeckten. Oder weckten, wie man’s nimmt. Rondo Veneziano hieß der erste Streich: Klassik-Ohrwürmer, unterlegt mit einem fröhlichen Discobeat. Die schwammen sogar in Milch. Die Feuilletonisten schäumten, die Käufer kauften. Ein besonders unseliges Kapitel der Klassik/Rock-Verwurstung nahm dann Mitte der Achtziger seinen Lauf, die Hauptstadt der Bewegung hieß London. Denn Klangkörper wie das „London Synphonic Orchestra“ oder das „London Symphony Orchestra“ nahmen sich der Songs von Sting, Fleetwood Mac, der Rolling Stones, Eagles oder Beatles an, auch die mehrteilige Reihe „Rock Symphonys“ zelebrierte den Schwulst in Reinkultur. Dennoch: Die Platten der Londoner Crossover-Schurken gingen in Millionenauflagen über die Ladentische. Die Industrie hatte den Sound gefunden, der sich prima versilbern ließ. Eine Blaupause, die in groben Zügen noch heute Cültigkeit hat: Bombast mit Pauken und Trompeten, pathetisch aufbereitete Monumentalklänge. Der kleinste gemeinsame Nenner für ein Publikum, dem Klassik an sich zu schwierig, Rock an sich zu wild und Musik an sich zu anstrengend ist. Nicht mal heiße Luft, nur ein laues Lüftchen, das allerdings viel Geld in die Kassen bläst. Das haben auch Metallica („S&M“) und Crossover-Pioniere wie Deep Purple bemerkt. Letztere wagen sich auch wieder ans wohltemperierte Klavier. Im Oktober stehen sieben Shows mit dem Philharmonie Orchestra Bucarest auf dem Programm.

Seit dem vergangenen Jahrzehnt funktioniert die Verbindung von Rock und Klassik auch mit umgekehrten Vorzeichen. Musiker aus klassischen Gefilden nähern sich unaufhaltsam der Popkultur. Pavarotti & Friends, Nigel Kennedy, die drei Tenöre und Andrea Bocelli seien erwähnt, während die seit 1996 stattfindende Gala „Night OfThe Proms“ derlei Tun zum Konzept erhoben hat. In diesem lahr dabei: das Sinfonie-Orchester II Novecento, Coolio, ÜB 40, Chrissie Hynde und Nena. Ob die Aussicht auf 99 Geigen eine schöne ist, sei dahingestellt. Eine weitere Entwicklung zeichnete sich in den Neunzigern ab: Als in der TV-Werbung Schokolade via Carl Orff und Bier via Edvard Grieg an den Konsumenten gebracht werden sollten, löste das einen kurzzeitigen Run auf die Klassikabteilungen der Plattenläden aus: „Ich hätte gerne den Song aus der Pils-Werbung, die mit dem Vogel, der ins Wasser fällt.“ Paradox: Zahlreiche Kulturwächter, jahrelang ratlos, wie man die ernste Muse der heiteren Masse schmackhaft machen könnte, bejammerten den „Ausverkauf“. Wo kommen wir hin, wenn jeder Proll „Peer Gynt“ hört. Man bleibt eben doch ganz gerne unter sich. Ernste Musik darf der geistigen Erbauung dienen, nicht aber der perfiden Unterhaltung. Man kann diese gequälten Naturen ja verstehen, für die eine Welt zusammenbricht, wenn sie erfahren, dass ihr geliebter Mozart fortan auch mit Meeresrauschen erhältlich ist: „Mozart With Calm Ocean Sounds“ nennt sich eine Entspannungs-CD, die das Salzburger Genie nach einem harten Tag des Komponierens vielleicht ganz fesch gefunden hätte.

Bleibt die Frage: Wie geht’s weiter? Muss man das Schlimmste befürchten? Nein, denn es ist längst unter uns. Ein Blick in den Plattenladen genügt. Einige Gräueltaten harren allerdings noch ihrer Verwirklichung: „The London Symphony Orchestra Plays Kurt Cobain“. Auch Grunge-Fans werden älter und fordern „entertain me, aber bitte nicht so laut“. Man wird auch sie entertainen, garantiert. Eine schöne Paarung würden auch Pavarotti und der Wu-Tang Clan abgeben, ersterer auf der Suche nach neuen Freunden, letztere auf dem absteigenden Ast und ebenso dick wie der Nudelfriedhof. „Barilla präsentiert“ …oh mein Gott, wie gut ließe sich das vermarkten. Schluss damit. Sonst bringen wir irgendwelche Marketingmenschen noch auf dumme Gedanken. Und die sollen sie sich schon selber machen.