Nachbericht & Fotos

Gangsta, Glitzer, Gitarren und „gude“ Laune – So war das MS Dockville 2019


The Chats muss man auf dem Radar haben, Italopop kann so schön (schräg) sein, das Team von Billie Eilish muss am Sound arbeiten – und wenn Rapper sich frauenpolitisch äußern, kann es unfreiwillig komisch werden. Das sind vier von vielen Erkenntnissen, mit denen wir vom 12. MS Dockville Festival (16. bis 18. August) aus dem sonst grauen Industriehafengelände im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg zurückgekehrt sind.

Bunt geschminktes Jungvolk, hippe Regenjacken und -boots, im BH versteckte Shots: Die S3 Richtung Stade transportiert ab Freitagmittag wieder Tausende Musikfans auf die andere Seite der Elbe. Dort angekommen ist nicht zu überhören: Der norddeutsche Akzent überwiegt – Moin! Die Hamburger lieben ihr Stadtfestival und stellen einen Großteil der Besuchermeute.

Auf zwölf Bühnen ist an drei Tagen ein buntes Line-up aus Indie, Rap, Elektro und Punk zu erleben. Neben den Hauptbühnen sind es am Wilhelmsburger Reihersteig auch die kleineren versteckten Orte, an denen sich DJs und Newcomer austoben. Grelle Lauben wie ein Zauberwald, begehbare Container mit Lichtinstallationen, Drachenköpfen und runde Tischtennisplatten erinnern daran, dass vor zwei Wochen auf dem gleichen Fleck noch das Kunstfestival MS Artville stattfand. Ein Gang über das Gelände ist birgt lauter Entdeckungen. Darum kommen wohl auch viele Künstler immer wieder – etwa Bilderbuch und Aurora.

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Awareness und Nachhaltigkeit

In einem unterscheidet sich das MS Dockville indes nicht von anderen Festivals: Awareness, Nachhaltigkeit, Toleranz und Offenheit, Gleichberechtigung und Frauenquote sind auch dort wichtige Themen – nicht nur an Infoständen oder bei Mitmachaktionen, auch auf den zahlreich hängenden Bannern und in den Ansagen der Bands und Künstler. Auf einem großen Holzpodest sitzt ein junges Paar und schaut verliebt in die Abendsonne, vielleicht spricht der Banner über ihnen gerade ihre Gedanken aus: „Wie wollen wir morgen leben?“ Für das MS Dockville selbst hat Nachhaltigkeit nochmal eine ganz andere, dramatische Bedeutung: 2022 läuft die Zusage der Stadt Hamburg aus, das Gelände für das Festival nutzen zu dürfen. Eine Kampagne zur Verlängerung des Vertrags läuft bereits und fordert „10 Jahre Sicherheit für das Dockville“.

Deutsch-Rap

Zwar ist dem Veranstalter nach eigenen Angaben ein Mix aus nationalen und internationalen Acts wichtig, in diesem Jahr tummeln sich aber etliche Künstler auf den Bühnen, die sich dem aktuell angesagten Deutsch-Rap zuordnen lassen. Ob Ahzumjot, JUJU, TUA, RIN, NURA oder Celo und Abdi, sie alle rappen von beschissenen Tagen und besseren Zeiten.

Bei JUJU aus Berlin (Ex-SXTN) ist der Pegel schnell ganz oben, und das Publikum singt mit: „Alle rasten aus, weil ich rappe grade live, bitch…Ich habe grad n hype, bitch.“ Danach wird schnell ein lautes „Prost ihr Säcke“ in die Menge gefeuert – das Echo ist bekannt. Ein Rammstein-Sample gibt’s als Zugabe obendrauf.

Als die Champions-League-Hymne ertönt, läuft natürlich nicht die Eintracht ein, sondern Celo & Abdi – letzterer mit modischem Bauchtäschchen. Das Rapduo aus der Mainmetropole ist schnell mit Hamburg connected. Und an alle Frauen richtet Celo – auf Bosnisch heißt das Glatzkopf – nach dem Song „Halt die Fresse“ noch einen wichtigen Hinweis: „Bevor jetzt alle Feministinnen ankommen, fetten Applaus für die Frauen, die morgens Sandwiches für ihre Kinder machen.“ Äh.

NURA betritt durch einen überdimensionalen Reisepass die Bühne und fordert die „Moshpit-Ministerinnen“ zum Tanz: Das überwiegend weibliche Publikum soll ein großes Loch formen, um dann bei drei aufeinander loszustürmen –  funktioniert. Für den Song „Sativa“ holt sich die Berliner Rapperin mit eritreischen Wurzeln und andere Hälfte des früheren Duos SXTN Verstärkung durch eine junge Frau mit Joint aus dem Publikum, die sich direkt am Sektglas von DJ Sam Salam bedient.

Meute, Billie Eilish, Parcels und Loyle Carner

Meute starten mit seichten Triangelklängen und Nebelschwaden ihr Heimspiel, bevor es Pauken und Trompeten im stampfenden Techno-Marching-Beat hagelt. Zuhause ist es offensichtlich doch am schönsten. Die elfköpfige Kapelle um Gründer und Trompeter Thomas Burhorn ist ständig in Bewegung, wechselt Formationen und Beats, und beim Publikum gibt es genauso wenig Stillstand.

Dann ist Billie Eilish da! Die erst 17-jährige US-Amerikanerin eröffnet im neongrünen Zweiteiler mit „Bad Guy“ ihre Show. Da der Andrang bei ihr einfach zu groß ist, muss das Gelände abgesperrt werden. Wer doch noch oben am Hang einen Platz erwischt hat, der kann ihre Stimme leider nur erahnen. Die spürbare Energie der Überfliegerin und das frenetische Publikum im Innenraum lassen die Power auf der Bühne erahnen, doch bei vielen kommen nur die Bässe an. Auch ihr Tipp an die Festivalbesucher, die Handys mal für einen Moment wegzupacken, lassen den Sound nicht klarer werden – schade.

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Die Wahlberliner Parcels sind schon lange kein Geheimtipp mehr, auf der Bühne verbreiten die fünf Australier pure Freude. Patrick Hetheringtons Tanzbein schwingt ununterbrochen unter seinen Synthies, Bassist Noah Hill wiegt seine blonde Mähne im Takt, Jules Crommelin zupft lässig funky die Gitarre dazu – welcome to the disco show! Kleidungsstil und Musik der Jungs aus dem Surferparadies Byron Bay erinnert an die besten Zeiten von Soul und Funk. Wir waren mit Parcels zudem auf dem Dockville unterwegs, Reportage folgt.

Loyle Carner schafft es trotz seines harten Slangs, mit seiner entspannten Stimme die eher sozialkritischen Botschaften auf das Publikum zu übertragen. Untermalt mit souligen Beats erzählt der Londoner Rapper von Engeln, seiner Mum und der Suche nach seiner persönlichen Geschichte. Loyle macht keinen Hehl daraus, dass er gegen die antieuropäische Politik von Großbritanniens Premier Boris Johnson ist. „Natürlich, ay, fuck brexit, fuck Boris Johnson, I’m french, I’m german, I’m belgium, I’m european!“ Bejahender und tosender Applaus nicht nur für diese Zeilen. Sichtlich überwältigt von der großen Fanbase in Deutschland bedankt sich Loyle mehrmals artig beim Publikum, wahrer Gentleman eben. Bei „Sa-sail away, sa-save for a rainy day“ lässt sich der aufkommende Wolkenbruch bereits erahnen. Dieser tut dem ebenfalls starken Auftritt der Berliner Indie-Band Von wegen Lisbeth aber keinen Abbruch. Die nehmen das Hamburger Wetter mit Humor – und brettern los.

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Frisch, schräg und wild

Hinter der Band Two Feet verbirgt sich der Musiker Zachary William Dess. Der angesagte New Yorker vermischt den Sound seiner Bluesgitarre mit modernen Synthie-Beats, eine druckvolle experimentelle Konstellation. Wie „Feel like I’m drowning“ fühlen sich die Besucher bei seinem Auftritt definitiv nicht.

Dann hallt es „Gloria“ aus den Boxen, Servus und „buongiorno a tutti“. Vorhang auf für Roberto Bianco und die Abbrunzati Boys, eine Augsburger Schlagerkapelle, die leidenschaftlich und hip dem Italo-Pop der 70er und 80er frönt – das ist großer Spaß, aber nie peinlich. So wird ein Feuerwerk an Amore und Vino Rosso von Bolzano bis Palermo entfacht. Seit über 35 Jahren sei die Kapelle auf Welttournee, sagt Sänger Roberto. Dafür sehen die Bandmitglieder noch sehr frisch aus, muss wohl am Frizzante liegen.

„I’m the best person in the world“ behaupten derweil die drei Aussies von The Chats in einem Song. Das nimmt man ihnen während des Auftritts einfach mal ab, zumindest wenn man auf rotzigen Garage-Punk steht. Mit ihrem DIY-Video „Smoko“ wurden nicht nur ihre Frisuren zum Hit, die 1-2-3 Beats der lauten Gitarren aus Sunshine Coast rocken die Laube.

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Endentspannung

Das MS Dockville ist natürlich nicht das einzige Festival in Deutschland, das seinen Besuchern neben einem tollen Line-up eine kunstvolle und kreative Spielwiese anbietet. Und trotzdem spürt man auf dem Hamburger Gelände einen ganz eigenen und unaufgeregten Charme, der zum einen durch die herrlich direkte norddeutsche Art, aber auch die Nähe zum vorausgehenden MS Artville verströmt wird. Und wer nicht campen mag, kann sich durch die citynahe Lage auch eine Unterkunft in Hamburg gönnen. Auf dass es ab 2022 mindestens noch zehn weitere Jahre mit dir auf Kurs geht, du großartiges MS Dockville!

Oder um es mit den Worten des Italo-Pop Barden Roberto Biancos zu sagen: Salute, alles Gute!

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