Die Rückkehr der Gitarre


Das Pendel schlägt zurück. Die Synthis werden eingemottet, die Gitarren wieder auf Hochglanz poliert. Überall schießen junge Bands aus dem Boden, bei denen die Fender oder Gibson den Ton angibt. Was mit dem irischen Quartett U 2 noch zaghaft begann, kristallisiert sich mittlerweile als Trend heraus: Gruppen wie Big Country, The Smiths, The Alarm oder Europeans kehren dem Techno-Pop radikal den Rücken zu. Und seibst klassische Synthi-Bands wie Human League oder Depeche Mode haben die Zeichen der Zeit erkannt und greifen wieder auf die sechs Saiten zurück. Eine kurzlebige Mode? Oder doch eine Entwicklung, die den Rock der kommenden Jahre prägen wird? Steve Lake ging der Frage nach.

„Der Synthesizer hat es fast geschafft, die Popmusik zu massakrieren. Es gibt keinen anderen Verantwortlichen. Der Synthi sollte symbolisch verbrannt werden.“

Moirissey (The Smiths)

Leute, es herrscht Krieg. Man kann es schon an den Namen der neuen Gitarren-Bands ablesen: The Alarm! The Opposition!!! Red Guitars!!! Das ist der Gegenschlag, der kommen mußte. Und der Sieg ist fast schon in Sicht.

Zufällig in letzter Zeit Fotos von Orchestral Manoeuvres In The Dark gesehen? Richtig, sie präsentieren sich jetzt mit Gitarren. John Foxx spielt auf seiner jüngsten LP vorwiegend Gitarre; Martin Gore von Depeche Mode greift auf der Bühne inzwischen mehrfach in die Saiten. Sogar von den Human League heißt es, daß sie künftig wieder Gitarren bevorzugen. Das letzte Stündlein des Techno-Pop hat scheinbar geschlagen; die Synthi-Freaks stehen mit dem Rücken zur Wand.

Warum das passieren mußte? Nun, zunächst einmal ist so ein Synthesizer ein extrem langweiliger Anblick. Ein phantasieloses Stück Büro-Equipment. Du kannst als Musiker deinen Haarschnitt ändern, Make-up tragen, Klunker ins Ohr hängen … hilft alles nichts. Wer Synthesizer spielt, sieht aus wie eine Schreibkraft. Oder gar wie ein Journalist.

Eine Gitarre ist dagegen einfach schön. Sie hat die Formen einer Frau und reagiert auf Berührung. Nicht zwei Leute spielen sie auf dieselbe Art und Weise.

Mit einer Gitarre kannst du dich bewegen, mit einem Synthi bist du an deinen Platz gefesselt. Es ist der Unterschied, frei zu sein – oder Sklave der Maschine. Der Synthesizer beherrscht dich, die Gitarre befreit dich. Und so weiter. (Hmmm, vielleicht kann die Firma Fender mich als Werbetexter brauchen?) Trotzdem trifft die Hauptschuld am Niedergang des Techno-Pop letztlich die Musiker. Nur selten hatten sie ihre Instrumente wirklich im Griff: da gab’s immer zu viele Programmierer, zu viele Produzenten, die ihre Finger im Spiel hatten. Und zu viele Tonbänder. Keine Spontaneität.

Wogegen bei der Gitarre selbst Fehler und Pannen noch Spaß machen. Feedback ist oft sogar ein gerngesehener Gast. Und wenn du – verdammt noch mal – nun wirklich nicht musikalisch bist, kannst du immer noch Karriere machen, indem du das Ding einfach in Stücke haust.

Die Technik ist immer ein wichtiger Faktor bei den Keyboards: Man hat die ganze Tradition der klassischen Musik im Nacken. Die Gitarre ist frei von all dem, ist letztlich immer noch ein folkloristisches Instrument. Sie fordert weniger und bietet mehr.

Lou Reed hat das einmal recht treffend formuliert: „Schon vor vielen Jahren war mir klar, daß ich für das, was ich machen wollte, eigentlich nicht mehr als einen Gitarrenakkord brauchte; der Abwechslung halber wären zwei oder drei vielleicht ganz nett. Ich hab‘ immer diese ganz simplen Rock n‘ Roll-Harmonien gemocht. Nichts – weder in der Oper, der klassischen Musik, im Jazz oder im Schlager hat mich so beeindruckt wie der primitivste Rock n‘ Roll-Wechsel. Etwas Ähnliches habe ich einmal zu Steve Hillage gesagt, als der gerade im Begriff war, seine Stratocaster zugunsten diverser Moogs, Rolands, Arps, Prophets und Korgs an den Nagel zu hängen. „Sei kein Trottel“, meinte er, „du kannst den Synthesizer nicht weg-erfinden. Die Technologie ist längst Bestandteil des täglichen Lebens. Du lebst in der Vergangenheit, wenn du versuchst, sie zu ignorieren. Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen.“

Ist es das, was die neuen Gitarren-Gruppen tun? Versuchen sie, die Zeit zurückzudrehen in die Ära des sogenannten Gitarren-Heroen? Ich glaube nicht. Es ist wohl eher der Versuch, die Geschichte des Rocks und der Gitarre im besonderen nach langer Irrfahrt wieder aufs rechte Gleis zu bringen.

Die unglückliche Entwicklung begann wohl mit dem Auftauchen von Eric Clapton und Jimi Hendrix. Beide wurden weit über ihren – sicherlich vorhandenen – musikalischen Fähigkeiten eingestuft, geradezu vergöttert – und leiteten so das Zeitalter der Pseudo-Virtuosen ein: eine endlose Reihe selbstgefälliger Langweiler, von denen Alvin Lee wahrscheinlich der lächerlichste – und Stevie Ray Vaughn einfach der letzte war.

Einer der wenigen Solisten an der Rock-Gitarre, über den es sich zu reden lohnt, ist Zappa – und der hat letztes Jahr erklärt, daß er das Instrument bald aufgeben wird, nachdem er damit alles erreicht hat, was er im Rahmen seines Stils machen kann. Ich glaube, der Gitarren-Held gehört – ebenso wie der Kriegs-Held – der Vergangenheit an.

Bevor der reine Speed zum König gekrönt wurde, benutzten ein paar Bands die Gitarren ganz anders. Man denke beispielsweise an die Velvet Underground oder an MC5. Beide schöpften aus Quellen jenseits der Blues-Harmonien. Die MC5 wollten einen Weg finden, den Free Jazz von John Coltrane und Pharoah Sanders in Rockmusik umzusetzen; die Velvets wandten die Lektionen in Minimalismus an, die John Cale beim Komponisten La Monte Young erhalten hatte. In beiden Bands lag die Betonung eher auf der Gruppe als Ganzem als auf solistischem Können.

Ums kurz zu machen: Das ist der Punkt, an dem wir heute wieder sind. Über der neuen Gitarren-Musik schweben die Geister der Velvets und der MC5.

Tom Verlaines Band Television spielte dabei eine Übergangsrolle; die langen Gitarren-Jams von Verlaine und Richard Lloyd hatten eine eisige Eleganz, die angehenden Musikern die Möglichkeiten zeigte, die es jenseits von Blues-Rock und Techno-Rock noch gab.

Television wird von der ersten Garde der neuen Gitarren-Musik als wichtiger Einfluß genannt. Vor allem drei Gruppen haben sich in dieser Richtung profiliert und auch schon etabliert: Big Country, L/2 und Echo And The Bunnymen.

U2’s The Edge, den seine Freunde unter dem prosaischeren Namen Dave Evans kennen, spielt sonderbare, spinnwebartige Läufe, genial einfach, aber unfehlbar treffend. „Ich weiß beim besten Willen nicht, wie er das macht“, meint Pete Townshend dazu. Und obwohl seine Gruppe mit dem Aufstieg zur Prominenz bombastischer wurde, verzichtet er persönlich auf jedes demonstrative Schwelgen. Seine Gitarre ist nur dazu da, den Sound der Gruppe zu formen.

In den 70ern, vor dem Punk, war das Gegenteil der Fall: Die Gruppe war überhaupt nur dazu da, die Gitarre zu stützen. Man höre diesbezüglich zum Beispiel die Alben von Neil Young: eine armselige, klapprige Rhythmusgruppe, die etwa bei „Hurricane“ oder „Cowgirl In The Sand“ notdürftig den Beat hält, während Neil völlig abgehoben in den Äther steigt.

Wenn man den Unterschied begriffen hat, gibt es kaum noch etwas, das man über die neueste Welle wissen muß. Der Gitarrist gehört wieder zur Gruppe und bringt die verschiedensten Einflüsse ein. Stuart Adamson von Big Country etwa läßt seine Gitarre wie Dudelsäcke heulen. Er dreht durch, wenn Journalisten ihn ständig fragen, wie er das macht.

Will Sargeant von den Bunnymen ist zweifellos ein wichtiger Teil der musikalischen Intelligenz der Gruppe, die sich auf dem PORCUPINE-Album an nichtwestlicher, modaler Musik versucht hat. Es war Sargeant, der den Kontakt zu dem indischen Violinisten Lakshminarayana Shankar herstellte, um sich von ihm die Streicher-Arrangements für das Album schreiben zu lassen. Sein eigenes Spiel hat dabei einiges von der ornamentalen Gewundenheit der Vinar- und Sitar-Linien

übernommen. Nichtsdestotrotz fügen sich seine Parts organisch in die Songs.

Noch ein paar andere Namen: The Smiths kommen aus Manchester. Laut Melody Maker-Herausgeber Allan Jones „muß man für Musik, die so knapp und eindringlich, so leidenschaftlich artikuliert und unheimlich schön ist wie die meisten packenden Passagen auf ihrer Debütplatte, bis zur emotionellen Lyrik auf dem dritten Album der Velvet Underground zurückgehen“.

Die Smiths konnten in der englischen Presse endlose Seiten mit den Intimitäten über Sänger Morrisseys Privatleben füllen (Sex lehnt er vehement ab, dafür bekennt er sich zu einer umfassenderen Liebe zur Menschheit). Was einen beim Hören ihrer Musik aber wirklich packt, ist der Drive von Johnny Marrs Gitarre. Sie gibt den Songs den Druck und verhindert, daß die Gruppe allzu literarisch klingt, denn Morrissey erinnert gelegentlich an Songwriter Phil Ochs in seinen barocken Momenten.

Daß in letzter Zeit fast jeder die Smiths bejubelt, schreit natürlich geradezu nach einem schnellen Gegenschlag; und Green, der Star bei Scritti Politti (keine Gitarren-Gruppe), hat schon den ersten Stein geworfen: „Ich finde, sie repräsentieren die geschniegelte, weiße Mittelklassen-Rock-Orthodoxie. Ihre Musik läßt die schwarze Musik links liegen und klingt im Grunde wie alte Patti Smithoder Television-Platten.“

The Chameleons kommen ebenfalls aus Manchester und sind reichlich düster in ihren Vorlieben. („Wenn du in Manchester leben würdest, wärst du auch düster“, meint Sänger/Bassist Mark Burgess.) Nur zu wahr: Seit Ian Curtis Joy Divisions Elend in klingende Münze verwandelte, sind Depression und Manchester austauschbare Begriffe.

Die Chameleons verehren Velvet Underground als Götter – und die Gitarristen Reg Smithies und Dave Fielding schlagen voll in die Kerbe von „Sister Ray“. Dummerweise haben sie nicht die Intelligenz und den Verstand eines Lou Reed oder Sterling Morrison – aber auf der anderen Seite sind sie noch sehr jung und spielen meist für ein Publikum, das gerade das Licht der Welt erblickte, als sich die Velvets auflösten.

The Alarm kommen aus Wales, haben eine merkwürdige Vorliebe für Cowboy-Klamotten und ungeheure Mähnen und widersprechen steif und fest der Behauptung, daß es überhaupt einen neuen Trend im Rock gäbe: „Es ist traurig. Mit all der Musik, die gegenwärtig gemacht wird, leben wir in einer wirklich produktiven Zeit, einer unglaublich kreativen Zeit. Es gibt so viele verschiedene Bands, die alle zur selben Zeit groß werden. Aber die Leute, die das eine Bewegung, eine Mode oder einen Trend nennen, werden alles kaputtmachen.“

Wir sind gewarnt, wollen aber dennoch versuchen, die Eigenschaften festzuhalten, die Alarm von ihren Zeitgenossen unterscheiden. Soviel ist sicher: Eine Besonderheit ist Dylans Folk Rock-Einfluß und die Bereitschaft, akustische Gitarren ebenso zu verwenden wie elektrische. Sie sind „politisch“ auf vage Art und singen Songs mit Slogans, die ganz gut auf eine 1970er Jefferson Airplane-LP gepaßt hätten: „We have got to get together… and well go marching on.“

Dave Sharp und Mike Peters entfesseln den zum Tenor der Worte passenden Gitarren-Sturm – und kein Zweifel: The Alarm werden ganz groß rauskommen; ihr Debüt-Album DECLARATION stand bereits an der Spitze der britischen Charts. Bourgie Bourgie entstanden in Glasgow aus den Resten einer Band namens The Jazzateers, deren LP so klingt wie richtig geraten – die guten alten Velvet Underground, Ian Burgoyne spielt eine fette, volltönende Rhythmusgitarre und Michael Slaven eine Lead-Gitarre, die sich eng an Sänger Paul Quinns Stimme hält. Quinn: Ilan ist wie John Fogerty und Michael wie Tom Verlaine zwei der besten.“

Und Bassist Keith Band: „Wenn wir Synthesizer brauchten, würden wir sie benutzen. Aber Synthis sind bloß Hilfsmittel für Leute, die nicht Gitarre spielen können. Die Gitarre ist die Verlängerung deiner Persönlichkeit.“

Die Red Guitars sind eine Band aus Hüll, haben eine Handvoll Singles aufgenommen und ganz ansehnlich in den Independent-Charts plaziert. Sie gelten als sicherer Erfolgs-Tip für ’84. Zwei Gitarristen, John Rowley und Hallam Lewis, sorgen für den Hauptteil ihres Materials, das von ironischen „Protest“-Songs bis zu Stücken reicht, die die komplexen Rhythmen afrikanischer Tanzmusik benutzen. Vielleicht tun sie für die afrikanische Musik dasselbe, was Police für den Reggae getan haben: Sie motzen sie auf und verkaufen sie dem weißen Massenpublikum, das sich von den Stammesgesängen eines – sagen wir – Chief Ebenezer Obey nie hätte mitreißen lassen.

The Opposition aus London haben zwar einen Keyboardspielenden Bassisten, aber die Gitarre von Mark Long ist so deutlich U2-beeinflußt, daß sie in diese Auflistung mit aufgenommen werden müssen.

Hab‘ ich irgendwen Wichtigen vergessen? Gut, da sind noch Aztec Camera, die schottische Gruppe von Roddy Frame, Elvis Costellos Lieblings-Songwriter. Frame, gerade dem Teen-Alter entwachsen, gehört zweifellos zur alten Schule. Ein altmodischer Solist, der sich noch nicht entscheiden kann, ob er Neil Young oder Mark Knopfler sein will.

Bemerkenswert ist. daß alle Obengenannten – mit Ausnahme der Dubliner U2 – britische Bands sind. Wenn sich das hier wie nationalistische Propaganda liest, entschuldige ich mich und beteuere, daß kein Patriot am Werk ist (ich würde nur zu gern den Stöpsel rausziehen und das Vereinigte Königreich im Meer versinken lassen). Seltsam, daß Amerika, wo die Gitarre zu Hause ist, die britischen Acts zwar an seinen Busen drückt, ohne aber mit vergleichbaren eigenen Gruppen aufwarten zu können.

Die letzten amerikanischen Gitarren-Bands, die mir gefallen haben, waren Tom Petty And The Heartbreakers (haben sich aufgelöst) und der Gun Club (verbrauchen sich schnell) beides Acts, die sich der Rock-Tradition verpflichtet fühlten und sie wieder aufleben ließen. Vielleicht ist diese Tradition für den amerikanischen Gitarristen zu allgegenwärtig, als daß er sich ihr entziehen könnte – während die neue Marschrichtung vieler britischer Bands ihren Ursprung zumindest teilweise in antiamerikanischen Gefühlen hat. Ronald Reagans Außenpolitik hat wahrscheinlich einiges dazu beigetragen.

Natürlich ist jede gitarrenbetonte Rockmusik bis zu einem gewissen Grad amerikanisiert; trotzdem ist es interessant, daß sich die neuen Bands ihren Anstoß bei den unpatriotischsten US-Gruppen holen, bei den Velvets und MC5…

An dieser Stelle sollte man gerechterweise hinzufügen, daß es auch Musiker gibt, die irgendwelche Veränderungen im Pop-Panorama überhaupt nicht sehen. Hier ist Andy Fletcher von Depeche Mode: „Die Presse hat plötzlich angefangen, die Gitarre wiederzuentdecken und macht einen mörderischen Wirbel. Als ob du ein großer Erneuerer wärst, wenn du jetzt eine spielst! Die ganze Sache entspricht der Phantasie der Journalisten. 99 Prozent aller Bands haben nie was anderes gemacht, als Gitarre zu spielen. Wir waren bloß eine kleine Minderheit, die aus der Reihe tanzte und anfing, Synthis zu benutzen …“

Das letzte Wort? Bestimmt nicht…