Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre
Kaum ein Jahrzehnt ist breiter aufgestellt als die 70er-Jahre. Punk & Funk. Weltmusik & Avantgarde. Disco & kristallklarer Pop. Und: Kaum ein Jahrzehnt ist besser ausgeleuchtet – oder? Irrtum! Wir haben 50 Schätze jenseits des etablierten Kanons gehoben.
Lee Hazlewood
A HOUSE SAFE FOR TIGERS
(1975)
Der Cowboy war schon einige Jahre zuvor nach Schweden geflüchtet. Vor den Steuern, vor allem aber vor der U.S. Army, die seinen Sohn einziehen wollte. Von den dort aufgenommenen Platten ist A HOUSE SAFE FOR TIGERS die interessanteste. Lange Zeit war sie vergriffen, erst vor drei Jahren wurde sie wieder aufgelegt. Wir hören lässige Lebensweisheiten, zum Teil in mehrfacher Ausführung. Abgehangener Weisheits-Rock, entstanden gemeinsam mit Freund und Regisseur Torbjörn Axelman. Der Titeltrack ist einer der fünf besten Songs aus Hazlewoods Feder.
Jochen Overbeck
Jonathan Richman & The Modern Lovers
JONATHAN RICHMAN & THE MODERN LOVERS
(1975)
Falls Sie einmal in die Verlegenheit kommen müssen, einem Außerirdischen zu erklären, wie abseitig Popmusik sein kann, legen Sie einfach diese Platte auf und spielen den ersten Track vor. In „Rockin’ Shopping Center“ erklärt Jonathan Richman zu polterndem Rock’n’Roll die Unterschiede im Warenbestand von Einkaufszentren in verschiedenen Teilen der USA. Auch sonst zerstört er auf diesem Album freudvoll alle Konventionen: Wo er kurz zuvor mit „Roadrunner“ noch den Punk (mit)erfand, spielt er hier extrem verschlankten Rock’n’Roll, an dem vor allem die Attitüde interessant ist: Richman singt schon auch mal über eine Stechmücke. Alle Nerds von den Violent Femmes bis hin zu Weezer haben hier gelernt, wie man Geekyness passgenau zelebriert. Entgegen der Geschichtsschreibung betrachtet Richman selbst nicht THE MODERN LOVERS, sondern dieses Album als sein Debüt.
Jochen Overbeck
Milk ’n’ Cookies
MILK ’N’ COOKIES
(1975)
Noch eine Band aus New York, die Glam-Rock beim Umzug von den Varieté-Theatern in die Punk-Keller half: Trotz Justin Strauss’ zärtlichen Prä-Pubertäts-Gesangs und der „Teenager In Love“-Lyrics ihrer in der Rock’n’Roll-High-School angesiedelten Power-Pop-Songs wittert man hier schon den Lederjacken-Muff der Ramones. Nicht zu fassen, dass ihre extrem eingängigen Stücke damals untergingen und The Knack bald darauf an den Verkaufsrekorden der Beatles kratzten. Ebenso unglaublich, dass das Quartett so viel exzellentes Material beisammen hatte, um den Wirbler „Tinkertoy Tomorrow“ nicht auf ihr einziges Album zu lassen.
Stephan Rehm
Labi Siffre
REMEMBER MY SONG
(1975)
Der Sohn einer Engländerin und eines nigerianischen Vaters hatte sich in seiner Heimat mit vier Alben einen Namen gemacht als Barde fühliger Popfolksongs. Manches war gut, manches war banal. Auf REMEMBER MY SONG, seiner ersten Veröffentlichung für EMI, wich Labi Siffre von seinem Erfolgsrezept ab und versuchte sich an dynamischeren Songs mit prickelnden Funkrhythmen. Und landete einen Flop. Erst die Acid-Jazz-Szene entdeckte die Qualitäten von Liedern wie „I Got The“ und „The Vulture“. Weltruhm erlangte Siffre allerdings erst, als Dr. Dre „I Got The“ unvergesslich für Eminems Durchbruchsong „My Name Is“ sampelte.
Chris Weiß
Cortex
TROUPEAU BLEU
(1975)
Auf dem Cover der dritten Cortex-LP POURQUOI sieht man erstmals ein Bild der Masterminds Alain Milon und Alain Gandolfi: Mit schütterem Haupthaar und Vollbart sehen sie aus wie Erdkundelehrer, die gerne Steely Dan wären. Was auch auf den in Rare-Groove-Kreisen geschätzten Jazzfunk der französischen Band zutrifft, deren Ruhm sich vornehmlich auf das erste Album von 1975 begründet, auf dem Cortex ähnlich wie die vergleichbare belgische Formation Placebo wegweisende Pionierarbeit für den French House der 90er-Jahre leisten. „L’Enfant Samba“, „Mary Et Jeff“ und der Titelsong klingen taufrisch und betörend wie eh und je.
Chris Weiß
Southside Movement
MOVING SOUTH
(1975)
Komisch, dass diese Band aus Chicago, die Mitte der 70er deftige Funkmusik so irrsinnig gut beherrschte, in Vergessenheit geraten ist. Ins Gedächtnis der jüngeren Generationen brannten sie sich aber wegen „I’ve Been Watching You“, das später als Sample in unzähligen HipHop-Produktionen (Beastie Boys, Ghostface Killah, Erykah Badu,) auftauchte. Der große Hit der Gruppe stammt schon aus dem Jahr 1973, ist aber hier in einem unübertroffen knackigen Remake zu hören. Überhaupt klingen die so geschmeidigen wie krachenden Nummern ihres dritten und letzten Albums oft cooler als bei Kool & The Gang.
Annett Scheffel
Jorge Ben
ÁFRICA BRASIL
(1976)
Die Black Eyed Peas sampelten ihn, Ella Fitzgerald coverte ihn, Barack Obama zitierte ihn: Jorge Ben ist brasilianisches Nationalheiligtum. Auf seinem 1976er-Album führt er Samba mit afrikanischen Rhythmen und bluesbasiertem Rock zusammen. Das Ergebnis hat so viel funky Feuer im Arsch, dass man unmöglich ruhig sitzen bleiben kann. Mit der neuen Version seines 1972er-Songs „Taj Mahal“ zeigt er, dass er die Zeichen der Zeit verstanden hat und baut Disco-Elemente ein. Rod Stewart bediente sich an dem Stück, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, und baute darauf wiederum seinen Disco-Hit „Da Ya Think I’m Sexy?“ auf.
Stephan Rehm
Michael Hurley, The Unholy
Modal Rounders, Jeffrey
Fredericks & The Clamtones
HAVE MOICY!
(1976)
Wenn Mitte der 70er etwas mausetot ist, dann ist das Folk. Solcher mit Banjo, Fidel, Mandolinen, Waschbrett und elektrischen Gitarren, die dem Blues ausgelassen auf der Nase herum tanzen. 1976 erscheint ein Album, dem ist das jedoch so wunderbar egal, dass man es umarmen möchte. Es musizieren die in den 60s als ziemlich freaky verschrienen Holy Modal Rounders aus der Lower Eastside mit einschlägigen Gästen. Die Stimmung scheint so überzuschäumen, dass man sogar die genauen Credits fürs Backcover vergisst. Übermütige, gar alberne Texte haben sie zudem („What Made My Hamburger Disappear“). Erst nach drei, vier Durchläufen erkennt man, dass nur ein bunch of ausgebuffter Vollprofis so viel Luft und Lockerheit in eine Musik lassen kann, die von Klischees längst umstellt zu sein scheint.
Oliver Götz
Prince Far I
UNDER HEAVY MANNERS
(1976)
Michael James Williams, Ex-Security-Mann des Studio One Soundsystems, war auch als Reggae-DJ ein Spielverderber vor dem Herrn. Der Titel seines Debüts PSALMS FOR I sagt schon alles. Die Bibel als Schild, toastete, oder besser: predigte er auch auf einem zweiten Album mit seiner froschartigen Stimme gegen Sünde, Korruption, fehlende Manieren, undankbare Frauen (das alte Klischee vom betrogenen Alphatier) an. Diese Unerschütterlichkeit über klassische Riddims in einer mächtigen, feist verdubbten Produktion der „Mighty Two“, Joe Gibbs und Errol Thompson, macht den Reiz dieses eigenwilligen Werks aus.
Oliver Götz
Dwight Twilley Band
SINCERELY
(1976)
Es gab eine kurze Episode in der Popgeschichte, als Glamrock und Power Pop Händchen hielten. The Cars gründeten sich in dieser Zeitspanne, der Amerikaner Dwight Twilley legte zusammen mit seinem Kollegen Phil Seymour schon zwei Jahre zuvor dieses Album vor. Im Partykeller lief die Single „I’m On Fire“, niemand bekam mit, dass hinter dem Hit auf SINCERELY eine Reihe weiterer vorzüglicher Songs wartete. Allen voran „I’m Losing You“, ein psychedelischer Balladentraum mit Kopfstimme, Roy-Orbison-Twang und in Drogensound getränkt. Wayne Coyne ist großer Fan.
André Boße