Die Augenzeugen


Zuhause Bei Morrissey

London-Korrespondent Hanspeter Künzler schreibt seit den späten 50ern für den ME. Der dienstälteste Autor plaudert aus dem Nähkästchen.

Wer war dein erster Interviewpartner?

Das war Militant Barry, ein Reggaemusiker. Er hatte einen Auftritt beim Notting Hill Carnival. Ich bin einfach hinter die Bühne gegangen und habe ihm gewinkt. Er kam zu mir, und wir haben über den Gartenzaun einen Interviewtermin vereinbart.

Gab es früher eine größere Nähe zwischen Musikern und Journalisten?

Vieles war einfacher in den 80ern. Man ist auch in der Freizeit mit den Leuten von der

Plattentirma essen gegangen,

zu Konzerten, und hat da Künstler kennengelernt. Am schlimmsten war es in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Dahatte man es plötzlich mit Leuten zu tun, die auch baked beans hätten verkaufen können. Vielen Künstlern stinkt diese Situation. Heute habe ich zum Beispiel noch ein Interview mit Michael J. Sheehy. Ich habe übers Internet Kontakt mit ihm aufgenommen.

Aber es gibt auch heute noch abenteuerliche Situationen. Dein Interview mit Pete Doherty für den ME etwa.

(lacht) Das war völlig absurd. Die Hälfte der Sachen, die damals passiert sind, habe ich in der Story gar nicht bringen können. Das war die Zeit, in der Doherty gerne mit Blut um sich gespritzt hat. Es war 12 Uhr mittags, Doherty hatte schwarze Fingernägel und erzählte, sein Motorrad sei kaputt und er habe es an der Rezeption vorbei in sein Hotelzimmer geschmuggelt, um es zu reparieren. Er wollte mir das Motorrad zeigen, aber seine Plattenfirma hat es ihm verboten, (lacht) Doherty hat ganz leise gesprochen, fast geflüstert, ist immer wieder eingeschlafen. Es war nach dem

Konzert im Astoria, bei dem

er nicht aufgetaucht ist und die Fans die Bühne gestürmt haben. Ich habe ihn gefragt, warum er nicht aufgetreten ist, und er antwortete, es gebe Dinge, über die man nicht reden könne. Was würden denn die Fans sagen, wenn sie erführen, dass er drei Tage lang an einen Heizkörper gefesselt war, dass er eine Platzwunde am Kopf hatte, weil ihn der Typ, der ihn gefesselt hat, verprügelt hat und er dann von seiner Schwester befreit wurde?

Was war für dich der Höhe- punkt deiner Karriere?

Ohne jeden Zweifel: Mornssey. Das war zum Smiths-Album THK Ql’EEN IS Dl-AD. Da wurden Journalisten aus ganz Europa eingeflogen, die sollten um 14 Uhr am Hotel „Swiss Cottage“ sein. Ich kam etwa zehn Minuten vorher an. Von den anderen war keiner da, weil ihr Bus im Stau steckte. Morrissey war Punkt 14 Uhr da und ist exakt zwei Minuten später wieder gegangen. Erlasse sich eine derartige Respektlosigkeit nicht gefallen. 14.10 Uhr kamen die Journalisten mit dem Bus an und mussten wieder nach Hause fahren. Weil ich der Einzige war, der rechtzeitig da war, bekam ich ein Interview. Ein paar Tage später durfte ich zu ihm nach Hause. Wir haben uns total gestritten, ich wusste genau, dass er mich provoziert, daraus ist dann eine Diskussion entstanden, die mir die Augen geöffnet und den Horizont erweitert hat. Ich habe gemerkt, wieso Morrissey bei Interviews häufig schlecht wegkommt. Was er zwischen den Zeilen sagt, bleibt auf der Strecke, und das was er sagt, ist so beladen mit Ironie und Sarkasmus, dass man dabeigewesen sein muss, um es zu verstehen.

Wie beurteilst du die Entwicklung des ME in den vergangenen drei Jahrzehnten?

Für mich persönlich schlägt der MUSIKEXPRESS der vergangenen zwei, drei Jahre eine Verbindung zur Sounds, die ich in den 70er Jahren gelesen habe. Wenn ich jetzt in Deutschland oder der Schweiz lebte, würde ich den ME kaufen. Aber zwischendurch gab es schon extrem frustrierende Zeiten.