Die 50 besten Platten des Jahres 2012


Die 50 besten Platten des Jahres 2012

50

Get Well Soon

The Scarlet Beast O‘ Seven Heads

City Slang/Universal

Freunde des Maya-Kalenders feiern 2012 statt Weihnachten den Weltuntergang. Konstantin Gropper singt das Lied dazu, er nennt es „Let Me Check My Mayan Calendar“. Humor hatte ihm bislang niemand zugetraut. Durch ihn war Biberach zum Außenposten weinerlicher britischer Musik geworden. Wer er wirklich ist und was er kann, zeigt Groppers viertes Album: Für einen erlesenen Sound würde er jeden Song verkaufen. Er weiß, wie man seifige Gebrauchsmusik in Kunst verwandelt. Und seine gescheitelten Gesänge sind ein großartiger Witz. Er meint das alles gar nicht so, er will nur spielen. Michael Pilz

49

Bob Dylan

Tempest

Columbia/Sony Music

Genau genommen hat Bob Dylan nichts erfunden außer seiner eigenen Legende. Tempest ist der angemessene und längst fällige Dank an seine Quellen. „Early Roman Kings“ verneigt sich tief vor Muddy Waters, „Duquesne Whistle“ vor Hank Williams und der Titelsong vor seiner wichtigsten Inspiration, dem amerikanischen Geschichtsbuch: Eine Viertelstunde lang lässt er im Walzer die Titanic sinken. „Roll On, John“ würdigt sogar John Lennon, den Bob Dylan zu dessen Lebzeiten behandelt hat wie seinen Schüler. Tempest ist Ein aufrichtiges Album voller großherziger Gesten. Michael Pilz

48

Beak>

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Invada/Cargo

Das mit der nächsten Portishead-Platte kann dauern. Solange lässt sich ein Nebenprojekt wie Beak

47

Aimee Mann

Charmer

V2 Benelux/Soulfood

Als 2011 die damals 51-Jährige als Reinemachefrau in der mit Popbezügen um sich schleudernden amerikanischen TV-Satireshow „Portlandia“ auftrat, ging man davon aus, dass das der definitive Popmoment in der Karriere der Singer/Songwriterin ist. Dann kam 2012 und Aimee Manns achtes Studioalbum. Hier arbeitet sie zwar weiterhin mit ihrer Formel aus süßen Melodien und bitteren Texten, aber der Pretenders-, Blondie-artige Perfekt-Pop von Charmer wirkt, als hätte Aimee Mann mit dieser Rechnung in ihrem bisherigen Schaffen nur Werte erzielt, die sich Pop annähern. Stephan Rehm

46

Japandroids

Celebration Rock

Polyvinyl/Cargo

Kampf um die Noise-Rock-Krone: Im Abstand von nur einer Woche veröffentlichten Future Of The Left und das kanadische Duo Japandroids neue Alben. Der Sieger schien festzustehen, als FOTL ihre Tracklist veröffentlichten – was hätte bei einem Songtitel wie „RoboCop 4 – Fuck Off RoboCop“ noch schiefgehen können? Und doch kam alles anders: Während sich Andy Falkous erstaunlich erfolglos auf mehrere Pfade aus seiner zunehmenden Ideenlosigkeit begab, nahmen Japandroids den direkten Weg auf den Punkt. Dort blieben sie eine halbe Stunde lang. Dann war alles gesagt/geschrien und die Platte vorbei. Stephan Rehm

45

Purity Ring

Shrines

4AD/Beggars/Indigo

Und irgendwann löst sich dann alles auf, und jeder ist zufrieden. Wer das Debütalbum des kanadischen Duos in eine der Schubladen Synthpop, Chillwave, (Post-)Dubstep oder Indietronics gesteckt hat, lag in keinem Fall falsch. Corin Roddicks sphärische Soundscapes und seine schleppenden, stolpernden HipHop-nahen Beats bilden auf Shrines einen reizvollen Kontrast zu Megan James, die mit ihrer Micky-Maus-Stimme rätselhafte Texte darbietet. Die Sängerin bringt eine gewisse Poppigkeit in die Musik von Purity Ring, sodass auch die Elektronik-Skeptiker nicht meckern können. Albert Koch

44

Poliça

Give You the Ghost

Memphis Industries/Indigo

Man weiß nicht genau, wie es hieß. Dream Pop, Hauntology oder Hypnagogic Pop. Sicher ist nur: Es war der Sound des Jahres 2012. Und PoliÇa hatten die abgeklärteste, ruhigste, vielleicht sogar schönste Idee davon. Die Gitarren klingen kraftvoll, aber sphärisch. Der Gesang eindringlich und doch geisterhaft. Die Beats diesseitig und zugleich aus dem tiefen Tal zwischen Wachen und Schlafen. Und die Melancholie mutet eher modisch als verzweifelt an. Da waren sich alle einig: Jay-Z und Bon Iver, die Blogger, die Kritiker und sogar das Publikum. So schön – und doch von dieser Welt. Thomas Winkler

43

Dinosaur Jr.

I Bet On Sky

Jagjaguwar/PIAS/Rough Trade

Nach bald 30 Jahren ist der Bandname ein Witz, J Mascis sitzt als silberhaariger Senior auf seinem Gitarrenschemel, aber Mascis, Lou Barlow und Murph folgen unbeirrt ihrer historischen Mission: Die wahre Schönheit eines Songs entfaltet sich erst im Radau. „Ear-bleeding Country“ war das Ziel, dem sich die miteinander wieder ausgesöhnten Musiker, laut Mascis, stellten. Auf I Bet On Sky erfüllen sie es vorbildlich. Sie spielen sogar Funk und Folk zum Ohrenbluten. Sie singen auf ihrem Alterswerk ein schwindsüchtiges Lied über Vampire, weil die Jugend heute Untote für Helden hält. Kein Witz. Michael Pilz

42

Michael Mayer

Mantasy

Kompakt

Kann gut sein, dass der Anspruch der Homogenität an ein Album nur ein Mythos ist. Mantasy jedenfalls, das zweite Artist-Album des Produzenten, DJs und Kompakt-Labelchefs Michael Mayer, speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen elektronischer Musik – Ambient bis Disco-House – bietet aber das perfekte Hörvergnügen auf die lange Strecke. Aus Michael Mayers Musik hallt das Echo von Tangerine Dream, Jan Hammer, Giorgio Moroder, Patrick Cowley und WhoMadeWho – huch, das ist ja tatsächlich Jeppe Kjellberg, der dem kleinen House-Pop-Wunder-Hit „Good Times“ seine Stimme leiht. Albert Koch

41

Stealing Sheep

Into The Diamond Sun

Heavenly/Coop/Universal

Vielleicht musste erst der Hype um den Weird Folk vergehen, damit die Musik dieses Trios aus Liverpool umso heller leuchtet. Wie Becky Hawley, Emily Lansley und Lucy Mercer auf ihrem LP-Debüt traditionellen Brit-Folk, circa Ende der 60er-Jahre, mit dezenten Psychedelisierungen, sanften Drones und postmodernistischen elektronischen Schleiern versehen, ist schon eine Klasse für sich. Der wunderbare dreistimmige Harmoniegesang belegt, dass in der Verpackung aus weich gezeichneter Ambience auch was drin ist, und zwar: Songs – die sich in Tempo-, Arrangement- und Stimmungswechseln gefallen. Albert Koch

40

NAS

Life is Good

Def Jam/Universal

Illmatic ist spätestens seit dem Preis-Dumping der letzten Jahre zu der HipHop-Platte geworden, die jedes Regal bestückt, dessen Besitzer auch nur mit Sprechgesang sympathisiert. Pflichtkäufe von Nas haben sich seitdem rar gemacht, umso beeindruckender das selbstverständliche „Ja“ zu dieser Platte. Nas rappt über sich und seine Tochter, die zerbrochene Ehe mit Kelis und findet sich nicht nur auf hohem Niveau mit seinem Leben ab, er zelebriert es unter Einsatz großartiger Beats („Loco-Motive“) und reflektiert über 20 Jahre Karriere. Er ist, ganz nach dem Hit der Platte, wieder „The Don“. Christopher Hunold

39

Benjamin Gibbard

Former Lives

City Slang/Universal

Wo Death Cab For Cutie zuletzt formal oft gegen die Regeln des Popsongs arbeiteten, hielt es Band-Chef Benjamin Gibbard auf seinem Solodebütalbum dagegen simpel: Former Lives ist eine Liedersammlung, deren Inszenierung auf Doppelbödigkeiten verzichtet und sich stattdessen sehr organisch irgendwo zwischen Twang, Westcoast und Indie-Rock ansiedelt. Klingt null artifiziell, sondern nach Kalifornien, nach Indian-Summer-Nachmittag, den hochgekrempelten Ärmeln Bruce Springsteens, schweren Gedanken und den späten Beatles. Höhepunkt: „Bigger Than Love“ mit Aimee Mann. Jochen Overbeck

38

Beach House

Bloom

Coop/Universal

Den hohen Erwartungen, die die inzwischen zahlreichen Vernarrten an die Band Beach House stellten, konnte diese natürlich nicht gerecht werden. Sie hörten zuerst einmal nur, dass sich Beach House auf Bloom eben wieder wie Beach House anhören. Dass das Duo seinen Sound ordentlich gepimpt hatte und auf der Platte außerdem eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Leben und Tod suchte – egal. Irgendwie hatte man das einfach berauschender in Erinnerung. Bis dann doch die Einsicht kam: Mit einer Beach-House-Platte ist es wie mit dem Verlieben – man darf nicht darauf warten, es muss einfach geschehen. Oliver Götz

37

Yeasayer

Fragrant World

Mute/Good To Go

Das dritte Album dieser verwunschenen Band aus Brooklyn zeigt sie beim Sich-selbst-wieder-Einfangen, -Sortieren, -Domestizieren – nach zwei Platten, auf denen sie ihre Einflüsse, Klänge, Stimmen aufgefächert hatten wie ein Pfau, ein ziemlich psychedelischer Pfau obendrein. Das konzise Ergebnis wird schließlich derart von seinem synthetischen Sound vereinnahmt und strahlt sogar eine gewisse Strenge aus, sodass es tatsächlich am ehesten mit einem Album von Depeche Mode zu vergleichen ist – abgesehen davon, dass kein Mensch der Welt darauf käme, ausgerechnet die als „exotisch“ zu bezeichnen. Oliver Götz

36

Twin Shadow

Confess

4AD/Beggars/Indigo

Von all den guten 80s-Retro-Poppern der vergangenen Jahre – und diese Bezeichnung wurde mit größtmöglichem Respekt vor dem Künstler gewählt – wagt sich George Lewis Jr. auf seinem zweiten Twin-Shadow-Album am weitesten dorthin vor, wo es wehtun kann. Confess hat knackige Rick-Springfield-Rhythmusgitarren, trockene Police-Grooves, einigen Donnerhall und Synthie-Explosionen, deren Herkunft wir vielleicht sogar besser verschweigen. Aber Lewis Jr. trägt seine durch und durch melancholischen und vollkommen ernsten Songs mit so viel Energie und Seele vor, dass man ihm einfach nicht entkommt. Oliver Götz

35

Deichkind

Befehl von ganz unten

Vertigo Berlin/Universal

Ein Album perfekt abgestimmt auf die Liveshows, die das Gesamtkunstwerk Deichkind 2012 in neue Dimensionen ihres konzeptionellen Wahnsinns führen sollten. „Leider geil“, die minimalistische Hymne auf die niederen Instinkte, marschierte voraus. Auch der Rest ist einwandfreie Funktionsmusik: Knarzbässe, Stampfdrums, Synthiewalzen, Alarmgepiepse – tatsächlich steckt hier unerhört aggressives Potenzial in Deichkind. Doch nicht nur die zwischen Tresen-Bullshit, Satire und Surrealismus frei fließenden Texte, vor allem ein ungewohnt melancholisches Stück wie „Der Mond“ setzen Kontrapunkte. Oliver Götz

34

Ben Kweller

Go Fly A Kite

The Noise Company/Rough Trade

Natürlich hatte man vorher eine gewisse Ahnung, wie Go Fly A Kite klingen würde: Typ, Klavier oder Gitarre, Rhythmusgruppe. Leichte Tendenz in die Vergangenheit. Und dann halt diese Alben im Rücken. Da landet man im Wasteland zwischen Randy Newman und Fuzzrock. Aber Kweller ist klug genug, um das Album nicht zu einem Referenz-Schatzkästchen verkommen zu lassen. Süffig in Szene gesetzt und nie überlang, schaffen Stücke wie „Mean To Me“ und „Free“ schnell den Sprung ins Ohr und bleiben dort, vielleicht auch, weil Kweller textlich gewitzter arbeitet als das Gros seiner Kollegen. Jochen Overbeck

33

Gossip

A Joyful Noise

Columbia/Sony Music

Mit ABBA im Sinn haben Beth Ditto und Band unter der Regie von Brian Higgins ihr fünftes Album eingespielt. Der Funk ist raus, es klirrt weniger, alles ist runder. Dabei ist es ein Segen, dass die Melodien erstmals wichtiger sind als die Texte, in denen Ditto zuvor oft den Erwartungsdruck thematisierte, mit Sprachbildern ihre Außenseiterrolle erklärte. Die Gemeinsamkeit mit ABBA? Party-Songs, in denen Fragen nach dem Sinn eines geregelten Alltags und dem Wunsch nach Rausch verhandelt werden. Ein klassisches Adoleszenz-Album und gleichzeitig Hommage an die „Working Class“-Popsongs der Achtziger. Sassan Niasseri

32

Julia Holter

Ekstasis

Domino/Good To Go

Es hat etwas von Subversion, wenn es den Avantgarden gelingt, ihre Musik auf den geringstmöglichen Abstand zum Pop zu bringen. Die Kalifornierin Julia Holter hat das auf ihrem zweiten flächendeckend erhältlichen Album Ekstasis getan. Es fügen sich die ätherischen elektronischen Soundscapes von Holters Debütalbum Tragedy in den Hallräumen zu einer Art Dream-Pop-Songs. Die Komplexität der Kompositionen und der intellektuelle Überbau bleiben von der oberflächlichen Artverwandtschaft zu – Achtung, Paradoxon! – hochaktueller Retro-Musik unberührt. Nenn Julia Holter nicht „Neo Goth“. Albert Koch

31

Here We Go Magic

A Different Ship

Secretely Canadian/Cargo

Beim dritten Album der vom Bandprojekt zur Band gewachsenen musikalischen Unternehmung des US-Ostküsten-Reisenden Luke Tempel half Radiohead-Produzent Nigel Godrich, den Horizont aufzureißen. Der sehr fein ausgearbeitete, federnde, vibrierende, jedoch niemals polternde und dadurch immer ein wenig unscheinbare Pop erhielt dadurch eine große Prägnanz und einen ordentlichen Bumms, sodass man Here We Go Magic einfach nicht mehr überhören konnte. Die gute Platte, die David Byrne, Paul Simon und Brian Eno nie zusammen aufgenommen haben – hier ist sie trotzdem zu hören. Oliver Götz

30

Die Türen

ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ

Staatsakt/Rough Trade

„Pop ist tot, denn böse Menschen kaufen keine Lieder, sie laden nur darnieder“, singt Maurice Summen. Aber im neuen selbstbestimmten Verhalten von Musikkonsumenten steckt auch kreatives Potenzial. Die Berliner erkannten dies und legten ihrem Album ein Stickerset zur freien Gestaltung des Covers bei. Manche Ausgaben der Platte erschienen sogar mit einem Büchlein, in dem kritisiert und ebendieses Kritisieren veralbert wurde. Klingt zu verkopft/ironisch/deutsch? Nein, denn die Musik und der Spaß überragten ihren Überbau jederzeit. Allein in „Pop ist tot“ ist der Pop so lebendig wie lange nicht mehr. Stephan Rehm

29

Kofelgschroa

Kofelgschroa

Trikont/Indigo

Wann war zum letzten Mal eine Band in bayerischer Wirtshausmusikbesetzung unter den Top-50-Platten-des-Jahres beim Musikexpress? Ihr heimisches alpenländisches Volksmusikidiom nehmen die vier eigensinnigen Oberammergauer als Basis für einen Sound, der von den repetitiven Strukturen von Krautrock und Techno – handgespielte Loops are so 2012! – und der Melodieseligkeit von Pop und Volksmusik gleichermaßen lebt. Aufgenommen wurde Kofelgschroa von Markus Acher mit einer overdubfreien Direktheit, die dieser herrlich unabgefeimten Musik kongenial entgegenkommt. Josef Winkler

26

Jessie Ware

Devotion

Island/Universal

Seit ein paar Spielzeiten sucht sich der R’n’B einen Ausweg aus der Mainstream-Falle über den Umweg hochaktueller elektronischer Musiken. Jessie Ware war mit ihrem Debüt Devotion ein weiterer Beleg für den Wahrheitsgehalt dieser Beobachtung. Die 28-jährige Londonerin hat ihre Lektion Post-Dubstep als Gastvokalistin bei SBTRKT und Joker gelernt. Und diese UK-Bass-Vergangenheit hängt immanent in den Arrangements dieses Albums, auf dem Ware deepen Soul-Pop und zeitgenössische britische Elektronikspielarten verheiratet. Mit einer wunderbaren, ökonomisch eingesetzten Stimme. Albert Koch

27

Hooray For Earth

True Loves

Memphis Industries/Indigo

Der Sound dieses Debüts bildet ein eindeutiges Ausschlusskriterium: Wer mit solchen Synthesizern, die sich aus den späten Siebzigern breit über das folgende Jahrzehnt ergossen, nicht kann, flüchtet besser hinter die Schallschutzmauer. Die Bezüge dieser romantisch-euphorischen, aber auch harschen Veranstaltung werden klar benannt: True Loves reiht die Vorzüge von Pet Shop Boys, Starship, Alan Parsons u.v.a.m. nebeneinander und manchmal auch übereinander auf. Dabei steigen Druck, Drone und Donner, als würde gleich ein Dubstep-Drop anstehen. Doch kein Drop weit und breit. Wunderbar! Oliver Götz

28

Spiritualized

Sweet Heart Sweet Light

Domino/Good To Go

Jason Pierce weiß, dass Rockmusik nicht ausschließlich aus Rockmusik zu bestehen hat. Und so schwebt im Hintergrund der Platte auch jene angedruffte Grund-Distortion mit, die seine Arbeit seit jeher prägt. „Hey Jane“, Opener und bester Track, schlüsselt das gut auf: inhaltlich soulgetränkter Rock mit Gospel-Kante. Aber Pierce lässt der Nummer neun Minuten Zeit und installiert ein Hintergrunddröhnen, das auch im weiteren Verlauf der Platte dabeibleibt. Spiritualized-Musik war immer auch neben der Spur. Aber so zwingend von Anfang bis Ende war sie lange nicht mehr. Jochen Overbeck

25

The Shins

Port of Morrow

Columbia/Sony Music

Damit war nicht zu rechnen. Plötzlich klangen The Shins nicht mehr, als würden sie demnächst an Süßholzraspeln ersticken. Oder als müsste man unbedingt ein Studienabbrecher sein, um sie gut zu finden. Nein, auf Port of Morrow klangen The Shins endlich wie eine Indie-Pop-Band, die ihre besten Zeiten hinter sich hat und deshalb beginnt, sich aufs Wesentliche zu besinnen. Das waren in dem Fall die Songs, die James Mercer schreibt, die beispielsweise „Simple Song“ heißen und sehr berühren, weil sie von existenziellen Themen handeln wie Meer, Sonne, Liebe und Limonade. Thomas Winkler

24

Swans

The Seer

Young God Records/Cargo

Synthese und Kulminationspunkt eines (mit Unterbrechungen) 30-jährigen Schaffens im Untergrund. Michael Giras Art-Rock-Ensemble aus New York hat mit The Seer sein Opus magnum ausgespuckt. Was dieses zweistündige Monster aus Soundscapes, Post-/Punk, Akustiksongs, introspektiven Mantras und Industrial-Noise zusammenhält, ist die schmerzhafte Repetitionslust der Tracks (der längste: 32 Minuten). Alan Sparhawk und Mimi Parker (Low) und Karen O (Yeah Yeah Yeahs) fügen sich als GastvokalistInnen in den gar nicht einmal so wahnsinnigen Wahnsinn ein. Albert Koch

23

Wild Nothing

Nocturne

Coop/Universal

„Dancer in the night playing with my eyes. Velvet tongue so sweet say anything you like that love is paradise.“ Spandau Ballet kämen damit nie durch. Jack Tatum alias Wild Nothing schon. Es kommt darauf an, wie man so was singt. Tatum huldigt auf seinem zweiten Album erneut jener kühlen Ton-Ästhetik, die wir von Brian Eno kennen, und die ein Geistesverwandter wie Morrissey wiederum mit Lyrik ausstatten würde, die peinlich klänge, wäre der Urheber nicht so „inbrünstig“. Erstaunlich, dass diese C86-Musik aus einer Kleinstadt im amerikanischen Virginia kommt. Sassan Niasseri

22

Dirty Projectors

Swing Lo Magellan

Domino/Good To Go

Wer sich darüber beschweren mag, dass früher alles besser, weil origineller und ursprünglicher war im Pop, dem sei dieses Album empfohlen. Denn Swing Lo MAgEllan schöpft mit derart großer Lust und kunstfertig wie selten etwas, was formal vielleicht gerade noch als Gitarrenpop zu bezeichnen wäre, aus dem Reichtum, den unsere Zeit bietet. Exzentrisch auch und abgehoben, natürlich. Doch David Longstreth und Band trauen sich über Folk, Gospel, griechische Tragödie und Prä-R’n’B so nahe an den Pop heran wie noch nie. Inklusive die schönsten Vokalarrangements 2012! Oliver Götz

21

Pet Shop Boys

Elysium

Parlophone/EMI

Es dauerte ein bisschen, bis wir Elysium richtig verstanden hatten. Weil da eben diese Superpop-Oberflächen des Vorgängeralbums Yes fehlten und stattdessen Wolken aufgezogen waren bei den Pet Shop Boys. Es kühl geworden war. Und regnerisch. Vom immer noch ziellosen „Winner“ abgesehen, verströmen alle Songs auf dem elften Album des britischen Duos jenes „The Party’s Over“-Gefühl, das „Invisible“ textlich anschneidet. Damit ist Elysium eine Fortsetzung der vielleicht besten Pet-Shop-Boys-Platte Behavior, was auch musikalisch ganz gut hinkommt. Jochen Overbeck

20

Michael Kiwanuka

Home Again

Polydor/Universal

Wenn man in den ersten zehn Sekunden einer Platte an den großen und im Herbst verstorbenen Terry Callier denken muss, kann sie so schlecht nicht sein. Im weiteren Verlauf ist festzustellen: Home Again ist sogar vorzüglich. Kiwanukas Soul ist einer, der stets angemessen bescheiden bleibt, viel zweifelt und dabei vom richtigen Mann produziert wurde: Paul Butler, den einige noch von The Bees kennen mögen, inszeniert die Stücke facettenreich, aber nie überladen, nachzuhören beim Titelsong, der anfangs nur eine Gitarre braucht, bevor die Streicher heiter tupfen. Ganz und gar herrlich. Jochen Overbeck

19

Norah Jones

Little Broken Hearts

Blue Note/EMI

Der Mythos von großer Kunst, die nur aus Leid entstehen kann: Norah Jones hat mit ihrem fünften Album den Mythos vom Mythos widerlegt. Auf Little Broken Hearts verarbeitet sie eine gescheiterte Beziehung – herzzerreißend, aber verhalten optimistisch. Produzent Danger Mouse verlegt einen dezent gefärbten Klangteppich aus Ambience. Darüber stolziert die Jazz-Pop-Sängerin erhobenen Hauptes mit ihrem besten Album unterm Arm. Wir wünschen Norah Jones alles Gute und viel Glück in der Liebe, auch wenn dann kein Album wie dieses mehr dabei herauskommen sollte. Albert Koch

18

Dexys

One Day I’m Going To Soar

Buback/Indigo

Comeback ist ein zu schwaches Wort für dieses Album, es ist eine Wiederauferstehung. 27 Jahre nach ihrem Verschwinden und neun Jahre seit der Neugründung ist Kevin Rowland mit Dexys wieder da. Zwar ohne Midnight Runners, aber immerhin. Und es ist, wie man so gern sagt, als seien sie nie fort gewesen: Störrisch in der Haltung, pflegt Rowland seinen Irenstolz und seine Ehrfurcht vor Van Morrison und Northern Soul. Er singt noch immer wie ein magenkranker Marktschreier, bevorzugt giftige Dialoge mit sich selbst und strengen Frauen. Niemand muss sich seiner Freudentränen schämen. Michael Pilz

17

Rocket Juice & The Moon

Rocket Juice & The Moon

Honest Jon’s/Indigo

Wieder mal ein volles Jahr für Damon Albarn: Im Mai erschien sein Solo-Album Dr Dee, im Juli die Blur-Single „Under The Westway“ / „The Puritan“ und im August gab er anlässlich der Abschlussfeierlichkeiten der Olympischen Spiele eins der größten Konzerte seines Lebens. Schnell war da dieses geschmeidige Afro-Funk-Album in Vergessenheit geraten, das er im März mit Schlagzeug-Genie Tony Allen und Chili Pepper Flea veröffentlicht hatte. Zu Unrecht! Allein schon weil die Band es ermöglichte, den Begriff Supergroup künftig auch mit Tugenden wie Bescheidenheit und Demut zu assoziieren. Stephan Rehm

16

Daphni

Jiaolong

Jiaolong/City Slang/Universal

Mission erfüllt. Die Vollelektronisierung der Musik, die er sich mit seinem ohnehin schon nicht untanzbaren Hauptprojekt Caribou nicht traut, ist Dan Snaith unter dem Namen Daphni gelungen. Auf Jiaolong entwirft der Kanadier eine vielfarbige, tanzbodenkompatible House Music, die sich Einflüssen aus Soul, Funk und Afro-Beat nicht verweigert. Es gibt rohe, dreckige, mitunter tiefschwarze Sounds, Acid-Gezwitscher und experimentelle Einschübe auf dem Album. Kann sein, dass sich Snaith akademisch der Musik von Daphni angenähert hat, zu hören ist das aber nicht. Albert Koch

15

Plan B

Ill Manors

Atlantic/Warner

„Ich bin nur ein Posterboy für David Camerons gebrochenes Britannien“, rappt Ben Drew, und da hat er völlig recht. Zwei Jahre nachdem er als Soulsänger im Maßanzug berühmt und reich geworden war, verwandelt sich Plan B wieder in das erboste Heimkind aus dem Londoner Osten. Im Kapuzenpulli trägt er überzeugend vor, warum er keine schönen Songs mehr singen möchte. Bankenkrise, Jugendunruhen, Olympia: HipHop ist die hartnäckige Sprache und das Medium seiner Herkunft. Dass „Ill Manors“, das beherzte Titelstück, auf „Alles neu“ von Peter Fox aufbaut, sagt auch: Berlin ist nicht London. Michael Pilz

14

Ariel Pink’s Haunted Graffiti

Mature Themes

4AD/Beggars/Indigo

Ein verblasener Super-Lo-Fi-Song wie der „Schnitzel Boogie“ legte natürlich nicht nur nahe, dass Ariel Marcus Rosenberg wieder in die Untiefen seiner Home-Recording-Kammer abgetaucht ist. Aus Mature Themes, dem zweiten in einem ordentlichen Studio aufgenommenen Album seiner Band Haunted Graffiti, schälten sich durch allen Irrsinn, 60s-/80s-Psychedelia, New-Wave-Marotten und Zappaesken wieder einige Melodien, um die man die südkalifornische Küste erst noch drum herum bauen müsste, wenn sie nicht schon da wäre. Oliver Götz

13

Actress

R.I.P

Honest Jon’s/Indigo

An welcher Straßenecke Darren Cunningham mal falsch abgebogen ist, welches Mädchen ihm mit Anlauf das Herz aus der Brust herausgerissen hat, oder was auch immer morgens in seinem Kaffee landet – jede Inspirationsquelle für die skizzenhafte-Non-Musik auf R.I.P vom britischen Techno-Progressor Actress ist mit Dank zu quittieren. Ein zickiges Album, das dich niemals so sehr lieben wird, wie es umgekehrt der Fall sein sollte. Ein Album, auf dem sich rauschende Pianotupfer, Burial-eske Gute-Nacht-Melodien und digitale Nebelschwaden umeinanderwickeln. Christopher Hunold

12

Alt-J

An Awesome Wave

PIAS/Infectious/Rough Trade

Auch wenn es ein großes, internationales Musik-Portal nicht recht wahrhaben will. Alt-J, diese Pop-Schlauberger aus Leeds, haben der Musik im Jahr 2012 eine ganze Menge gegeben und dürfen sich zu Recht als weit verbreiteter Konsens gegenseitig auf die Schultern klopfen. Verspielte, nerdige, folkige Nummern, die vor allem durch ihren Groove überzeugen und durch die Bank mit Ohrwürmern hausieren, die sowohl aus dem eigenen Leben als auch aus Filmen zitieren. Mit „Fitzpleasure“ haben sie dazu noch einen elend versauten Songtext im Programm, der rote Ohren garantiert. Christopher Hunold

11

Chromatics

Kill For Love

Italians Do It Better/Alive

Ist das noch Italo-Disco? Fünf Jahre hatten Chromatics nach dem fantastischen Night Drive Zeit, um die Frage für sich zu beantworten. Kill For Love aber ist zunächst ein Monument von einem Album, das in seiner längsten nicht-physischen digitalen Form eineinhalb Stunden dauert. Die Band um Italians-Do-It-Better-Labelchef Johnny Jewel spielt einen Wunder-Pop, dem die abgeschliffenen Ecken des Post-Punk anzuhören sind. Atmosphäre und Song halten sich die Waage, Chromatics operieren stets nahe an der Grenze zum Kitsch, überschreiten diese aber zu keiner Zeit. Albert Koch

10

Neil Young & Crazy Horse

Psychedelic Pill

Reprise/Warner

Zum Beispiel „Driftin‘ Back“. Der 27-Minüter erzählt alles über das Verhältnis von Neil Young zu seiner seit 43 Jahren Immer-mal-wieder-Band Crazy Horse. Es beginnt als Akustikballade, verwandelt sich nach kurzer Zeit zum bluenote-igen Rocker und wird zur swingenden feedbackgetränkten Fuzz-Gitarren-Improvisation. Es ist die pure Magie, die Young, Frank „Poncho“ Sompedro, Billy Talbot und Ralph Molina auf den knapp 90 Minuten von Psychedelic Pill entfachen – ausgedehnte und -gefranste Jams, Improvisationen, die ein Nebenzimmer im Wachbewusstsein öffnen können. Psychedelic Pill ist der musikalische Begleiter zu Youngs Autobiografie „Ein Hippie-Traum“. Die Themen sind dieselben. Das Altern, die langjährige Beziehung, die Sechziger (waren toll, haben aber die Welt nicht verändert). MP3 (klingt scheiße). Natürlich ist dieses Album hoffnungslos nostalgisch, inklusive Youngs Riff-Leasing bei sich selbst („Hey Hey My My“, „Cinnamon Girl“ – aber nie vorher wurde diese musikalische Vision dermaßen auf den Punkt gebracht wie hier. Albert Koch

9

Grizzly Bear

Shields

Warp/Rough Trade

„Es ist genau, wie ich es mir wünsche – Erbarmen!“, rief der Grizzly-Bear-Fan. Er hatte sogar etwas dazubekommen, aber nichts von dem, was er so liebt, wurde ihm genommen. Ein gutes Stück kompakter, dynamischer, ja offensiver war das Quartett aus Brooklyn geworden auf seinem vierten Album – die Drums in einem Stück wie „Yet Again“ zum Beispiel „donnernd“ zu nennen, ist fast nicht übertrieben. Dennoch hatten Grizzly Bear nichts von ihrer besonderen Sensibilität verloren, die es ihnen zu ermöglichen scheint, einem jeden Instrument und jeder Note (auch den „stillen“) gleichviel Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt sogar richtige Talk-Talk-Momente auf diesem Album, reich und klassisch/jazzig instrumentiert und doch zerbrechlich wie getrocknetes Herbstlaub. Die Arcade-Fire-Werdung dieser Band muss also keiner fürchten, „unsere Songs sind keine Hymnen“, stellte Ed Droste im Gespräch mit dem ME fest. Gottlob nicht. „Hymnen gibt es im Pop eh schon genug“, dachte sich der Grizzly-Bear-Fan. Aufgeklärt, gefordert und gleichzeitig verwöhnt von seiner neuen Lieblingsplatte: SHIELDS. Oliver Götz

8

Kendrick Lamar

Good Kid M.A.A.D City

Def Jam/Universal

So sehr man sich onkelig neben Kendrick Lamar stellen möchte, um mit halb erhobenem Zeigefinger auf ein noch besseres Album zu warten: Was der 25-Jährige auf seinem Major-Debütalbum veranstaltet, ist schon verdammt großartig. Im Korsett eines Konzeptalbums über das Leben und Großwerden in Compton, rappt der von Dr. Dre zu Def Jam beförderte Lamar über die durch Testosteron initiierte Heimkehr zur Freundin, den Dreck der Stadt, der ihn zu Boden wirft, Schießereien auf der Straße, die Stimmen in seinem Kopf, die ihn zur Rache verleiten und das Wichtigste im Leben: seine Freunde. Textlich ist das auf einem bemerkenswert hohen Niveau. Man muss sich zwar daran gewöhnen, ihm den Wunsch abzukaufen, sein Gemächt würde den Umfang des Eiffelturms erreichen, dennoch weiß Lamar wie kein Zweiter 2012 eine Geschichte zu erzählen. Mit unter anderem Pharrell Williams und T-Blaze hat das good kid die richtigen Produzenten für die m.a.a.d city parat. Tracks wie „Backstreet Freestyle“ sorgen für den genreübergreifenden Hype, den vor zwei Jahren Kanye West mit seinem Album auslöste. Christopher Hunold

7

Cat Power

Sun

Matador/Beggars/Indigo

Inzwischen weiß man, dass es alles nichts geholfen hat: Mit Sun wollte Chan Marshall sich vom Leiden an sich selbst erlösen. Leichtfertig bezahlte sie die aufwendigen Aufnahmen mit ihrer Altersvorsorge, um anschließend an Stress-Ödemen zu erkranken. Täglich twittert sie verwirrende Botschaften. Konzerte werden abgesagt und wieder anberaumt. Es ist wie immer. Dabei fehlt dem Album nichts: Bereits im Opener „Cherokee“, einem der großen Songs des Jahres, geht das Therapeutische einher mit überzeugender Musik. Von Wind und Mond, von Himmel und Erde singt Cat Power mit leicht esoterischem Hau, behütet von geschmackvollen Gitarren. Ihre Stimme wird verfremdet und vervielfacht für den inneren Dialog. Vor 20 Jahren hatte sie mit Lo-Fi angefangen, vor sechs Jahren war sie mit The Greatest im sumpfigen Blues und Soul gelandet und danach im Sanatorium. Auf Sun sucht sie ihr Heil, betreut von Philippe Zdar, im Elektronischen. Die Songs klingen wieder bescheidener, vor allem aber überwiegend heiter. Als väterlicher Beistand wirkt der lebensweise Altpunk Iggy Pop mit. Alles bestens, eigentlich. Michael Pilz

6

Tame Impala

Lonerism

Modular/Rough Trade

In der fünften Staffel der Retroserie „Mad Men“ wird „Tomorrow Never Knows“ gespielt, das Stück, mit dem die Beatles 1966 psychedelisch wurden. Die Lizenzgebühr belief sich auf 250 000 Dollar. So viel ist die Retromania mittlerweile wert. Mit Lonerism scheinen die Australier Tame Impala allen recht zu geben, die sich in einer unendlichen Geschichtsschleife gefangen fühlen. Es klingt wie ein Album, das die Beatles unterschlagen haben, weil sie bei den Aufnahmen nicht bei Sinnen waren. Alles schwirrt und schwillt, kein Effektpedal bleibt unbenutzt, und Kevin Parker singt Songs, die „Feels Like We Only Go Backwards“ heißen. Als hätte sich John Lennon mit den Pilzen oder Pillen vertan. Aber darum geht es nicht. Bei Tame Impala dreht sich alles um die Frage, warum man noch psychedelisch musiziert, wenn alle Grenzerfahrungen gesammelt sind, vor allem aber wie. Die Antwort: Weil der Fortschritt immerhin die Technik zur Verfügung stellt, und weil Konsolen und Module jetzt so leicht verfügbar sind wie jedes Stück aus der Musikgeschichte. Im Detail hätten die 60er-Jahre nie wie Lonerism klingen können. Michael Pilz

5

The XX

Coexist

Young Turks/XL/Beggars/Indigo

Doch, doch, wenn man Coexist eine Zeit der Reifung eingeräumt hatte, kam auch die Erkenntnis: Die Unterschiede des zweiten Albums des Trios aus London zum 2009er-Debüt The xx waren gravierender als zunächst empfunden. Hilfreich bei diesem Urteil war auch der Besuch eines Konzerts von The xx und der Kommentar einer Konzertbesucherin: „Das ist mir viel zu elektronisch.“ Was Jamie xx auf der Bühne aus seinen Klangerzeugern holte, erfüllte die Vorabstatements der Band, ihr zweites Album sei von aktueller Clubmusik beeinflusst, mit Leben. Coexist hebt den Pop-Minimalismus von The xx auf die nächste Stufe. Die Backings sind tatsächlich „viel elektronischer“ als auf dem Debüt, auf dem die Ambience an sich schon die Hauptrolle spielte. House-Beats, konkurrierende Clicks’n’Cuts, Einschübe von Subbässen verzieren die skizzenhaften Songs. Und der Einfluss von R’n’B, der beim ersten Album mehr eine Ahnung war, wird auf Coexist deutlicher – vor allem durch den Gesang von Romy Madley Croft. Es gilt bis auf Widerruf: The xx produzieren immer noch „the most beautiful sound next to silence“. Albert Koch

4

Flying Lotus

Until The Quiet Comes

Warp/Rough Trade

Hektischer, chaotischer und herausfordernder konnte ein Album von Steven Ellison aka Flying Lotus nach seiner kosmischen Oper Cosmogramma eigentlich gar nicht mehr werden. Die in diesem Heft vergangenes Jahr zitierte Entschleunigung fand auf seiner vierten Platte zwar nur in Maßen statt, dennoch zeigt sich Until The Quiet Comes ruhiger und fokussierter. Auf die Aha- oder besser, WTF-Momente verzichtet auch dieses Album nicht, zu speziell der Ansatz, zu widerspenstig die Version von „Songs“. Überhaupt ist hier nichts zu trennen, die 45-minütige Reise durch die Welt von Flying Lotus gehört am Stück genossen. Während sich das neue Universum im Aufbau befindet, werkelt Flying Lotus an sphärischen Beatexperimenten, implementiert seine Jazz-Herkunft, verpflanzt den Boogie ins Outta Space und flirtet mit britischer Bassmusik, während mit Erykah Badu, und Thunderbird die Gästeliste wieder prominent besetzt ist. Ebenfalls wieder im Köcher: Sein neuer Busenfreund Thom Yorke, der im (H)all durch einen vorsichtig hibbeligen Track klettern darf. Große Platte, wie immer. Christopher Hunold

3

Hot Chip

In Our Heads

Domino/Good To Go

Man kann es machen wie Radiohead, die zweite große Popband der 2000er. Sich aus den Songs zurückziehen, Melodien nicht vollenden, in Atmosphäre zergehen. Nennt man das Avantgarde? Hot Chip jedoch sind den entgegengesetzten Weg gegangen. Wenig erinnert noch an ihr Debüt Coming On Strong von 2004. Da hatten die fünf Londoner allerlei Computerprogramme kombiniert, was jedoch weniger spektakulär klang als erhofft. Sie haben sich auch kaum getraut, lauter als im Flüsterton zu singen. Introvertierte Musik halt. Auf diesem Album jedoch, ihrem fünften, wagen Hot Chip das zu sein, was sie schon immer hätten sein können: eine Soulband. Sing it out loud! Zu Vorbildern stehen! Quincy Jones und Curtis Mayfield! Die Lieder sind Umarmungs-Angebote: „Lend me your ideas, but not to fully formed“, singt Alexis Taylor in „Let Me Be Him“ – gebt uns Skizzen, wir machen etwas Einzigartiges daraus. „Let Me Be Him“, von der Band als „Hippie-Ideal“ bezeichnet, ist so ein Stück von neuer Größenordnung. Der Acidhouse-Beat, über den Al Doyle wie in einem balearischen Disco-Albtraum sein „Oh-Oh“ schmettert, geht über in einen Sonnenaufgang, Vögel zwitschern, die Slide-Gitarre begleitet den Hangover, Alexis Taylor beklagt den „Verrat an der Liebe“. Ein Stimmungs-Kater in fünf Minuten. Das Lied wird bei jedem Hören deutlicher, man blickt tief in ein Herz. Das Thema des Albums ist die Unsicherheit in der Liebe, wie sich Gefühle im Laufe einer Beziehung verändern und ob neue Qualitäten überhaupt entdeckt werden können – und findet Kraft in Großtaten wie „Don’t Deny Your Heart“, das ebenso wie „How Do You Do?“ von Prince beeinflusst ist. Ersteres ist ihre Hommage an „I Wanna Be Your Lover“, bei Letzterem kommt der Linn LM1 Drum Computer zum Einsatz; verantwortlich für jenen Tischtennisball-Beat, so signifikant für Prince, dass ihn sich kaum ein anderer zu benutzen traut. Hot Chip kennzeichnen freimütig ihre Vorbilder, schreiben jedoch gleichwertige Songs. Feuilleton-Diskussionen kreisen um die Frage, warum Hot Chip seit Made in the Dark (2008) nichts „Experimentelles“ mehr erschaffen würden. Diese Frage ist unsinnig. Nicht umsonst persifliert Alexis Taylor – die einzige Stelle, bei der er seine Stimme verstellt – in „Night And Day“ den Etikettierungszwang: „I don’t got no Abba. I don’t play no Gabba. I like Zapp not Zappa . So please quit your jibba jabba.“ Kompliziert ist also zwar okay, göttliche Melodien aber benötigen verständliche Arrangements. Diese Linie zieht sich durch die Popgeschichte, von den Beatles über die Sex Pistols bis hin zu The Smiths und The Strokes. Hot Chip haben das verinnerlicht. Sie stellen sich in den Dienst dieser Sache. Wer das nicht erkennt, der hat die Zeit verpennt. Sassan Niasseri

2

Frank Ocean

Channel Orange

Island/Universal

„Seit dem Debüt von Odd Future habe ich so eine Begeisterung nicht gesehen. Ich hoffe wirklich, dass das Geschichte schreibt“, twitterte Questlove von den Roots, nachdem seine Band bei „Late Night With Jimmy Fallon“ gemeinsam mit Frank Ocean dessen „Bad Religion“ gespielt hatte. Und in der Tat: So konsequent wie Frank Ocean in diesem Song verfolgte in den vergangenen Jahren wohl kein Künstler die zentralen Motive des Soul. Es geht um die Trauer, um die Hoffnungslosigkeit und die unerwiderte Liebe – kurzum: den Blues. Der fiktive Bericht aus der Droschke ist aber eben auch Gospel, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: „He said Allah akbar, I told him don’t curse me. Bo Bo, you need prayer, I guess it couldn’t hurt me“, heißt es in dem Song über den Taxifahrer. Die Religion sorgt hier also nicht für die erhoffte Erlösung, sondern Verdammung. Natürlich war der Song das Outing, als das es gelesen wurde. Und natürlich finden sich auf Channel Orange weitere Tracks, in denen Frank Ocean seine Bisexualität verhandelt, was im HipHop und im Soul immer noch sehr selten passiert. Es wäre allerdings Unsinn, die Platte auf diesen Aspekt zu reduzieren, denn elementarer ist Folgendes: Das Odd-Future-Mitglied konstruierte mit Channel Orange eine kühne Platte, die sich einen Dreck um ihre Einordnung kümmert und klassische Motive des Genres von Marvin Gaye bis D’Angelo mit Drakes Popappeal und jenem abgedunkelten Modern Soul mischt, mit dem gleichzeitig The Weeknd reüssierte. Nachzuhören ist das etwa in „Pyramids“, einem Song, der sich über zehn Minuten zieht und dabei von Future Funk über klaustrophoben Techno bis hin zu epischem Soul all das berücksichtigt, was den Künstler ausmacht. So ganz nebenbei wechselt er auch noch die inhaltlichen Ebenen, triggert Antike und eine wenig anheimelnde amerikanische Stripclub-Gegenwart an. Mit dieser Liebe zum inhaltlichen wie musikalischen Hakenschlag ist er quasi eine Mini-Ausgabe des Albums. Das regt so ganz nebenbei auch zum Nachdenken über Odd Future Wolf Gang Kill Them All an, das Kollektiv, dem Frank Ocean entspringt: Wo deren Rezeption bisher in erster Linie über den Text stattfand und häufig von einer gewissen Empörung über Ober-Odd Tyler, The Creator und dessen launige Pöbeleien geprägt war, dürften jetzt die Einzelleistungen der Mitglieder in den Vordergrund treten. Eines davon, der Rapper Earl Sweatshirt, ist auch auf dieser Platte zu hören: „Super Rich Kids“ deutet an, dass wir von dem Kerl auch noch einiges zu erwarten haben. Aber das ist eine andere Geschichte. Jochen Overbeck

1

Django Django

Django Django

Because Music/Warner

Na also, das Prinzip „Indie“ funktioniert ja immer noch. Nur: Mit der Musik, die von den Veteranen der „Class Of 2005“ heute so gespielt wird, kann man keinen mehr hinter dem Ofen vorlocken. Die „Konzepte“ der überlebenden Bands – einfach mal so weiterwurschteln wie bisher (Maximo Park sind auf dem unsichtbaren Platz 286 in dieser Liste gelandet), die Verwandlung in eine Ami-Rock-Band (Bloc Party, Platz 66) – funktionieren nicht. Weil sich nicht nur die Zielgruppe verändert hat, sondern auch ihre Ansprüche. Dem aufgeschlossenen Indie Kid, das – auch aus Gründen der mangelnden Alternativen – langsam Freundschaft mit eher elektronischen Spielarten geschlossen hat, durfte man im Jahr 2012 mit 08/15-Rock nicht mehr kommen. Und hier kommt Django Django ins Spiel. Vier Freunde, die sich auf der Art School in Edinburgh kennengelernt und eine Band gegründet haben. Die ist zwar nicht musikalisch, aber von der Haltung des Andersseins her mit den Foals zu vergleichen. Die Songs sind clever und smart, sie nehmen immer die unerwartete Wendung, anstatt den bequemen direkten Weg zu gehen. Man könnte Django Django die Sixties-Verliebtheit ihres Debütalbums vorwerfen und das Klagelied von der Retromania anstimmen. Denn so 60er-Jahre wie DJANGO DJANGO hat lange kein zeitgenössisches Album mehr geklungen: die Ennio-Morricone-Anklänge, die Surf-Pop-Verweise, der (windschiefe) Harmoniegesang, der gewisse Gitarrentwang, der psychedelische Schleier, der über manchen Songs liegt, die ganze analoge Produktion – all das könnte man Django Django vorwerfen. Aber nach der popkulturellen Evolutionstheorie können neue Formen eben nicht aus dem Nichts entstehen, sondern sie materialisieren sich vor allem durch Veränderung und Vermischung der alten. Django Django spielen so viel wie nötig und so wenig wie möglich auf diesem Albumdebüt. Es gibt keine Spur von Drama und Overacting in diesen kleinen Songwundern, die mit Analog-Synthesizersounds, Afro-Beat-Rhythmik, ein bisschen fake orientalischem Flavour und vordergründig niedlichen Melodien („Default“) ausgestattet sind. Die Schotten haben diese ungekünstelte Begeisterung und gebremste Euphorie in der Darbietung, die wir nur den ganz großen britischen Bands attestieren wollen. Die größte Kunst von Django Django aber besteht darin, dass sie mit ihrem Album innerhalb von knapp 50 Minuten die Ausstattung eines Gemischtwarenladens in ein Fachgeschäft für sehr gute Musik verwandeln. Das Debütalbum von Django Django markiert aber nicht nur die Rückkehr des Art Rock auf die Bühne der Hipstermusiken, sondern es könnte auch die Renaissance von intelligenter gitarrenorientierter Musik nach sich ziehen. Albert Koch