Debütalben: Die hohe Grundschule des Rock
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", schrieb Hermann Hesse. Diese Magie des Neuen, Unerwarteten, potentiell Revolutionären ist es, die dem Erstlingswerk im Rock und Pop einen nachgerade mythischen Stellenwert eingebracht hat. Die Schöpferinnen der 50 besten und wichtigsten Debütalben, anhand derer wir hier eine kurze Geschichte des Rock erzählen wollen, hatten die berühmten "ersten musikalischen Gehversuche" hinter sich, aber unverbildeten Mumm in den Knochen. Und packten jetzt ihre Ideen, ihre Unschuld, ihr Ungestüm und Genie in diese ersten Alben. Um frischen Wind zu blasen. Und nicht selten den Lauf der Musik zu prägen.
Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerräume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe.Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung bricht.“ Nein, das ist keine NME-Reportage von der ersten öffentlichen Aufführung von Definitely Maybe. Aber so „wie die in von einem Augenzeugen geschilderte Publikumsreaktion bei der Uraufführung von Friedrich Schillers erstem Drama „Die Räuber“ im Januar 1782 ließe sich insgeheim wohl auch der ein oder andere Popmusikant die Resonanz auf sein erstes künstlerisches Groß-Statement gefallen. Das Debütalbum hat einen besonderen Stellenwert: Unter Umständen für das Publikum, die launische Wesenheit der „Leute da draußen“ (Kritiker eingeschlossen), die den Newcomer im Idealfall mit besonderem Interesse beäugen und sich gegebenenfalls begeistern, inspirieren lassen von diesem neuen tollen Ding (es sich aber genauso immer wieder auf breiter Front leisten, Epochales links liegen zu lassen und vielleicht erst Jahrzehnte später zu erkennen). Vor allem und ganz sicher aber für die Schöpferinnen selbst, die-sofern auch nur von einem Funken Leidenschaft beseelt -, mehr oder weniger hohe Ambitionen mit ihrem Werk verknüpfen. Das kann auch der idealistischste Selbstverwirklicher nicht leugnen: Wer mit seiner Kunst, seiner Musik an die Öffentlichkeit geht, zumal zum ersten Mal, der/die möchte in irgendeinem Rahmen, und sei die Nische noch so klein, Aufsehen erregen, einen „Impact“, eine Wirkung erzielen. Das hängt dann ganz vom Debütanten ab, ob der Anspruch eher in Richtung (schnöder) finanzieller Kompensation oder schulterklopfender Anerkennung geht oder höher ansetzt, Stichwort: wankende Frauen, schluchzende Menschen. Oder eben der ganz große Wurf: die aus dem Nebel brechende neue Schöpfung. Randy Newman (wer denn sonst?) hat letzteren, den hehrsten aller Debütantenansprüche, hübsch ironisiert, im Untertitel seines eigenen Debüts Randy Newman von 1968 (übrigens eines der vielen famosen Erstlingsalben, die es auch noch in unsere Liste geschafft hätten, wenn diese statt 50 eben 51 Einträge hätte): „Randy Newman Creates Something New Under The Sun“ steht da lapidar unbescheiden auf der Coverrückseite. Das (pompös) sogenannte „Genre-definierende Album“, das absolut Neue, Unerhörte ist naturgemäß rarer geworden im Lauf von über 50 Jahren Rock/Pop-Evolution und -Diversifikation. Aber es gibt sie gottlob auch heute noch, die Alben, die dann – wenn schon keine biblischen Schöpfungsakte -, doch immer wieder kräftige, belebende Arschtritte in die Poplandschaft setzen. Allerjüngstes Beispiel: die Arctic Monkeys mit ihrem frisch gekürten „schnelstverkaufenden britischen Debüt aller Zeiten“.Das ist nichts Neues unter der Sonne, aber eines der Alben, die die alte Tante Rock immer wieder aufs Neue vor der finalen Bräsigwerdung bewahren. Schiller war übrigens 18, als er mit der Arbeit an „Die Räuber“ begann, 22 bei der Uraufführung. Und von ihm, aus seinem „Wilhelm Teil“, stammt auch der berühmte Satz „Früh übt sich, was ein Meister werden will“. Das Debütalbum ist eine Domäne der Jugend – wobei auch diese Regel von Ausnahmen bestätigt wird. Doch beginnen wir mit dem Anfang…