Das echte Leben und die rosa Brille
Der Shooting Star des Mainstream-Pop lebt in einer Fantasiewelt. Kein Wunder, dass Mika gerne mal entflieht: Seine Kindheit war geprägt von Kriegen und Nervenzusammenbrüchen.
Inmitten des geschäftigen Treibens von San Remo kommt Mikas Chauffeur-Limousine zum Stehen – in einem gigantischen Stau.Mika sitzt einfach da, wartet und döst gelegentlich ein. Großbritanniens neuester Pop-Superstar ist in diesen hübschen Küstenort im Nordwesten Italiens verfrachtet worden, um am letzten Abend des größten Talentwettbewerbs des Landes als Special Guest aufzutreten. „Ich bin dran, kurz bevor sie den Gewinner bekannt geben“, sagt er ungläubig. „Millionen werden zuschauen. Millionen.“
Das „Festival di Sanremo“ ist eine Institution. Seit mehr als 50 fahren auch auf dem Bildschirm präsent, hat es Künstler wie Bobby Solo (1967) und I Pooh (1990) zu nationalem – wenn nicht gar internationalem – Schlagerruhm verholfen. Fast ganz Italien scheint heute Abend in die Stadt gekommen zu sein. Entweder, um für bis zu 3.000 Euro zum Studiopublikum zu gehören oder um sich draußen auf den Straßen zu drängen in der Hoffnung, einen flüchtigen Blick auf anwesende Fernsehstars werfen zu können.
Die Limousine erreicht ihr Ziel. Mika steigt in strahlend weißen Dolce&Gabbana-Hosen und Converse-Kopien auf die Bühne, um einen Probedurchlauf seiner Hitsingle „Grace Kelly“ (die er dann live nach Mitternacht aufführen wird) zu absolvieren. Nachdem der Song dieses Jahr bereits fünf Wochen lang auf Platz 1 der britischen Charts rangierte, hat er mittlerweile auch anderswo die Bestenlisten im Sturm genommen. Mika ist in Russland, Norwegen, Ungarn und nun eben auch hier in Italien auf Platz 1. Deshalb seine Last-Minute-Teilnahme an einer Show, zu deren früheren Gästen Elton John und der französische Chansonveteran Charles Aznavour gehörten.
Der Soundcheck ist zu Ende, die Produktionscrew applaudiert begeistert. Jeder möchte Mikas Hand schütteln und ein Erinnerungsfoto. Die mit starkem Italo-Akzent vorgebrachten Lobeshymnen lassen Mika zusammenzucken. Es scheint, als ob ihm erst jetzt bewusst wird, wie schnell sein Bekanntheitsgrad gewachsen ist. Er wirkt nervös und verbringt die Zeit bis zum Auftritt angespannt, in sich gekehrt und wiederholt am Daumennagel kauend.
„Es wird allmählich besorgniserregend“, sagt er hinterher im Treppenhaus. Sein Management überlegt währenddessen, ob es seinem Wunsch nachkommen sollte, ihn ins eine Autostunde entfernte Hotel nach Cannes chauffieren zu lassen. Mika braucht eine Ruhepause, um Kraft zu tanken. Und sei es nur eine Viertelstunde. „Ich denke oft, es ist am besten, nicht darüber nachzudenken. Wenn ich mir bewusst mache, was in meinem Leben momentan passiert, dann …“ Er schüttelt verwirrt den Kopf.
In den wenigen Monaten seit Veröffentlichung seines Debütalbums Life In Cartoon Motion hat sich der als Michael Holbrook Penniman geborene Musiker zu einem Künstler entwickelt, dem in England momentan so viel Aufmerksamkeit zuteil wird wie niemandem sonst. Als charismatischer, energiegeladener Popstar in der großen Tradition eines Freddie Mercury, Elton John oder George Michael hat er die öffentliche Meinung wie nur wenige andere Künstler der letzten Zeit polarisiert. „Warum mögt ihr mich nicht?“, fragt er in „Grace Kelly“. „Liebt, liebt, liebt mich!“, drängt er in seiner Nachfolgesingle „Love Today“.
Die mehr als 400.000 Briten, die Life In Cartoon Motion gekauft haben, taten das sicher aus dem gleichen Grund wie Queen-Gitarrist Brian May, dessen Webseite voll des Lobes über Mika ist („Ich mag mutige, innovative Menschen“, schreibt May). Aber seine Kritiker äußern sich ebenso freimütig und stempeln den Sänger als lästig, kitschig und unerträglich hilfsbedürftig ab. Die englische Zeitung The Guardian verglich das Hören seines Albums bezeichnenderweise damit, „mit vorgehaltener Waffe von Bonnie Langford* festgehalten zu werden“.
„Großer Gott, was für ein Wichser!“, lautete Mays scharfe Antwort auf die Rezension. Mika reagiert gelassener: „Die Kritik kam doch nur, weil ich jetzt kommerziell erfolgreich bin“, sagt er, während er mit übergeschlagenen Beinen in seiner beengten Künstlergarderobe auf einem Stuhl sitzt. Der weite Weg nach Cannes erschien dem Management dann doch zu aufwändig. „Vor ein paar Monaten, als ich noch ein Insider-Tipp war, hat mich jeder unterstützt. Aber kommerzieller Erfolg verändert alles. Das ist auch okay so. Derlei Analysen meiner Person beeindrucken mich aber nicht allzu stark, denn meine Motivation, Songs zu schreiben, hat viel mit Instinkt zu tun und ist sehr persönlich.“
Er Steht auf, Um Sich eine Flasche Wasser zu holen, wobei sich sein Körper langsam auf seine volle Größe von über 1,90m aufrichtet. Von Nahem sieht er sehr dünn aus, nur Haut und Knochen. Dazu hat er prä-raphaelitische Locken, die seine Wangenknochen derart hübsch einrahmen, dass man ahnt, warum das Modelabel „Paul Smith“ ihn kürzlich als Model für die neue Saison gebucht hat. Er setzt sich wieder, und erneut muss der Daumennagel dran glauben. Ein aufschlussreiches Bild: Mika wirkt wie ein Kleinkind, das zur Beruhigung am Daumen nuckelt. „Nummer 1 in den Pop Charts zu sein, gibt plötzlich allen das Recht, eine Meinung über mich zu haben und alle möglichen Geschichten zu verbreiten“, sagt er. Kürzlich wurde zum Beispiel berichtet, dass er diesen Sommer Take That bei ihrer Tournee als Opening Act begleiten wollte, dann aber einen Rückzieher machte, weil er angeblich meinte, für einen Support-Act inzwischen viel zu erfolgreich zu sein. „Alles Schwachsinn! Manchmal würde ich die Leute am liebsten beißen, wirklich, das können Sie mir glauben. Genau wie Sylvia Plath es mit Ted Hughes** gemacht hat, würde ich gewissen Leuten am liebsten ein großes Stück aus der Wange beißen.“ Mi ka zieht die Lippen zurück und entblößt seine Zähne, dann lässt er sie lüstern aufeinanderschnappen, Hannibal Lecter mit Dauerwelle. Mika ist der perfekte Popstar mit einer Vorgeschichte, die Hollywood wegen Unglaubwürdigkeit abgelehnt hätte. Er wurde 1983 in Beirut als Sohn eines amerikanischen Bankers und einer libanesischen Mutter geboren. Innerhalb eines Jahres war die Familie (zu der fünf Kindern gehören, drei Töchter und zwei Söhne) gezwungen, das Land aufgrund des ausbrechenden Bürgerkriegs zu verlassen. Sie wurde mit anderen Flüchtlingen auf ein Boot verfrachtet und nach Zypern verschifft, bis sein Vater schließlich in Paris einen neuen Job fand. Mika erinnert sich nicht an die Details der Flucht, ist sich jedoch vage „einiger Entbehrungen“ in seiner Kindheit bewusst. „Meine Eltern hielten Probleme so weit wie möglich von uns fern“, sagt er. „Wir wohnten in einem hübschen Appartement, wo wir, wenn ich das so sagen kann, typisch libanesisch lebten – laut, extravagant, kreativ. So war meine Kindheit in vieler Hinsicht eine bezaubernde Zeit.“
Aber es war nicht von Dauer. Als Mika sechs war, wurde sein Vater genau zu jener Zeit auf eine Geschäftsreise nach Kuwait geschickt, als irakische Truppen einmarschierten und den ersten Golfkrieg auslösten. „Er musste in der amerikanischen Botschaft Schutz suchen. Draußen lagen Heckenschützen auf der Lauer. Er saß dort sechs Monate lang fest.“
Als es nach Kriegsende möglich war, das Land sicher zu verlassen, entschloss sich die Familie zu einem Neuanfang. Sie zog in Londons wohlhabenden Stadtteil South Kensington, wo Mika die staatliche französische Schule, das Lycee Francis Charles de Gaulle, besuchte. Was sich als sein Ruin herausstellte. „Ich hatte immer meine ganz eigene Art, mich darzustellen“, gibt er zu und erinnert sich an die leuchtend ro ten Hosen, die er liebte, ungeachtet des Spotts seiner Mitschüler, „und ich hatte längst akzeptiert, dass ich in den Augen der anderen Kinder niemals cool sein würde. Aber als ich merkte, dass sich die Lehrer ebenfalls gegen mich stellten, wurde ich endgültig zum Außenseiter.“
Er begann zunächst Unterrichtsstunden zu schwänzen, dann schwänzte er die Schule ganze Tage. Trotz seiner inständigen Bitten weigerten sich seine Eltern, ihn von der Schule zu nehmen. Erst als er mit 13 Jahren für längere Zeit ein Schweigegelübde ablegte, eine Geschichte, die er heute als „Mini-Nervenzusammenbruch „bezeichnet, nahm seine Mutter das Problem ernst. Sie nahm ihn von der Schule und erlaubte ihm, seine Zeit im Park und in nahe gelegenen Museen zu verbringen. Aber sie bestand auf Mikas weiterer Ausbildung, weshalb schließlich die Dienste eines russischen Musiklehrers in Anspruch genommen wurden, ein Umstand, der auch Mikas wachsender Liebe zur Musik Rechnung trug.
Sechs Monate später wirkte er im Chor von Strauss‘ „The Woman Without A Shadow“ am Londoner Royal Opera House mit. Er begann, Jingles für British Airways, Kochshows der BBC und Milchwerbespots zu singen – für45 Pfund pro Stück. Seine aufblühende Karriere war der perfekte Ersatz für die typischen Aktivitäten, denen Heranwachsende sonst so nachgehen, etwa neue Freundschaften schließen und ein soziales Umfeld aufbauen. Erleichtert darüber, etwas gefunden zu haben, bei dem er sich hervortun konnte, entwickelte Mika einen glühenden Ehrgeiz, der seinem wachsenden Selbstvertrauen entsprach. Stolz komponierte er eigene Songs: „Ob ich glaubte, dass meine Stücke gut sind? Ich hielt sie für perfekt!“
Mit 15 flog er zu einer Familienhochzeit in die USA. Dort platzte er in eine Party des Nachbarn seiner Gastgeber: Bob Jamieson, damals Boss von RCA Records. Vor einem Publikum, zu dem auch Diana Ross gehörte, sang Mika fünf seiner eigenen Songs. Jamiesons Reaktion? Junge, du hast wirklich Mumm.“
Zurück in London, entwickelte sich sein „Mumm“ kräftig weiter. Mika nahm sein erstes Demo auf – ein stimmungsvolles Klavierstück namens „Over My Shoulder“, das später versteckt auf Life In Cartoon Motion erneut auftauchen sollte. Er schickte das Stück an alle Londoner Talentscouts, davon überzeugt, kurz vor seiner Entdeckung zu stehen. Niemand war interessiert.
Unbeirrt ging er in den folgenden Jahren den Managern der Plattenfirmen auf die Nerven – mit beschränktem Erfolg. Er traf Simon Cowell, der schließlich meinte, dass seine Stimme Potenzial habe, nicht jedoch seine Songs. „Ich konnte ihn nicht ernst nehmen“, sagt Mika heute, „genau über seiner Schulter hing eine goldene CD für seine Arbeit mit den Teletubbies!“ Eine andere Idee war, ihn als neuen Craig David aufzubauen, eine Geschichte, die er später in „Grace Kelly“ noch einmal aufgreift:
„Should I bend over / Should I look older / Just to be put on your shelf?“
Sein Retter erschien dann Ende 2005 in der Gestalt von Tommy Mottola: Der amerikanische Musikmogul hatte Mariah Carey entdeckt und später geheiratet. Von seinen Songs und seiner Energiebeeindruckt, nahm Mottola ihn bei Casablanca Records (einer „Hommage“ an das legendäre 7oer-Jahre-Disco-Label, Heimat von Donna Summer und den Village People) unter Vertrag. Mika hatte jemanden gefunden, dessen Visionen seinen eigenen entsprachen. „Er könnte die gleiche Bedeutung wie Bowie, Robbie oder Elton erreichen „, sagt Mottola, „erspielt in dergleichen Liga.“
Zugesagt wurde kreative Freiheitallerdings auf Basis einer Kollaboration: Mika machte sich auf nach Los Angeles, um mit dem Songwriter Jodi Marr (Geri Halliwell, Ricky Martin) und dem Produzenten Greg Wells (Paris Hilton, Celine Dion) an seinem Debütalbum zu arbeiten. Er nahm seine 27-jährige Schwester Yesmine mit, die ihm bei der Gestaltung der Comicfiguren für das Albumcover half. Figuren, die immer noch in seinem Kopf herumschwirren. „Das ist nicht einfach nur Musik für mich“, versucht er zu erklären, „sondern meine persönliche Welt.“ Also eine wahr gewordene Fantasiewelt? „Nein!“, kommt es augenblicklich zurück. „Bollywood ist Realitätsflucht, HipHop-Videos sind Realitätsflucht. Ich versuche nicht, vor der Realität zu fliehen. Ich mache mir meine Realität nur leichter erträglich, indem ich meine rosa Brille aufsetze. Funktioniert doch ziemlich gut, oder?“
Zurück in San Remo, durchforstet Mikas andere Schwester Paloma, 24, eine große, elegante Frau mit einer Mähne aus pechschwarzem Haar, einen Stapel von Dolce&Gabbana-Outfits für die Show heute Abend. Sie ist mir zuvor als seine inoffizielle Managerin vorgestellt worden. Sie zieht „Assistentin “ vor. „Er mag es, seine Familie um sich zu haben“, sagt sie mit gedämpfter Stimme. „Und darum bin ich hier. Um sicher zu gehen, dass er glücklich ist.“
„Glücklich“ ist heute nicht das passende Wort für Mika. Er hatte einen Interviewtag, und all diese Fragen fangen an, ihn zu irritieren. Etwa die nach seiner Schwäche für Freddie Mercury („Schwäche? Ich kenne nur eine Handvoll Queen-Songs“). Und dann gibt es noch die anhaltenden Spekulationen über seine sexuelle Ausrichtung, die er sich schroff weigert klarzustellen. Trotz allem ist Mika nämlich auch eine Privatperson. Und das soll auch so bleiben. „Ich kann versichern, dass es keine Leichen in meinem Keller gibt“, sagt er und umklammert die Armlehne seines Stuhls. „Ich bin nicht durch irgendwelche Skandale hingekommen, wo ich für die nächsten 25 Jahre zu bleiben hoffe. Ich glaube nämlich, dass es eine Frage der Ehre und Würde ist, nicht alles der Öffentlichkeit preiszugeben.“
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