Bruce Boom


Für die Bootlegger war er ein Geschenk des Himmels. Denn Springsteen-Konzerte, festgehalten auf Hunderten von Raubpressungen, galten seit Jahren als konkurrenzlose Renner auf dem internationalen Schwarzmarkt. An dem paradiesischen Zustand schien sich auch nichts zu ändern — bis Springsteen-Manager Jon Landau seinen zögernden Künstler doch von einer regulären Veröffentlichung überzeugte. LIVE 1975—85, eine Box mit gleich fünf LPs, erschien im letzten November und wurde umgehend als Meilenstein der Popmusik gefeiert. Grund genug, den Springsteen-Clan in New Jersey zu besuchen, um dort Hintergründe und Begleitumstände des Jahrhundertwerkes zu erfragen.

Bis auf Gitarrist Nils Lofgren, der seine Heimat Washington D.C. nur verläßt, um an Proben und Besprechungen teilzunehmen, haben sich die Mitglieder von Springsteens E-Street Band hier an New Jerseys Atlantikküste fast in Rufweite niedergelassen. Bevorzugter Treffpunkt ist das „Big Man’s West“, der Club von Saxophonist Clarence „Big Man“ Clemons in Red Bank.

Diesmal aber, es war ein warmer Oktobertag des vergangenen Jahres, hatte der „Boss“ in sein Haus nach Rumson gebeten. Einträchtig vereint saß man um den großen Eichentisch und wartete neugierig auf des Meisters Eröffnung. Auf dem Tisch lagen einige Stapel Cassetten. ein paar Blätter mit Textentwürfen, beschrieben in Springsteens fahriger Handschrift — und natürlich die „six packs“, die obligatorischen Bierdosen. „Es war“, meint Drummer Max Weinberg, „ganz so, als würden sich ein paar alle Kumpels treffen, um Samstagabends ein Football-Spiel im Fernsehen anzuschauen, „

Football allerdings war diesmal nicht angesagt. Bruce schob eine Cassette in den Recorder und drehte die Lautstärke auf. Was folgte, war ein dreieinhalbstündiges Live-Gewitter, nur unterbrochen von begeisternden Zwischenrufen und ungläubigem Kopfschütteln der anwesenden Akteure. „Alle waren völlig platt und sprachlos, wie phantastisch das klang“, sagt Bassist Garry Tallent. „Absolut jeder Song klang besser als das Studio-Original. Wir waren uns einig, in diesem Moment den Höhepunkt unserer Karriere zu erleben. „

„Und vor allem“, ergänzt Max Weinberg, „war es ein Erlebnis, ihn so glücklich und zufrieden zu sehen.“

„Er“ hat nämlich schon lange den Ruf, den Resultaten seiner Arbeit überaus kritisch gegenüberzustehen. Und seine perfektionistische Ader war es denn wohJ auch, die ihn zu allen Live-Alben ein kategorisches „Nein“ sagen ließ. Zwar wurden seit Beginn der 70er Jahre alle wichtigen Konzerte auf Band mitgeschnitten, doch Springsteen weigerte sich standhaft, auch nur eines dieser Bänder überhaupt anzuhören.

Erst die triumphale „Born In The U.S.A.“-Tour, die ihn vom 29. Juni 1984 bis zum 2. Oktober 1985 rund um die Welt führte, schien seine Abneigung gegen die Live-Konserve schwinden zu lassen. Ein Freund erinnert sich: „Früher steckte er bis in die Haarspitzen voller Zweifel, ob er wirklich das Optimum aus sich herausgeholl habe. Nach dem Erfolg dieser Tournee aber schien er erstmals die nagenden Zweifel abzuschütteln; da war plötzlich nicht mehr die Kluft zwischen seiner eigenen Selbsteinschätzung und dem Feedback, das er von außen bekam. Er schien seinen Erfolg erstmals halbwegs entspannt akzeptieren zu können. Und erst in dieser Situation war er in der Lage, auch eine LivePlatte mit all ihren unvermeidlichen Mängeln und unkalkulierbaren Überraschungen in Erwägung zu ziehen.“

Als Springsteen, Manager/Produzent Landau und Co-Produzent Chuck Plotkin daran gingen, das vorhandene Material zu sichten, wurden sie von der Fülle geradezu erschlagen. Selbst nach Ausmusterung technisch oder musikalisch unbefriedigender Aufnahmen saßen sie am Ende vor dem Material von rund 30 kompletten Konzerten mit insgesamt weit über hundert Stunden Spielzeit; allein „Rosarita“, ein langjähriger Standard seines Live-Repertoires, war in 30 Versionen vertreten.

Die Doubletten wurden herausgeschnitten, eine erste grobe Auswahl getroffen — das Material schmolz von über hundert auf gut 33 Stunden zusammen. Von den Bändern wurden Rohmischungen gemacht und auf Cassette überspielt. Anfang ’86 machte sich Springsteen ans Hören. Zu Hause und vor allem im Auto spielte er zwei Monate lang die Cassetten in allen nur möglichen Abfolgen und Variationen; die Idee kristallisierte sich heraus, statt einer der üblichen Live-Platten dann doch lieber gleich eine großangelegte Retrospektive zu machen.

1975 sollte den Anfang bilden. Zum einen, weil die Tonqualität früherer Aufnahmen zu wünschen ließ; zum anderen, weil eine Aufnahme aus dem Jahre ’75 seine besondere Aufmerksamkeit fing: „Thunder Road“, aufgenommen im Roxy in Los Angeles, sollte am Anfang stehen. „Es klingt“, schrieb Springsteen seinem Manager, „als ob hier irgend etwas beginnen würde. „

Im April gingen Springsteen, Landau und Plotkin ins Studio, um nun die Masterbänder der ausgewählten Aufnahmen zu prüfen und einige Schwachstellen mit dezenten Overdubs aufzupolieren. Wie immer, wenn er sich erst einmal im Studio vergraben hatte, war Springsteen ebenso penibel wie arbeitswütig. Chuck Plotkin. der Co-Produzent:

„Wenn man mit Bruce arbeitet, ist das so, als würde man in einem U-Boot untertauchen. Wenn man dünn nach Wochen oder Monaten wieder auftaucht, hat man völlig die Orientierung verloren. Wen/i ich nach Hause komme, ist mein Telefon abgestellt, mein Gas abgestellt, alles abgestellt. Stau dessen stapeln sich im Briefkasten die unbezahlten Rechnungen. Mit Bruce artet es immer in harte Arbeit aus. „

Ähnliches dürfte auch Bob Clearmountain zu berichten haben. Mit dem derzeit wohl gefragtesten Toningenieur Amerikas verzog sich Springsteen Ende Juni ins New Yorker Right Track Studio, um hier in knapp dreimonatiger Schwerstarbeit die endgültige Abmischung vorzunehmen. (Nicht alles des hier abgemischten Materials sollte letztlich in der LP-Box landen; so gibt es eine zehnminütige Version von „Incident On 57th Street“, die aus Platzgründen entfiel und in einigen Ländern als B-Seite der Maxi „War“ erschien.) Anfang Oktober ’86, knapp ein Jahr nach der auslösenden Idee, sitzt Springsteen mit der E-Street Band in seinem Wohnzimmer in Rumson und stellt das Resultat vor. Der einstimmige Tenor: LIVE 1975—85 ist nicht nur ein historisches Dokument ihrer Arbeit, nicht nur ein Abfallprodukt ihrer Tourneen, sondern dokumentiert, komprimiert auf dreieinhalb Stunden, erstmals ihre eigentliche Stärke: Springsteen & E-Street Band live.

„Außenstehende haben uns immer schon gesagt, daß die Band live eine Klasse hesser ist“, weiß Garry Tallent. „Und inzwischen glaube ich es auch. „

Sängerin Patti Scialfa, seit 1983 Mitglied der Band, erinnert sich, wie es ihr bei den ersten Auftritten geradezu den Atem verschlug. „Manchmal habe ich meine Einsalze regelrecht verschlafen, weil ich einfach so fasziniert war von dem, was um mich herum auf der Bühne an Energie und Bewegung passierte. Ich habe mich dann immer an Bruce orientiert, habe beobachtet, wie er atmet, habe mich an seinem Selbstvertrauen aufgebaut. Sein Glaube, seine Begeistenmpfähigkeit ist es, die unsere Konzerte trägt. Wobei es mehr ist als nur ein Konzert. Ich habe jedenfalls nachher den Eindruck, als hätte ich auch meine Herzmuskeln trainiert. „

Springsteen selbst beschrieb seine Gefühle im Konzert unlängst ganz ähnlich: „Wenn ich auf die Bühne gehe, dann steht mein Stolz, mein Selbstrespekt, auf dem Spiel. Ich weiß, daß etwas passieren kann, das weit über die Musik hinausgeht. Und ich gebe mein Bestes, damit es auch passiert. „

Von der Magie, von dem blinden Verständnis untereinander können sie alle ein Lied singen. Keyboarder Danny Federici, der mit Springsteen seit 18 Jahren spielt, weiß zu berichten: „Wir kennen uns mit solch schlafwandlerischer Sicherheit, daß Bruce nicht mal ankündigen muß, welche Nummer gespielt wird. Allein an der Art und Weise, wie er One, Two, Three, Four zählt, wissen wir, wie’s weitergeht.“ Und Max Weinberg bestätigt: „Wenn man mir lange genug zusammenbleibt, kann man einfach alles erreichen.“

Das Geheimnis, so Clarence Clemons, auch schon seit 14 Jahren dabei, ist eieentlich ganz einfach:

„Wenn man einen Springsteen-Song einübt, ist das so, als würde man Radfahren lernen: Man vergißt es einfach nicht mehr.“

Und noch etwas unterscheidet Springsteen live von anderen Rock-Konzerten: Frühestens nach vier Stunden wird das Publikum nach Hause geschickt. Von Grateful Dead-Marathon-Konzerten früherer Jahre einmal abgesehen, investiert keine andere Band soviel physische Energie in das allabendliche Konzert. „Gegen Ende einer Show“, so Clarence Clemons, „schauen wir uns das Publikum genau an. Wenn sie noch fest auf ihren Beinen stehen, wenn sie noch wild mit den Armen winken können, dann haben wir unser Klassenziel noch nicht erreicht. Erst wenn die Leute in den ersten Reihen langsam weiche Knie kriegen, haben wir unseren Job getan und 10 können zufrieden nach Hause gehen.“

Der Anekdoten gibt es viele. Eine vielleicht noch, an die man sich im Springsteen-Clan besonders gerne erinnert und die auch verständlich macht, warum diese Band wie Pech und Schwefel zusammenhält: Man schrieb das Jahr 1974. Die E-Street Band, damals noch nicht mit den finanziellen Segnungen des Erfolges beglückt, tourte in einem baufälligen Camping-Bus durch Pennsylvania. Wie an jedem Morgen, so war auch diesmal Clarence Clemens, ein Koch aus Leidenschaft, für das Frühstück zuständig.

Nach einem Breakfast total, das keine Wünsche mehr offenließ, stieg das etwas lädierte Stimmungsbarometer steil nach oben. Und als sich dann auch noch der „Bossenheimer“, wie Bruce von der Band gelegentlich genannt wird, freiwillig zum Geschirrspülen meldete, schien die Sonne am Himmel zu lachen. Bis man — viel zu spät natürlich — feststellen mußte, daß der Boss vergessen hatte, den Hahn abzudrehen; der Wassertank war ausgelaufen — und das Innere des Busses schwamm in einer schäumenden Seifenlauge…

Erinnerungen wie diese gehören inzwischen unwiderruflich der Vergangenheit an; klapprige Camping-Busse und Geschirrspülen sind Schnee von gestern. Auch wenn man bewußt von demonstrativen Protzereien Abstand nimmt, so weiß doch jeder im Umkreis des Clans, daß die Band inzwischen in Geld geradezu schwimmt. Sollte das hochgesteckte Langzeit-Ziel von 15 Millionen verkauften LIVE-Boxen erreicht werden, so bedeutet das einen Umsatz von rund 450 Millionen Dollar. Springsteen und die Seinen würden daran (inklusive aller Aufführungsrechte) mit rund 75 Millionen Dollar partizipieren — und so selbst Großverdiener wie Michael Jackson deutlich hinter sich lassen.

Und es sieht ganz danach aus, als würden die astronomischen Zahlen Wirklichkeit werden. Als die Box am 10. November veröffentlicht wurde, meldeten die amerikanischen Plattenläden einen Ansturm, wie man ihn seit der Beatlemania und Elvis Presleys Tod nicht mehr erlebt hatte. Stunden vor Ladenöffnung bildeten sich Menschenketten vor den Geschäften Manhattans; diverse Händler kamen gar nicht mehr dazu, die Platten auszupacken und in die Regale zu stellen, sondern verkauften gleich aus dem Lager. Die Dreharbeiten zu einem neuen Madonna-Video, die in einem New Yorker Plattenladen stattfinden sollten, mußten mehrfach verschoben werden, weil sich der Besitzer trotz eines schriftlichen Vertrages strikt weigerte, angesichts dieses Bombengeschäftes seinen Laden zu schließen. Manager anderer Gruppen verschoben schleunigst den Veröffentlichungstermin ihres Produktes, um ja nicht unter der Springsteen-Lawine begraben zu werden.

Innerhalb einer Woche war die (amerikanische) Erstauflage von 1,5 Millionen vergriffen. Der nächste Schub von knapp zwei Millionen Boxen wanderte kaum langsamer über die Theken. Die Preßwerke von Springsteens Plattenfirma Columbia fuhren Schichten rund um die Uhr, legten andere Produktionen auf Eis — doch es half alles nichts. Allein die CD-Version war von Ende November bisin den Januar hinein fast zwei Monate vergriffen. Ein Plattenhändler beschrieb den Boom wie in den besten Goldgräber-Tagen sehr treffend; „Wenn ich doch nur ein Preßwerk hätte! Ich hätte mir damit schon längst eine goldene Nase verdient.“

Die Statistiker waren gleich zur Hand und wiesen nach, warum die Springsteen-Box ein so einmaliges Phänomen in der Geschichte der Popmusik ist: In Amerika und diversen anderen Ländern schoß die Box gleich in der ersten Woche auf Platz 1 der Charts. Zuvor gelang das nur drei Alben, das letzte Mal 1976 Stevie Wonders SONGS IN THE KEY OF LIFE; allerdings handelte es sich nie um eine teure Box mit fünf LPs!

(Vergleichsweise enttäuschend sind übrigens die Zahlen in Deutschland: Bis Anfang Februar wurden „nur“ knapp 200.000 Stück verkauft. — Red.) Das vielleicht Frappierendste aber ist die Tatsache, daß der Boss eine Box gleichen Kalibers problemlos nachschieben könnte. Zahllose Klassiker wie „Fever“ oder „Jungleland“ sind nicht auf LIVE 1975—85 vertreten; von den rund einhundert Cover-Versionen („Twist And Shout“ von den Beatles, „Devil With A Blue Dress On“ von Mitch Ryder, „Rockin“ All Over The World“ von John Fogerty usw.) und Medleys ganz zu schweigen.

Und so brauchen sich auch die eingangs erwähnten Bootlegger nicht allzu sehr zu grämen. Solange Springsteen in seinem bisherigen Tempo neues Material nachschiebt, solange er weiterhin vierstündige Marathon-Konzerte gibt, werden auch sie noch alle Hände voll zu tun haben.