Boy George


Noch im letzten Monat stellten wir den Culture Club in der Reihe "Neue Gesichter" vor. Inzwischen sind aus den neuen Gesichtern wohlvertraute Bekannte geworden: Ihre Single "Do You Really Want To Hurt Me" schoß nicht nur in Deutschland an die Spitze der Charts. In England ist Boy George obendrein Gesprächsthema Nr. 1: Seine demonstrative Bisexualität, der modische Gebrauch von jüdischen Symbolen und die Abkehr vom dekadenten Nachtleben machen ihn zum gefundenen Fressen für die Klatschspalten. Unser Londoner Mitarbeiter Marek Kohn nahm den Paradiesvogel Boy George einmal genauer unter die Lupe.

Mode und Mission- Der freundliche Kultur-Schock

George bewies schon frühzeitig das Talent, anderen Leuten die Show zu stehlen. Er tauchte in Clubs auf, bahnte sich – im Piratenhut und malerischen Gewändern – den Weg durch die Menschenknäuel und tauschte Höflichkeiten aus wie ein jüngeres Mitglied der königlichen Familie. Freunde und Freunde von Freunden benutzten ihn als Gesprächsstoff, wobei man allgemein zu dem Eindruck kam, daß er doch eigentlich ganz umgänglich und normal sei …

Aber andere Leute waren weitaus interessierter an George als er an ihnen. Alles Klatschspalten-Getratsche über sein Sex-Leben bewies doch nur, daß sein ungewöhnliches Image die Leute in emotionale Verwirrung stürzte. Er hatte den Dreh raus, es so aussehen zu lassen, als käme seine Zwei-Geschlechtlichkeit tief aus dem Innern – und sei nicht aus schnöden Gründen des Stils aufgepappt. Deswegen, so mutmaßte man, muß der lunge Probleme haben.

Zweifellos hat er ebensoviele wie jeder andere auch, aber diejenigen, die von seinem Image heraufbeschworen wurden, waren jedenfalls Probleme der anderen, nicht seine eigenen.

George war es bald gelungen, sich eine Garderobe zuzulegen, die uneingeschränkt und nachdrücklich nur ihn repräsentierte. Auf den ersten Blick sah es aus, als wolle er sowohl einer anderen Rasse zugehören wie auch einem anderen Geschlecht. Er flocht seine Haare zu Zöpfen (die sich inzwischen zu richtigen Dreadlocks verfilzen) und trat auf in blütenweißen Gewändern, die verziert waren mit jüdisch-christlichen Symbolen, vorwiegend dem Davidstern, der für Juden und Rastas gleichermaßen symbolische Bedeutung hat Eigentlich ist George durchaus zufrieden mit seiner Rasse und seinem Geschlecht, aber seine Gabe besteht darin, zusätzlich noch eine vollständig andere Persönlichkeit zu besitzen. Als bleicher und ernster kleiner Heiliger mit Sonnenbrille wirkt er sehr überzeugend.

Wie er selbst sagt, kommt man aber mit einem ausgefallenen Image allein in diesen Tagen nicht weit. Tatsächlich herrschte in Musikkreisen jede Menge Skepsis, was diesen Jungen betraf, der auf seiner Haben-Seite eigentlich nicht mehr anzubieten hatte als ein ungewöhnliches Aussehen, ständiges Auftauchen in Nachtclubs und Erwähnung in den Klatschspalten. Das Überraschende an George ist, aus dem Blickwinkel des Musikgeschäftes, daß er Mitglied einer neuen Gruppe ist, die mit „Do You Really Want To Hurt Me“ in kürzester Zeit an die Spitze der internationalen Charts schoß. Darüberhinaus hat sich Georges gegenwärtige Garderobe in London wie ein Lauffeuer verbreitet. Der Culture Club scheint eine Zeitstimmung auf den Punkt gebracht zu haben.

Allein hat unser Junge es allerdings nicht geschafft. Die Gruppe entstand, als Drummer Jon Moss im April ’81 George begegnete. Moss ist 24, drei Jahre älter als George, und hat als Schlagzeuger mit derM Clash, den Damned, den Ants und anderen gespielt. Er ist nervös, immer darauf bedacht, alle Sachen richtig zu machen. * Obwohl er sowohl berufsmäßig wie auch gesellschaftlich tief darin steckt, steht er doch auf moralischem Kriegsfuß mit der Musik/Jugend-Szene in London. Seine Einstellung stieß bei George offene Türen ein: “ Vielleicht klingt es viel zu tiefschürfend, alxr… wir waren der Meinung, London sei wirklich dekadent, diese ganze Art, wie man sich so schmuddelig kleidet …“

Ion übernimmt, und er tut es mit Leidenschaft: „Schmier dir Zeug aufs Gesicht; schlampig, schmutzig und alles fällt in Stücke. Von außen geleckt, von innen verdreckt. A ufgedonneiff: aber nichts drunter. Kein Lebensgeist, kein Glaube, keine Religion. Gottlos. Es war, als ginge man auf dem direkten Weg in die Hölle, es war wie Berlin in den dreißiger Jahren. Falsch, abstoßend, nichts als Schein, leer unter der Oberfläche, Glasur auf dem Kuchen.

Als ich George zum ersten Mal begegnete, haben wir uns immer wieder über dieses Thema unterhalten. Ich war schon immer der Meinung, daß sich etwas ändern muß, daß die Leute wieder anfangen müssen nachzudenken. Ich glaube, daß die Religion zurückkehren wird. Es ist nicht so, daß die Leute losgehen und ganz plötzlich wild religiös werden, aber sie denken einfach mehr nach, sie wollen mehr in ihrem Leben erreichen … Wenn man jeden Abend in irgendeinem Nachtclubhängt, dann magdas sechs Monate lang toll sein. Aber nach einer Weile fängt man : J doch an zu denken, es müsse mehr im Leben geben. Dann hatten wir diese religiöse Idee, und von da an ging es los. Ich halte die organisierte Religion für einen Haufen Mst. Denn, Gott ist doch wohl überall, oder?“

„Meine Initialen sind G-O-D“

kichert George O’Dowd dazwischen.

Jon ist Jude, er machte den ehemaligen Katholiken George mit seiner Kultur bekannt. Der große schwarze Filzhut von George ist kein jamaikanischer Rasta-Hut, sondern die gängige Kopfbedeckung orthodoxer Juden. Jon wollte den Davidstern auf der Kleidung benutzen, hinzu kam die hebräische Schriftzeile, die „Kultur und Erziehung, Bewegung aller Völker“ bedeutet.

Nun ist der Davidstern auch auf den israelischen Bombern zu entdecken, die gegenwärtig die Bevölkerung des Libano ren. George und Jor ein, daß der Davidst« sehe (anti-arabische) Assoziauonen auslöst. Aber sie scheinen der Überzeugung zu sein, seine Bedeutung ließe sich auf die beschränken, die sie ihm selbst als Symbol zuweisen.

Soweit sie es sehen, besteht ein größerer Nachteil der jüdischen Symbolik darin, daß die Rasta-Assoziationen alle anderen Einzelheiten der gestalterischen Idee verschütten. Andererseits verleiht gerade die Mischung von Rasta, Reggae und Religion dem Culture Club seine Schlüssigkeit und seine Individualität.

George liebt Mode so lange, wie sie Spaß macht, aber äußert sich erbittert dagegen, wenn sie in Negativität und Bösartigkeit umschlägt. „Diese ganze Verkleidungs-Szene, die sich mit vergammelten Kleidern behängte! Im ‚Blitz‘-Cale etwa standen sie rum. Ich land sie ganz schrecklich, ich habe sie wirklich gehaßt. Die Leute bezahlten dafür, daß es ihnen dreckig geht.

Inzwischen ist es ja so, daß man nicht mehr cool ist in London, wenn man sich herausputzt. Aber ich liebe die Leute, die sich autdonnern, die Makeup tragen, ich halte sie für die besten Typen in London, denn sie kehren sich einen Scheißdreck um die anderen. Sie haben einlach ihren Spaß daran, und das ist meiner Meinung nach das Wichtigste.“

Und was halt er von den Leuten, die sich in Culture-Club-Abziehbilder verwandeln?

“ Großartig, lind’ich toll. Aber wenn man Leute als Abziehbilder bezeichnet, dann ist das Blödsinn, denn jeder läßt sich ieen anderer beeind im Moment liegt ieses Feeling in der L.UH.

Diese Kids kommen zu unseren Gigs, sie haben eine Menge Make-up aulgetragen und sie tragen ihre Haare in Zotteln. Klar, sie versuchen, so auszusehen wie wir, aber wenn man die Leute dazu bewegt, etwas zu machen, weil sie darauf stehen und ihren Spaß daran haben, dann ist das doch toll! Wenn hingegen die Leute hereinstolzieren, die Haare in Dreadlocks und mit genau demselben Hut wie ich, und dann auch noch so tun, als seien sie die ganz großen Scheiß-Kings und mich obendrein anmachen, dann finde ich das echt deprimierend. Ich geh doch auch nicht rum und sage: Ich hob damit angelangen, ich war der Erste!“

George behauptet, daß er das Interesse an dem Mode-Aspekt der Gruppe verloren habe und sich jetzt hauptsächlich darauf konzentriere, sie in die Charts zu boxen. Aber ihr gegenwärtiger Status in London gründet sich offensichtlich auf die Tatsache, daß sie mit ihrer Kleidung identifiziert werden und dadurch eine ganze Horde von Boy George-Imitatoren in die Welt gesetzt haben. Die Bewegung hat sich explosionsartig ausgeweitet, weil es augenscheinlich dafür ein Vakuum gab. Moss hat zusätzliche Gedanken anzubieten, warum der culture Club gerade in diese Zeit paßt: „Ich glaube, es ist ein idealistisches Jahr. Ich glaube, daß die Leute trotz der wirtschaftlichen Misere der Meinungsind, daß sie mehr Sachen anfassen und erreichen können. Die Leute suchen nach Idealen. Sie schaffen sich rein und strengen sich an. Ich glaube, die Leute orientieren sich wieder mehr an einem Arbeitsethos.

Im letzten Jahr hieß es ’nightclubbin‘, die ganze Nacht unterwegs sein, Drogen, Sex, allgemeine Dekadenz und Scheiß drauf, habt Spaß, und nach uns die Sintflut‘. In diesem Jahr schaffen sich die Leute rein und haben entschieden, daß diese negative Art von Gesellschaftsleben nicht wichtig ist. Sie wollen weiterkommen und etwas schaffen und Sachen machen. Sie wollen tatsächlich mehr mit Verstand tun und mit Vernunft, sie versuchen, ihr egozentrisches Gehabe einzuschränken. Sie versuchen, sich selbst klarer zu sehen und auch das, was um sie herum geschieht. Und das meine ich mit idealistisch.“

Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Gesellschaft, wie Jon sie gern hätte – und soweit es ihn und seine Gruppe betrifft, mag diese Einschätzung wahrscheinlich auch zutreffen. Die Gegensätzlichkeit, die er zwischen dem sieht, was er Dekadenz nennt, und dem Arbeitsethos färbt dabei das Bild. Das Gehopse von einem Nachtclub zum anderen mag vielleicht nicht mehr so angesagt sein, aber das liegt wohl eher daran, daß es seinen Neuigkeitswert verloren hat und das Nachtleben eh zu flüchtig ist, um in einer labilen und launischen Kultur zu’einem permanenten Lebensstil zu werden.

Aber der Gedanke, „sich reinzuschaffen“, klingt plausibel. Eine gewisse Unsicherheit macht sich zwar bemerkbar, was die nächsten Schritte betrifft. Die Symbole von Culture Club passen in die Zeit, denn sie deuten auf idealistische Ideen ohne konkretes Engagement, auf eine spirituelle Attitüde ohne tatsächliche Religion.

Die Gruppenmitglieder selbst – George, Jon, Michael Craig, Roy Hay – sind fest in dieser Geisteshaltung verwurzelt. Ihr moralischer Anker (wenn man auch nicht mit Sicherheit sagen kann, wie tief er reicht) ist eine eigenartige, aber scheinbar logische Judaismus/Rasta-Mentalität. Instant-Würde.

‚ Ihre Hauptstärke liegt in einer offensichtlich mühelosen Befähigung, Arten von schwarzer und weißer Musik miteinander zu verbinden. Und sie besitzen einen tollen Gruppennamen, den sich eigentlich schon jemand zuvor hätte einfallen lassen können. George kam letztendlich darauf, nachdem er weniger glückliche „Clubs“ wie Caravan Club und Can’t Wait Club ersonnen hatte. Der Culture Club ist seit langer Zeit die erste Mode-Gruppe, die ein kompliziertes Image hat und sich dabei nicht auf amerikanische Rockmusik oder sonstige Showbiz-Mythologien stützt. Religion ist attraktiver als Politik, denn sie kann sich hinter einer Aura verstecken und intellektuelle Argumente vermeiden. Es liegt eine sehr angenehme Ironie darin, daß man mit ansehen kann, wie die jugendliche Cafe-Gesellschaft in London herumläuft und die Zeichen des alttestamentarischen Gerichts zur Schau stellt.