Bingo


Mick Jagger war der letzte, Madonna wird die nächste sein: Für ihre prominenten Aushängeschilder zahlen Plattenfirmen Preise, die jenseits jeder kalkulatorischen Vernunft liegen. Doch wenn nicht für ihre Platten — wofür sonst füttert man die Popstars mit aberwitzigen Millionen?

„Im März ’85 war die Band pleite. Die Jungs mußten ihre Häuser verkaufen. Das Finanzamt saß uns im Nacken jeden Tag!“

Es ist noch gar nicht so lange her, daß Tim Collins, Manager der Hardrock-Heroen Aerosmith, und seine Schützlinge am absoluten Nullpunkt standen. Doch mittlerweile sehen die Dinge sehr viel freundlicher aus: Die Band hat kürzlich einen der lukrativsten Verträge in der Geschichte des Musikbusiness unterschrieben.

Insider vermelden, daß Aerosmith für den über vier Alben laufenden Deal mit Columbia (Tochterlabel von Sony Music) 13,5 Millionen Dollar Vorschuß kassieren — sechs Millionen Dollar für neue Produkte sowie siebeneinhalb Millionen für die Rechte an ihrem alten Columbia-Katalog. Außerdem erhält die Gruppe für jede CD, LP und MC angeblich 25 Prozent des Nettopreises, einer der höchsten Sätze, der jemals gezahlt wurde, und für jedes neue Album sind noch einmal fünf Millionen Dollar Vorschuß fällig.

Aerosmiths Multi-Millionen-Jackpot ist nur ein Beispiel für eine Flut ähnlicher Verträge, die das Einkommen der Superstars auf immer neue Rekordmarken schrauben. Sesam-öffne-dich-Erlebnisse gab es in den letzten Monaten auch für die Rolling Stones, Michael und Janet Jackson sowie für Mötley Crüe. Und am Horizont zeichnen sich bereits neue Sensationen ab: Madonna verhandelt mit Time-Warner über einen neuen Vertrag; und ZZ Top — in den 80ern ¿

eines der besten Pferde im Warner-Stall — werden sich vermutlich demnächst, aller Vertragsverpflichtungen ledig, auf den freien Markt begeben.

„Phänomenal“, beschreibt Collins das Interesse der Musikindustrie an den Einzelheiten zu Aerosmiths Vertragsabschluß. „Die Rockmanager rannten mir die Bude ein. „Nicht weniger phänomenal ist die Tatsache, daß noch vor sechs Jahren niemand einen Pfifferling für die Band gegeben hätte. Und, so glücklich Collins auch über den warmen Geldregen ist — etwas anderes befriedigt ihn noch mehr:

„Vorschüsse und Tantiemen sind wahrlich nicht zu verachten“, sagt er, „aber das Wichtigste ist. daß die Band damit in den kleinen, aber feinen Club der absoluten Superstars aufgestiegen ist. „

Collins‘ Stolz ist verständlich, aber so exklusiv ist dieser Club gar nicht mehr: Janet Jackson, die gerade mal zwei Hitalben vorweisen kann, wechselte vor kurzem für die stolze Summe von 30 Millionen Dollar zu Virgin. (Ihr Management behauptet, es wären sogar noch ein paar Millionen mehr gewesen.) Und Mötley Crüe, einer der erfolgreichsten Acts auf Warners Label Elektra, aber nicht gerade ein Anwärter für die ewige Bestenliste, haben gerade ihren Vertrag um vier Alben verlängert und damit ihren Kontostand um 25 Millionen Dollar verbessert.

Allerdings tut Columbia gut daran, an Aerosmiths zeitlose Qualitäten zu glauben, denn es wird eine ganze Weile dauern, bis sich die Millionen amortisieren. Aerosmith schulden ihrem derzeitigen Label Geffen noch zwei Studioalben und einen Greatest-Hits-Sampler, und so könnten gut und gerne sechs Jahre ins Land gehen, bevor ihr erstes Columbia-Werk auf den Markt kommt. Leadsänger Steven Tyler ginge dann hart auf die 50 zu. Daß sämtliche Mitglieder von Aerosmith vor Ablauf des Vertrags theoretisch schon ihre Rentenanträge einreichen könnten, spricht Bände über den derzeitigen Marktwert bewährter Talente.

Dabei erinnern sich viele noch an die Zeiten, als ein Künstler lebenslänglich an sein Label gebunden war. Bis weit in die 70er Jahre hinein waren Verträge über zehn Alben die Norm, und für Newcomer sieht es bis heute nicht viel besser aus. Die meisten Plattenfinnen garantieren nur ein oder zwei Alben, sichern sich jedoch für den Erfolgsfall Optionen auf sechs oder sieben weitere. Walter Yetnikoff, früher verantwortlich für Sonys musikalische Aktivitäten, kommentiert die Bedeutung langfristiger Verträge so:

„Steven Spielberg kann morgen einen Film für jedes Studio drehen, das ihm zusagt. Barbra Streisands Vertrag bei uns läuft so lange, daß es ihr wahrscheinlich lieber ist. wenn ich nicht darüber rede.“

Doch das alte System, das die Musiker daran hinderte, ihren Marktwert kontinuierlich zu steigern, scheint dem Untergang geweiht: Vorschüsse und Tantiemen steigen in schwindelerregende Höhen, und viele der Praktiken, mit denen sich Plattenfirmen seit eh und je das größte Stück des Kuchens sichern — z.B. bei der Tantiemenberechnung nur 85 Prozent der verkauften Stückzahlen zu berücksichtigen und davon noch einmal 25 Prozent für Verpackungskosten abzuziehen — werden seit neuestem umgangen. „Bei Verträgen mit Superstars gibt es keine Einschränkungen“, sagt Anwalt Michael Sukin. „Solche Sachen sind bei Mega-Deals irrelevant, weil man dort den Normvertrag einfach aus dem Fenster schmeißt und fragt: , Was für Konditionen hättet ihr denn gern?‘.“

Trotzdem bleibt die Frage offen, warum sich das Kräfteverhältnis so dramatisch verschoben hat. Die Antwort lautet schlicht und einfach: Ein über lange Jahre erfolgreicher Act ist eine rare und wertvolle Investition.

Außer den Einkünften, die sich mit solch einem Goldstück erzielen lassen, kann ein großer Name auch weitere Millionenseller anziehen. Die enorme Reputation, die Bob Dylan seinem Label Columbia verschaffte, hat angeblich Bruce Springsteen und Billy Joel dazu bewogen. ebenfalls dem zu unterschreiben. Ein ähnlicher Fall sind Guns N‘ Roses, die nur deswegen zu Geffen wollten, weil das (noch) die Heimat von Aerosmith ist.

Niemand würde behaupten, daß Musiker geborene Geschäftsleute sind. Aber die erfolgreichsten von ihnen haben dazugelernt, und einer der wichtigsten Faktoren für diese Entwicklung sind die astronomischen Preise, die in den letzten Jahren für Plattenfirmen bezahlt wurden.

Seit geraumer Zeit machen Unternehmen der Unterhaltungs- und Elektronikbranche Milliarden locker, um sich ein Plattenlabel zuzulegen. PolyGram gab über 750 Millionen Dollar für A&M und Island aus. Geffen war MCA immerhin noch 545 Millionen wert. Kein Wunder, daß Musiker den Wert ihrer Arbeit in einem neuen Licht sehen. „Wenn du hörst, daß deine Plattenfirma ftir einen Betrag verhökert wurde, der 20 bis 30 Mal über den jährlichen Einkünften liegt, denkst du dir: .Davon möchte ich auch meinen Teil'“, meint Aerosmith-Manager Collins.

Die gigantischen Beträge, zu denen viele Label den Besitzer wechseln, hat auf Seiten der Musiker auch zu der Erkenntnis geführt, daß sie das Kapitel ihrer Plattenfirma bilden — und daß sich diese Tatsache in ihren Verträgen bisher nicht ausreichend niedergeschlagen hat.

Plattenfirmen zahlen ihren Schäfchen üblicherweise einen festgelegten Anteil am Netto-Detailpreis (also dem Preis, zu dem die Plattenfirma das Album an den Handel verkauft). Bevor sich der Künstler an die Arbeit macht, erhält er einen Vorschuß auf die zu erwartenden Tantiemen. Je bekannter und erfolgreicher er ist. desto höher fallen Vorschuß und Tantiemen aus. Bonusleistungen wie die sechs Millionen Dollar für Aerosmith werden normalerweise nicht mit den Einnahmen verrechnet. Vor seinem neuen Deal mit Sony erhielt Michael Jackson angeblich 18 Millionen Dollar Vorschuß pro Album, von denen drei Millionen als Bonus gezahlt wurden, d.h. von seinen Tantiemen sah Jackson erst dann etwas, wenn die Plattenfirma ihre 15 Millionen Vorschuß wieder hereingeholt hatte.

Eine Menge Kohle, fürwahr. Trotzdem stellt sich die Frage: Könnten echte Superstars nicht noch mehr abstauben? Verglichen mit dem Schauspieler Bill Cosby, der an den Einkünften aus seiner Fernsehshow beteiligt ist und über die gesamte Laufzeit theoretisch bis zu 600 Millionen Dollar verdienen kann, sieht selbst Michael Jackson wie ein Waisenknabe aus. Plattenverträge berücksichtigen nur den kommerziellen Wert eines Produkts — der Platte — und nicht den gesamten Marktwert eines Künstlers, der sich aus seinen bisherigen Werken und seiner Karriere ergibt. Diese Faktoren wurden bisher stillschweigend unter den Teppich gekehrt.

Mit seinem neuen Vertrag bei Sony hat Michael Jackson in diesem Punkt Neuland betreten. Obwohl die Aussage von Sony Music-Boß Tommy Mottola, dieser Vertrag sei eine Milliarde „werf, wohl eher dazu diente, Jackos Ego zu streicheln, wurde hier tatsächlich erstmals eine Art Gewinnbeteiligung eingeführt, die Superstars und ihre Manager aufhorchen lassen sollte: Sony zahlt Jackson zwar weniger Geld im voraus, hat ihn aber dafür quasi zum Aktionär gemacht.

Wenn man Insider-Meldungen Glauben schenken darf, erhält Jackson künftig nur noch fünf Millionen Vorschuß (auf 25 Prozent, einer der höchsten Sätze in der Branche) und wird dafür mit einem Teil des Firmengewinns entschädigt, der sich — nach Abzug der Vertriebskosten — auf etwa 50 Prozent belauft. Unter diesen Bedingungen müßte Jackson weltweit mehr als zehn Millionen eines Albums verkaufen, um in den Genuß der Gewinnbeteiligung zu kommen. Angesichts der bisherigen Verkaufszahlen stehen seine Chancen gar nicht schlecht.

Ungewöhnlich gute Deals ziehen meist auch diejenigen an Land, die ihren Vertrag erfüllen und sich danach, statt ihn zu verlängern, auf dem freien Markt umsehen. (Solche Acts werden im auch als „free agents“ bezeichnet.) Beispiele dafür sind R.E.M., Bob Dylan, Elton John, Paul Simon, die Rolling Stones, Paul McCartney — und Janet Jackson, die vor kurzem für 48 Millionen von A&M zu Virgin wechselte. Das klingt nach sehr viel, zumal Janet kein eigenes Material schreibt. Doch kühl kalkulierende Plattenbosse kann nicht einmal das beeindrucken. „Ein Klekkerbetrag, wenn man es mit dem vergleicht, was ßr Labels bezahlt wird“, meint Irving Azoff. „So etwas kann besser sein, als die Firma direkt zu übernehmen. Für finf Prozent von dem, was mich A&M kosten würde, werbe ich ihren erfolgreichsten Act ab. “ Derzeit hält sich Azoff, der früher bei MCA im Chefsessel saß und damals unter anderem Elton John und Boston einkaufte, aus den ¿ Branchenjareon

Mega-Deals heraus, hauptsächlich deswegen, weil ihm entweder das Angebot oder der Preis nicht zusagt.

Wahrscheinlich wird die Branche bis zum nächsten Millionen-Deal eines „free agent“ nicht lange warten müssen: Wie es heißt, schulden ZZ Top ihrem Label nur noch ein Greatest-Hits-Album. Das heißt natürlich nicht, daß Warner sich nicht bemühen wird, die Rauschebärte zu halten — schließlich hat sich Elektra Mötley Crüe fast 40 Millionen Mark kosten lassen.

Obwohl sich Expansionsgelüste in der Vergangenheit häufig nicht ausgezahlt haben, glauben viele Plattenfirmen immer noch daran, daß ein größerer Marktanteil mehr Sicherheit bietet. Und sie sind dafür bereit, einen Teil ihres Gewinns zu opfern. „Wenn du Bruce Springsteen nicht unter Vertrag hast, wieviel ist es dir wert, ihn zu bekommen?“, so ein branchenerfahrener Manager. „Auf welchen Anteil deines Gewinns bist du bereit zu verzichten? Wenn du 40 Prozent abgeben willst, machst es dann nick mehr Sinn, gleich auf 80 Prozent zu gehen, und die restlichen 20 Prozent von einem Superstar verdienen zu lassen, den du sonst nicht an Land gezogen hättest?“

Natürlich wären die Gewinnspannen noch weit höher, wenn eine Plattenfirma Hits landen könnte, ohne dafür kostspielige Superstars verpflichten zu müssen. Ein Charts-Erfolg eines Newcomers, der nur 12 Prozent Tantiemen bekommt, bringt logischerweise mehr ein als der eines Superstars, der 25 Prozent einstreicht. Doch wen kümmert es, wieviel etwas kostet, wenn Marktanteile mehr zählen als Gewinnspannen?

Der Aerosmith-Deal demonstriert auch, wie ein Label mit Millionenbeträgen vergangene Fehler ausbügelt. Während Warner und seine Tochterlabel Elektra und Atlantic während der letzten Jahre diverse Newcomer aufgebaut haben — an der Spitze Guns N‘ Roses, Metallica, Mötley Crüe und Skid Row — gelang das bei Sony nicht. Man hatte sich zu lange auf dem Lorbeer längst etabüerter Bands ausgeruht.

Die Ironie des Aerosmith-Deals liegt darin, daß die Band praktisch am Ende war, als sie Columbia 1985 verließ — und heute kauft dasselbe Label sie für Unsummen zurück, weil seine Hardrock-Abteilung praktisch am Ende ist. Der künstlerische und kommerzielle Neubeginn der Gruppe vollzog sich bei Geffen Records, und obwohl Geffen Gerüchten zufolge ein auch nicht gerade mickriges Angebot machte, war man schließlich doch gewillt, die Band ziehen zu lassen. David Geffen muß sich auch nicht verzweifelt an Aerosmith klammern — schließlich hat er ja Guns N“ Roses.

Mehr noch, er hat eine Firma, die weiß, wie man neue Acts aufbaut und vermarktet. Geffen braucht Aerosmith nicht so dringend wie Sony.

Als ausländischer Besitzer einer amerikanischen Firma erkauft sich Sony mit seinen Millionen möglicherweise auch mehr Popularität. „Ausländische Investoren haben es schwer“, erklärt ein Manager. „Nimm jemanden wie Michael Jackson, ein amerikanisches Idol. Wenn der einen negativen Kommentar abgibt — so etwas wie ,Meine Güte, was haben sie bloß mit meinem Label gemacht!‘ — hätte das katastrophale Folgen. Die Kooperation der Künstler ist von entscheidender Bedeutung.“

Am 22. November ’91 brach der Kurs der Sony-Aktie um fast 20 Prozent ein. „Als ich am nächsten Morgen die Zeitung außchlug und las, daß die Rolling Stones Sony verlassen hatten“, meinte ein japanischer Börsenmakler, “ war mir auch klar warum. „

Verwundbar sind aber nicht nur ausländische Investoren. In Time-Warners Jahresbilanzen zum Beispiel hat Madonnas Foto immer einen Ehrenplatz. Und das nicht ohne Grund:

Außer den 500 Millionen Dollar, die Madonna ihrer Firma (laut eigener Aussage) bisher eingebracht hat. ist sie wahrscheinlich nach Bugs Bunny das bekannteste Aushängeschild des Unternehmens. Warner-Boß Steven J. Ross weiß, daß ihm vor einem Hasen keine Gefahr droht. Madonna dagegen könnte ihm das Leben äußerst schwer machen.

Man kann über Madonnas kreatives Potential sagen, was man will — zum Beispiel, daß ihre Verkaufszahlen seit LIKE A VIRGIN stetig gesunken und ihre Tourneen alles andere als ausverkauft sind — aber darum geht es nicht. Superstars wie Madonna oder Michael Jackson erkennen allmählich, daß sie eine Schlüsselrolle auf einem globalen Markt spielen, der einfach noch nicht existierte, als sie ihren ersten Vertrag unterschrieben. Es zählt eben nicht mehr nur die Musik, nicht einmal die Zahl der verkauften Platten oder Eintrittskarten — Gewinner ist, wer einem internationalen Mediengiganten das überzeugendste Image, den höchsten Bekanntheitsgrad bieten kann.

Warner-Boß Ross war persönlich an den Verhandlungen mit Madonna beteiligt, bevor die Gespräche ins Stocken gerieten. Branchenklatsch zufolge hatte es Time-Warner nicht besonders eilig, Madonnas Forderungen nachzugeben (zu denen unter anderem eine eigenständige Film- und Musikproduktionsfirma, ähnlich der von Michael Jackson gehört). Schließlich schuldete sie dem Warner-Label Sire noch drei Alben — warum also die Dinge überstürzen?

Beide Seiten können sich letztlich bei Sony bedanken: Der Jackson-Deal zeigte Madonna, was man mit ein bißchen Druck alles kriegen kann. Und Columbias Goldregen über einer Band, die vermutlich erst 1997 für das Label arbeiten wird, bewies den Warner-Bossen, daß ein noch laufender Vertrag durchaus kein Hindernis für einen Wechsel ins feindliche Lager sein muß.

Es gibt eine Menge Firmen, die Madonna das bieten können, nach dem ihr Herz verlangt: Sony, Poly-Gram, Matsushita (Besitzer von MCA) und Thorn/EMI tummeln sich alle auch in der Filmbranche. Und wer, wie PolyGram. mal eben 300 Millionen für das Label Island hinlegen kann, würde wohl auch für Madonna ein paar Mark übrighaben …

Ganz egal, wie sich die Dame entscheiden wird, eines steht jedenfalls fest: Das Leben wird für die Plattenbosse in Zukunft nicht gerade einfacher werden. Aber Madonna ist das natürlich schon immer klargewesen:

„We’re living in a maierial world, and I am a maierial girl!“