Konzertbericht

„Berlin war schön und nichts tat weh“: So gut war Caspers Konzert in der Max-Schmeling-Halle


Kontraste statt Kompromisse: Casper hat dem Berliner Publikum im Rahmen seiner Tour 2022 bewiesen, dass genau das möglich ist. Ein Konzertbesuch.

Bis zum Tag des Konzertes, dem 16. Dezember 2022, war unklar, ob Caspers Show in der Max-Schmeling-Halle Berlin überhaupt stattfinden oder, wie der Auftritt am Vorabend in Hannover, abgesagt würde. Gegen Mittag verbreitete der Musiker dann über Instagram die erfreuliche Nachricht: „Trotz Krankheit findet der Auftritt statt.“ Yes!

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So öffneten sich an diesem Abend die metallenen Tore der Veranstaltungshalle für mehr als 10.000 Fans. Die auf der Bühne montierten Buchstaben „T“, „U“ und „A“ lieferten sofortigen Aufschluss über die Vorband. Tua also. Da das ehemalige Mitglied der Orsons auf ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH (2022) mit „TNT“ eines der sechs Features liefert, war nicht nur die Vorfreude auf Tuas Set, sondern auch auf den gemeinsamen Song groß. Bereits im Februar hat Casper samt Live-Stream sein Release-Konzert zu ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, dem Nachfolge-Werk von LANG LEBE DER TOD (2017), gefeiert und damit die Messlatte für alle folgenden Shows hoch gehängt. Spoiler: Auch sein Berlin-Konzert im Dezember sollte ein Ohren- und Augenschmaus werden.

Tua = König der Melancholie (gepaart mit fetten Beats)

20:00 Uhr: Tua betritt die Bühne und binnen zehn Sekunden tobt die gesamte Halle. Die erste Frau im Publikum zündet sich eine Kippe an, eine weitere Person klettert auf die Schultern einer anderen (und wird sofort von der Security gebeten, dies tunlichst sein zu lassen). Man hätte vermutlich alles erwartet, aber nicht, dass der Rapper solo, lediglich mit Drumcomputer und „Nord“-Piano ausgestattet auf der Bühne stehen würde. Es erklingen fette, dunkle Synthesizer, die den Raum zum Wabern bringen und der Musiker beginnt mit „Melancholie“ seine Show. An diesem Abend sollte es später nicht nur für Casper, sondern auch für Tua rote Rosen aus dem Publikum regnen. Die gesamte Setlist gibt es unten.

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Casper über den „schönsten Chor der Welt“

Nach Tuas Acht-Track-Set schließt sich der Vorhang wie nach dem Prolog eines Theaterstücks. Das Licht geht an, es erklingt Harry Styles‘ „As It Was“, danach „Blank Space“ von Taylor Swift und das Publikum feiert einfach weiter. Des Schauspiels zweiter Teil beginnt ungefähr gegen 21:00 Uhr. Der Vorhang geht auf und Blumen übersäen nun die gesamte Bühne. Ein alter Baum, dessen Krone bunte Blätter in Herbstfarben trägt, steht mittig links. Rechts positioniert sich die Band, bestehend aus zwei Gitarren, Keyboard, Schlagzeug, Cello und Bass, auf einer kleinen Tribüne.

Natürlich liefert „ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH“ (2022), der erste Song auf Caspers gleichnamigem Album, auch live das Intro. Während das Stück noch ausklingt, weicht der Mikrofonständer dem Handmikro, das sich der Musiker schnappt und die ersten Worte von „Im Ascheregen“ (HINTERLAND, 2013) rappt. Die Menge tobt und für einen Moment scheint es das Schwierigste der Welt, Notizzettel und Kuli mitten im Moshpit fest in der Hand zu behalten. Mit „Alles endet (aber nie die Musik)“ schmettert er den zweiten Klassiker seines dritten Studiowerks. Kein Wunder, dass er das Publikum gegen Ende des Tracks als „schönsten Chor der Welt“ deklariert. So textsicheres, singwilliges Publikum gibt es selten.

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Demut und „Jin Jiyan Azadî“ in der Max-Schmeling-Halle

Schlagartig ändert sich die Stimmung, wie es an diesem Abend noch häufiger geschehen wird. Die Bühne verdunkelt sich und passend dazu erklingt „MIESES LEBEN / WOLKEN“ (2022), das auf der Platte samt Haiyti-Feature daher kommt. „Adrenalin“ (1982, 2018) und „Sirenen“ (LANG LEBE DER TOD, 2017), bei denen Strobo-Licht und unzählige Moshpits dominieren, leiten einen (erneuten) bizarren Kontrast ein. Die Party überdauert die beiden Tracks und dann wieder, Schlag auf Schlag, ein Lichtspot auf den Musiker und Ruhe. Im Hintergrund flackert eine riesige Projektion von Blitzen, die „DAS BISSCHEN REGEN (DIE VERGESSENEN PT 4)“ (2022) verbildlicht. Und wie durch das Unwetter auf der Leinwand angekündigt soll es nach einer kurzen Verschnaufpause im gesamten Saal noch stiller werden. Grund dafür ist der Schriftzug „Jin Jiyan Azadî, ژن، ژیان، ئازادی, Women Life Freedom“. Unkommentiert bleibt die Lichtinstallation bestehen, bis der demütige Applaus langsam abebbt.

Unbemerkt ist in diesem Moment Drangsal auf die Bühne geschlichen, um mit seinem Kollegen und Freund den gemeinsamen Song „Keine Angst“ (2017) zu performen. Danach geht es mit „Supernova“ (2018), „Jambalaya“ (2013) und „Lilablau“ feat. Drangsal (XOXO, 2011) weiter. Dann erzählt Casper, dessen bürgerlicher Name Benjamin Griffey ist, dass er es bis heute nicht glauben könne, dass eine ganze Halle voller Menschen seine „verrückten, traurigen Lieder“ hören möchte. „Es gibt tausende Dinge, die ihr alle an diesem Abend hättet tun können, aber ihr seid hier und das bedeutet mir die Welt.“ Als nächstes folgt „20qm“, das er samt Begleitung auf der akustischen Gitarre vorträgt. Und da immense Kontraste DAS Stilmittel seiner Show zu sein scheinen, löst Tuas Bühnen-Rückkehr das intime Akustik-Duo auf und „TNT“ (2022) beginnt.

Es startet eine fette Party, die sich gewaschen hat. Sodann ein Trommelschlag und die nächsten Worte auf der Leinwand. Tua geht, Casper auch. Alles was bleibt sind die Band und weiße Worte auf schwarzer Leinwand, die Depressionen und den Einfluss der Pandemie auf die Krankheit thematisieren. Unter dem Satz „Du bist nicht allein“ werden zum Schluss Anlaufstellen für hilfesuchende Personen genannt. Es wird applaudiert, Casper kommt zurück in das Rampenlicht und beginnt kommentarlos die folgende Nummer „LASS ES ROSEN FÜR MICH REGNEN“ (2022). Dazu lassen sich die Fans gerne auffordern und katapultieren binnen Sekunden rote Rosen vor die Füße des Musikers. Es folgen „Blut sehen (Die Vergessenen Pt. 2)“ (2013) samt mehr als 20.000 wippender Hände, „Auf und davon“ (2013) und „Ganz schön okay“ (2013).

Nie wieder Krieg

In roter Schrift erhebt sich „War can never be the answer“, ein Zitat des verstorbenen Schwarzen Musikers und Aktivisten Fela Kuti, das den gesamten folgenden Song „BILLIE JO“ auf der Leinwand überdauert. Eine Nummer, bei der der Rapper über die posttraumatische Belastungsstörung eines Soldaten und den daraus resultierenden Mord an seinen Kindern, seiner Frau und im Anschluss seiner selbst rappt. Dass Billie Jo der Name von Caspers Cousine ist, deren Mann nach einem traumatisierenden Einsatz als Army-Pilot an seinen Erlebnissen zerbrach, macht den Song noch realer, als er ohnehin bereits ist. 2016 trug sich in der Familie des Musikers, der selbst bis zum elften Lebensjahr in Amerika großgeworden ist, die Tragödie zu. Das zermürbende Realitätsporträt führt zu Stille, bei der jede Bewegung unangebracht scheint. Es wird kein Wort gesprochen, aber das gesamte Publikum teilt diesen Moment.

Das politische Statement endet mit dem Losfliegen einer animierten Friedenstaube auf der Leinwand und den Worten „Nie wieder Krieg“, dem Titel des diesjährigen Tocotronic-Albums. Mit „WO WARST DU?“(2022), „So perfekt“ (2011) und „Hinterland“ (2013) folgen die nächsten drei Stücke, bei denen es sich seltsam absurd anfühlt zu feiern, während noch die Worte auf der Leinwand im Kopf nachhallen. Die Musiker*innen und Casper verlassen nach „Hinterland“ die Bühne, doch die singenden „Ooohs“ des Publikums hören nicht auf. Der unbeirrte Lockruf des Publikums wird belohnt, als die Band wieder zurück kommt.

Der Hauptteil ist vorbei, es folgt der Epilog des Stücks. Den Anfang macht „Lang lebe der Tod“ (2017). Mit „GIB MIR GEFAHR“ (2022) wird die Zuhörerschaft anschließend aufgefordert, ein letztes Mal an diesem Abend in die Vollen zu gehen. Es bildet sich ein Moshpit, der den gesamten Innenraum der Max-Schmeling-Halle einnimmt und das Publikum am Rand des Innenbereichs zusammengepfercht zurück lässt. Auf das Kommando des Rappers stürzen sich die Menschen aufeinander, bereit, dem Songtitel als eine pulsierende Masse gerecht zu werden. „Berlin war schön und nichts tat weh“, so steht es im Anschluss auf der Leinwand geschrieben. Die Musiker*innen kommen an den Bühnenrand, verbeugen sich, der Vorhang geht zu. Die Musik aus den Boxen geht an und es erklingt „Rock the Casbah“ (hah!) von The Clash, die Menge löst sich auf. Es war ein Abend, an dem ohne viele gesprochene Worte Monologe kommuniziert wurden und unzählige Gefühle zurückbleiben.

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Casper live in Berlin – die Setlists vom 16. Dezember

Tua:

  1. Melancholie
  2. Sayonara
  3. Vorstadt
  4. System
  5. Feuer & Öl (Die Orsons)
  6. MDMA
  7. Dana
  8. Wem mach ich was vor

Casper:

  1. ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH
  2. Im Ascheregen (HINTERLAND, 2013)
  3. Alles endet (aber nie die Musik) (HINTERLAND, 2013)
  4. MIESES LEBEN / WOLKEN (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  5. Intro + Adrenalin (1982, 2018)
  6. Sirenen (LANG LEBE DER TOD, 2017)
  7. DAS BISSCHEN REGEN (DIE VERGESSENEN PT 4) (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  8. Intro EUPHORIA ((ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022) + Keine Angst feat. Drangsal (LANG LEBE DER TOD, 2017)
  9. Supernova (1982, 2018)
  10. Jambalaya (HINTERLAND, 2013)
  11. Lilablau feat. Drangsal (XOXO, 2011)
  12. 20qm (HINTERLAND, 2013)
  13. TNT feat. Tua (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  14. LASS ES ROSEN FÜR MICH REGNEN (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  15. Blut sehen (Die Vergessenen Pt. 2) (XOXO, 2013)
  16. Auf und davon (XOXO, 2013)
  17. Ganz schön okay (HINTERLAND, 2013)
  18. BILLIE JO (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  19. WO WARST DU? (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)
  20. So perfekt (XOXO, 2011)
  21. Hinterland (HINTERLAND, 2013)
  22. Lang lebe der Tod (LANG LEBE DER TOD, 2017)
  23. GIB MIR GEFAHR (ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH, 2022)

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