Berlin durch die Augen von Flüchtlingen – eine Stadtführung


Vor fünf Monaten flohen Arij und Samer aus Damaskus und kamen nach Berlin. Seitdem leben sie im Flüchtlingsheim Wannsee. Jetzt teilen sie ihre Perspektive auf die Stadt.

Karl-Marx-Straße, Berlin Neukölln. Zusammen mit Mitarbeitern von Querstadtein stehen Arij und Samer vor einer Traube Journalisten – zwei Fernsehteams sind auch dabei. Die Gruppe steht in einer kleinen Passage, etwas abseits der Straße, um dem Lärm der Straße zu entkommen. Es ist die Pilot-Tour von „Geflüchtete zeigen ihr Berlin“: eine Stadtführung von Flüchtlingen, die von der Non-Profit-Organisation Querstadtein ins Leben gerufen wurde, die ähnliche Touren bereits mit Obdachlosen anbietet. Arji und Samer arbeiten ehrenamtlich – eine Arbeitserlaubnis haben sie nicht.

Arij und Samer ergriffen die Flucht. Von Damaskus reisten sie über den Balkan nach Deutschland. Sie fuhren mit Bussen, Taxen, bezahlten einem Schmuggler 1200 Dollar, damit er sie in einem völlig überladenen Boot von der Türkei nach Griechenland übersetzt, und wenn es keine andere Möglichkeit gab, dann gingen sie zu Fuß. 30 Tage dauerte ihre Flucht und endete in der Berliner Flüchtlingsunterkunft Wannsee. Fünf Monate ist das her.

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Arij und Samer sind verheiratet, sind 29 und 36 Jahre alt und haben beide Jura studiert. In Syrien ließen sie ein komfortables Leben zurück: Sie war Anwältin, er führte seit zehn Jahren sein eigenes Unternehmen. Jetzt sind sie als „Newcomer“, wie Samer selbst Flüchtlinge nennt, in Berlin. Sie haben keine Arbeitserlaubnis, keine Wohnung, keine Sicherheit, auch langfristig hier bleiben zu können – und einen ganz eigenen Blick auf die Stadt.

Die Führung ist auf Englisch, aber geht es nach Samer, dann macht er sie in ein paar Monaten auf Deutsch. „Wir wollen eine Message senden: Vor dem Krieg hatten die Newcomer ein ganz normales Leben – wie ihr auch. Jetzt müssen die Menschen in Deutschland lernen, dass die Newcomer genau wie sie sind – sonst entwickelt sich eine Stadt in der Stadt“, erklärt Samer das Projekt und nutzt die Gelegenheit, um die versammelte Presse direkt anzusprechen: „Die Medien stellen Newcomer als gefährlich dar. Darum ist das hier wichtig – damit sich die Menschen ein eigenes Bild machen können.“

Nach einer kurzen Begrüßung setzt sich die Gruppe in Bewegung: Unterwegs werden Arji und Samer von den Journalisten belagert. Samer freut sich über das Interesse: „Es ist toll, so viel gefragt zu werden. Diese Tour ist nicht nur über uns, es geht um alle Newcomer.“

Erster Halt der Tour ist der Alfred-Scholz-Platz – vor einer Sparkassen-Filiale. Die Sparkasse ist die einzige Berliner Bank, die bereit ist, den „Newcomern“ überhaupt ein Konto zu eröffnen. Angesichts der erhöhten Nachfrage von Geflüchteten nach etwas Essentiellem wie einem Bank-Konto wurde hier verstärkt arabisch-sprechendes Personal eingestellt – dennoch können die Angestellten die zahlreichen Anfragen nicht immer bewältigen.

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Um ein Konto für sich und Arij zu eröffnen, benötigte Samer drei Anläufe: „Man sagte mir, dass die Sparkasse um 9:30 Uhr öffnet. Also kam ich um 9 Uhr – aber da war die Schlange schon so lang, dass ich an diesem Tag nicht mehr dran kam. Am nächsten Tag stellte ich mich um 6 Uhr morgens an – und hatte wieder keinen Erfolg. Dann stellte ich mich um 3:30 Uhr morgens an und war nach 5 Stunden warten der Erste an diesem Morgen, der ein Konto eröffnen konnte – das hat dann keine 30 Minuten mehr gedauert.“

Newcomer nennen die Sonnenallee nur Arab-Street

Der Tross Journalisten mit Arij und Samer an der Spitze zieht weiter. Kurz vor der Kreuzung Tellstraße/Sonnenallee ist der nächste Stopp. „Ihr nennt diese Straße Sonnenallee“, erklärt Samer uns mit einem Lächeln, „aber die Newcomer nennen sie nur Arab-Street.“ Warum, ist leicht ersichtlich: Auf der Sonnenallee reihen sich arabische Geschäfte an arabische Supermärkte an arabische Restaurants. Laut Samer sind 95 Prozent der Geschäfte hier in arabischer Hand. „Wir kommen zweimal die Woche hier her, um Besorgungen zu machen oder Shisha zu rauchen. Die Arab-Street fühlt sich wie Zuhause an, hier ist einfach alles einfacher“, erklärt Arij.

Die Sonnenallee ist ein wichtiger Bezugspunkt für Geflüchtete aus dem arabischen Raum. Gerade in den ersten Monaten, in denen die Sprache noch fremd und die deutsche Kultur noch fremder ist, helfen Orte wie die „Arab-Street“, um ein Stück Heimat zu finden. Hier werben die Geschäfte mit arabischer Schrift, es gibt unverfälschtes, vom deutschen Geschmack noch nicht beeinflusstes Essen und es liegt eine andere Mentalität in der Luft.

Wie groß die Barrieren allein durch unsere lateinische Schrift sein können, demonstriert Samer mit einem Spiel: Er verteilt Papier-Schnipsel mit arabischer Schrift. Die Aufgabe: Auf der „Arab-Street“ nach den korrespondierenden Geschäften Ausschau zu halten. Das Ergebnis sind suchende Blicke entlang der Reklamen und Geschäfte und die Feststellung, dass es gar nicht so einfach ist, sich so zurechtzufinden. Eine Sprache nicht zu verstehen, ist das eine, aber wie schwierig es wird, wenn man selbst mit der Schrift nicht vertraut ist, demonstriert dieses kleine Spiel eindrucksvoll.

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Geflüchtete blicken anders auf die Berlin. Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor, der Alexanderplatz, die Siegessäule – an diesen Wegpunkten erschließen sich Touristen die Stadt. Geflüchtete haben andere Prioritäten: Arji und Samers Wegpunkte heißen Hermann, Ausländer, Social und The Court.

Hermann ist der Hermannplatz im Herzen Neuköllns – nur abgekürzt. „Wir nennen ihn einfach nur Hermann“, erklärt Samer und deutet auf eine Karte vor seiner Brust, auf der die vier Orte markiert sind. Sein Finger wandert zur Berliner Ausländerbehörde. „Warum verschwendet ihr eure Zeit mit langen Wörtern wie Hermannplatz oder Ausländerbehörde? Wir sagen einfach nur Ausländer.“ Ein dritter wichtiger Ort in Berlin ist Social – die Bezeichnung der Flüchtlinge für das LAGESO. Samer zeigt zeigt auf einen weiteren, essentiellen Ort für Geflüchtete weit im Westen Berlins: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. „Dort wird entschieden, ob man bleiben darf oder gehen muss. Es ist wie ein Gericht mit einem Richter, der über deine Zukunft entscheidet – darum nennen die Newcomer es ‚The Court‘.“

Die Sonnenallee ist ein Inkubator für Integration

Als unsere Gedanken nach dem imaginären Ausflug in den Westen wieder in die Sonnenallee zurückkehren, erfährt der Bedeutungswandel dieser Straße eine weitere Dimension. Dass gerade diese Straße, die „Arab-Street“, die in den Köpfen der Deutschen vorrangig mit der deutschen Teilung assoziiert wird, nun ein Ort der Begegnung ist, ist ein schöner Gedanke. Und es ist wichtig, solche Orte zu haben, denn sie dienen den Neuankömmlingen als Anker in einer fremden Kultur und können Inkubator für Integration sein.

Samer_mit_Karte

Neben Arij und Samer werden noch weitere Geflüchtete in Zusammenarbeit mit Querstadtein ihr Berlin zeigen. Ein wirklicher Job ist es für Arji aber nicht: „Es ist interessant – es ist nicht wie ein Job. Ich mache etwas Interessantes für mich und für euch.“ Ob und wann Arji und Samer wieder zurück nach Syrien gehen, wissen sie nicht. Aber in Berlin fühlen sie sich wohl: „Berlin ist eine Hauptstadt – wie Damaskus.“

Thomas Porwol
Thomas Porwol
Thomas Porwol