Alles für diesen Moment!
Im Angesicht der Bedrohung durch das Internet ringt das Fernsehen um Daseinsberechtigung als Medium, in dem die Emotionen pulsieren. Aber was war denn nun so unvergesslich an 2008?
„Das Leben schenkt uns unvergessliche Momente. Schön, dass wir sie mit anderen teilen können.“ So salbte im Sommer ein Spot der Telekom, der nicht etwa dafür warb, mal wieder mit Freunden ins Grüne zu fahren, sondern diverse moderne Arten des Fernsehglotzens vorführte. Auf Handy, Laptop und Flachbildscheiß starren die Protagonisten des Spots mit wachsender Bewegtheit auf einen dicklichen Mann mit schlechten Zähnen, dem sich zur augenscheinlichen Überraschung aller eine Opemarie entringt – und siehe: In diesem Moment sind sie verbunden, von einem unsichtbaren Band der Emotion.
Tatsächlich ist der aschenbrödeleske Auftritt von Paul Potts bei „Britain’s Got Talent“ ein memorabler Augenblick – herausfiletiert aus der Realität, aufbereitet und mit Authentizitätszertifikat eingetütet von der BBC. Zur Verwendung in Werbespots und als ganze Grundlage der zynischen Vermarktung von Potts: Unterschichtler mag Hochkultur machen; wie süß, da stehen die Leute drauf; der kriegt eine Platte um den Leib produziert, die allen Ernstes one chance heißt und in der der Abschiedssong schon eingebaut ist: Die lassen den tatsächlich auf seinem Debütalbum „My Way“ singen! Vom Aschenputtel-Moment zum Zapfenstreich in 15 Minuten. Danke, der Nächste bitte!
Wenn da nicht jemand bei der Telekom „das Leben“ mit dem Showbiz verwechselt hat. Im Angesicht der Bedrohung seines Leitmedium-Status durch das Internet ringt das Fernsehen um solche Momente. Möglichst live sollen sie sein oder zumindest erscheinen und sagen: Du glotzt jetzt nicht einfach stumpf was weg, nein: Du lachst, du weinst, du fühlst, DU LEBST! In diesem Moment!
Das Problem: Nie zuvor haben so viele Menschen so viele Lebensmomente zum Teilen angeboten. Und so unvergesslich wie die tollsten Szenen aus „Bauer sucht Frau“ sind YouTube-Sensationen ä la „Ich und meine Kumpels total angetrunken aufm Parkplatz“ und „Katze am Deckenventilator“ allemal. Da müssen schon Premium-Momente her, und die gibt’s im TV fast nur noch bei Sportübertragungen und bei „Schlag den Raab“, was aufs Gleiche rauskommt.
Und dann gab’s doch einen unvergesslichen TV-Moment 2008: Als beim Fernsehpreis Marcel Reich-Ranicki hinaufstieg und den Fernsehschaffenden die Leviten gackerte, gab’s Beifall wie im masochistischen Reflex. Folgte jetzt tatsächlich eine Debatte zur Qualität des Fernsehens? Anderthalb Wochen später saß MRR als Intellektuellenmaskottchen mit Gottschalk zusammen und schlugvor, man könne doch etwa Shakespeare-Dramen neu verfilmen; da gäb’s Sachen, an denen auch „die primitiveren Zuschauer“ Spaß haben könnten. Na wunderbar. Was soll’s. Bauer sucht Frau. Ist doch eh ganz spannend. Oder doch lieber mal ins Grüne fahren?