Sex Pistols: Showdown auf der Themse
1977 wurde Punk vom Underground-Phänomen zum Pop-Spektakel, das die britische Gesellschaft in ihren Grund- festen erschütterte. Und damit in mancher Hinsicht auch schon wieder sein Ende erlebte. Im Zentrum der Turbulenzen: die Sex Pistols - und die Königin.
Das Jahr 1977, da ist man sich in Großbritannien über alle sub- bis hochkulturellen Grenzen hinweg einig, wird ein Fanal. Schon die beiden symbolträchtigen Ziffern der Jahreszahl, tausendfach auf Hemden, Wänden, Plakaten und in Songtexten zu lesen, scheinen der Welt entgegenzuschreien, dass dies kein Jahr wie andere wird, sondern dass die Welt sich ändern, wenn nicht gleich untergehen muss. Apokalyptiker und Horoskopisten prophezeien Düsteres, Politaktivisten rüsten sich zur Konfrontation. In Prag wird am 1. Januar die Bürgerrechtsgruppe „Charta 77“ gegründet, in Gießen verüben „Revolutionäre Zellen“ am 4. Januar einen Anschlag auf ein US-Atomwaffendepot; der „Deutsche Herbst“ beginnt im April mit der Ermordung Siegfried Bubacks. Frankreich erlebt die letzte Hinrichtung mit der Guillotine; Umstürze, Anschläge und Demonstrationen erschüttern den Planeten. Commodore, Apple und Tandy bringen die ersten Komplettcomputer mit Bildschirm und Tastatur auf den Markt. Die Welt, kein Zweifel, ist dabei, sich zu ändern.
Dass in Großbritannien politische und soziale Umwälzungen ihren Niederschlag(wenn nicht ihren einzigen Ausdruck) in der Popmusik finden, mag ein historischer Zufall sein. Aber auch hier tobt der Zeitgeist auf eine Art Entscheidungsschlacht zu. Das ist ebenfalls Zufall. Punk, bis dahin ein rätselhaftes, vieldeutiges, von der Mehrheit als bedrohlich, von anderen als befreiend empfundenes, in seinen Grundzügen und Erscheinungsformen unberechenbar witziges Phänomen, hat am 1. Dezember 1976 eine komplett unerwartete Wende genommen: Der landesweite Skandal um den Zehn-Sekunden-Ausfall des Sex-Pistols-Gitarristen Steve Jones gegen TV-Moderator Bill Grundy (der, offensichtlich angetrunken, vor Livekameras Jones‘ Freundin Siouxsie zweideutig angemacht hatte und sich dafür „You dirty old man! „und – nach Aufforderung – „What a dirty fucker, what a fucking rotter!“ nennen lassen musste) hat alles geändert. Einerseits sind nun die Fronten klar: Punk ist nicht mehr subversiv, sondern eine eindeutige Konfrontationshaltung gegen die spießbürgerliche Gesellschaft. Andererseits ist der Witz vorbei. Die meisten der ursprünglichen Protagonisten ziehen sich sofort oder nach und nach in andere Bereiche zurück; es bleibt ein Vakuum, das von Mitläufern und Nachzüglern gefüllt wird, die vor allem eines wollen: Randale. An jeder Straßenecke schießen neue Bands aus dem Boden, die meist nicht viel mehr können, als primitiven Rock’n’Roll mit ein paar Schimpfwörtern runterzuklopfen, und von den Talentsuchern der Plattenfirmen dutzendweise aufgekauft werden. Dutzendweise ersteht der Stereotyp der „Punkrockband“: Viervierteltakt, hohes Tempo, simple Akkorde, primitive Texte gegen Bullen, Spießer und für mehr Bier ein fades, gestanztes Einheitsbild, das dreißig Jahre später noch immer floriert, mit dem sich aber keine Revolutionen bewirken lassen. Eilig haben es deshalb alle; Punk als alles umfassendes, im verborgenen wirkendes kulturelles Enigma ist tot, und auch der „Punk Rock“, der an seine Stelle getreten ist, kann in ein paar Monaten Schnee von gestern sein. Die Vorreiter, die nun nichts anderes mehr sind als fast „normale“ Rockbands, mühen sich, mit der veränderten Situation zurechtzukommen: The Clash läuten das Jahr bei der Neueröffnung des „Roxy“ am 1. Januar mit ihrer Hymne „1977“ ein und streiten fortan mit Straßenrockbands wie Sham 69 um die Meinungsführerschaft im Revolten-Rock-Lager. The Damned besinnen sich auf ihre psychedelischen Wurzeln und Vorbilder wie MC5 und Stooges, holen einen zweiten Gitarristen an Bord, kooperieren mit dem Free-Jazz-Saxophonisten Lol Coxhill und möchten Syd Barrett als Produzenten gewinnen, ehe sie dann nach dem Flop des zweiten Albums vorübergehend ganz das Handtuch werfen. The Jam, sowieso eher nostalgisch als situationistisch ausgerichtet, knüpfen an den Mod-Pop der mittleren Sechziger an (und stürzen ebenfalls in eine schwere kreative Krise). Weitere Pioniere, wie Ultravox!, Siouxsie & The Banshees, X-Ray Spex und The Slits, suchen längst nach neuen, ganz anderen musikalischen Wegen.
Die neue Kleiderordnung passt ihnen allen ebenso wenig wie die Kastration von Punk zum Nur-Musik-Phänomen und die rigiden stilistischen Vorgaben, die in krassem Widerspruch zur scheinbar totalen Freiheit des Sommers 1976 stehen. Vor allem aber war der Grundgedanke des Punk in sein Gegenteil verkehrt worden: Anstatt durch ständige überraschende Veränderungen das Gesetz des Handelns (und Staunens) vorzugeben und die Musikindustrie ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen, können die Protagonisten jetzt, unter dem Dauerfeuer von sensationsgeiler Presse, Polizei, Nachäffern und aufgebrachten Bürgern mit Messern und Eisenstangen, nur noch reagieren (oder notfalls wegrennen). Den vielleicht wichtigsten Vordenker und Initiator des ganzen Spuks, Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren, beginnt die Sache zu überfordern und gleichzeitig zu langweilen. Anstatt Manifeste zu verfassen, handelt er jetzt einen Plattenvertrag nach dem anderen aus und schwelgt nebenbei in Plänen, die Band (die er immer noch als sein Projekt betrachtet) gezielt zu zerstören, um das Ganze als Kunstaktion (und Kinofilm, Arbeitstitel: „Rock Around The Contract“) zu verkaufen. Aber die Sex Pistols sind längst nicht mehr sein Projekt, waren es vielleicht nie, und sie haben andere Vorstellungen. Den braven Pop-Fan Glen Matlock am Bass durch Johnny Rottens Kumpel Sid Vicious zu ersetzen, einen schüchternen, aber unberechenbaren Straßenjungen, dessen aktive musikalische Laufbahn sich auf ein paar Wochen als Banshees-Trommler und die kaum existenten Flowers of Romance beschränkt, kommt McLaren noch entgegen, denn es lässt auf medienwirksame Skandale hoffen und nimmt der Band so gut wie jede Zukunft. Die sieht sowieso nicht sehr rosig aus: Neue Songs gibt es nicht, Liveauftritte sind nach dem Grundy-Skandal kaum mehr möglich. Die „Anarchy In The UK“-Tournee Ende 1976 (mit The Clash, The Damned und Johnny Thunders) ist zu neun Zehnteln ausgefallen, die Pistols sind live nicht mehr existent, während The Clash mit ihrer „White Riot“-Tour im Mai in jedem Nest gastieren und für Hysterie sorgen. Das Hauptproblem aber ist: Die Band ist einfach zu gut, musikalisch wie textlich, das steigert ihr Selbstbewusstsein, und immer öfter sucht Sänger Rotten, dem McLarens Manipulationsversuche gar nicht passen, die offene Konfrontation oder zieht sich einfach zurück. Während überall im Land der Punkrock tobt, verstricken sich die Sex Pistols in Vertrags- und Managementstreitereien und scheinen wie gelähmt. Nebenbei gehen die Arbeiten am ersten Album voran, was aber auch nichts besseT macht: Für Puristen ist schon die Idee eines Punk-Albums ein Widerspruch in sich. Aber Punkrock ist nun Teil der Musikindustrie, und für die sind Ende der Siebziger Alben weit wichtiger als Singles. Im März erscheint das Debüt der Damned, auch die erste Clash-LP ist an zwei Wochenenden fertiggestellt, The Jam spielen als Erste bei „Top of the Pops“, und so erscheint es fast schon wie ein bitter-nostalgischer Epilog, dass Malcolm McLaren die zweite Ausgabe seines „Anarchy In The UK“-Fanzines mit einer Widmung an „Che, Durruti, die Watts-Unruhen, die Weathermen, die Angry Brigade, den Bergarbeiterstreik von 72, die Levellers und andere, Black Power, die Frauenbewegung, Gene Vincent“ schließt. Am 15. März kündigt das Label A&M den gerade erst unterschriebenen Vertrag mit den Pistols, und obwohl McLaren daraus später einen Publicity-Stunt macht, ist er regelrecht verzweifelt. Das Thronjubiläum der Königin rückt näher, und er weiß: Wenn die Single „God Save The Queen“ nicht rechtzeitig erscheint, sind die Sex Pistols ein für allemal gescheitert. Inzwischen gelingt es ihm kaum, einen Raum für einen Auftritt vor NBC-News-Kameras zu organisieren, ganz zu schweigen von einem neuen Label. Das ganze Land feiert Punk, und die Sex Pistols müssen als einzige und alleinige Sündenböcke für jene herhalten, die nicht mitfeiern mögen. Sid Vicious liegt derweil mit Hepatitis im Krankenhaus, nachdem er ein neues Mädchen und eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt hat, die beide weit schlimmere Folgen haben werden als die diversen Überfälle von Teddy-Boys und aufgebrachten Spießern auf die Band im Frühjahr. Als einzige Plattenfirma, die etwas mit den Sex Pistols zu tun haben möchte, tritt schließlich im April Virgin Records auf den Plan, und obwohl McLaren sich weigert, mit dem „Hippie“ Richard Branson (den er in Wirklichkeit fürchtet, weil er ein noch skrupelloserer Geschäftsmann ist als er selbst) auch nur zu verhandeln, muss er sich schließlich fügen, weil die Zeit drängt. Am 12. Mai unterschreiben die Pistols den Vertrag für ein Album, am 27. soll „God Save The Queen“ erscheinen, aber schon am 17. Mai gibt es neue Probleme: Die Arbeiter des CBS-Presswerks weigern sich, die Single herzustellen, werden überredet, am nächsten Tag folgen die Drucker, auch sie geben nach. John Varnom und Jamie Reid entwerfen eine Promotion-Kampagne für die Platte, mit Plakaten (u. a. auf Londoner Bussen), T-Shirts, Anzeigen, Radio- und Fernsehspots. Die Reaktionen sind absehbar: Radio und Fernsehen boykottieren nicht nur die Werbung, sondern auch die Single selbst (nur John Peel spielt sie zweimal), und als sie am 27. Mai dann doch erscheint, tut sie das nur eingeschränkt, weil mehrere wichtige Ladenketten (u.a. Woolworth) sie nicht ins Sortiment nehmen.
Schaden kann das nun nicht mehr viel: Alle vier Musik-Wochenzeitungen ernennen sie zur „Single der Woche“, drei nehmen die Pistols auf den Titel, in fünf Tagen sind 150.000 Stück verkauft. „God Save The Queen“ ist nicht nur der einzige ernsthafte Widerspruch gegen die allgemeine Monarchiehysterie, sondern auch der trefflichste; der Song wird zur Hymne einer Generation, und mit einem Schlag sind die Sex Pistols nicht nur (wieder) da, nicht nur Stars, sondern ein welthistorisches Phänomen. Ihr Gegner, so scheint es, ist nicht mehr die Presse, die Musikindustrie, sondern das britische Gesellschaftssystem als Ganzes. „Wenn dieses Land nicht, wie die Sex Pistols behaupten, ein faschistisches Regime ist“, bringt ein Leitartikel die Sache auf den Punkt, „dann sollte es der Band nach den grundlegenden Prinzipien der Demokratie möglich sein, diese Zeile in Radio und Fernsehen zu singen. Das darf sie nicht, was also sagt das über England?“ Wieder einmal hat sich Malcolm McLaren als Genie der Medienmanipulation erwiesen; aber er ahnt, dass es das letzte Mal sein könnte, dass er mehr tun kann als reagieren, und diese Chance will er am Schopf packen, um jeden Preis. Er will die direkte Konfrontation mit der Monarchie, am Abend des Throniubiläums, und da seine Band sowieso in ganz England auf keine Bühne darf, wird sie eben aus dem üblichen Live-System ausbrechen und in der „echten Welt“ spielen: nicht auf der Straße, sondern auf der Themse, in unmittelbarer Nähe zu den Feierlichkeiten im Buckingham-Palast nach der Prozession zur St.Paul’s-Kathedrale, die über eine Million Menschen anlockt.
McLarens Angestellter John Varnom wird losgeschickt, ein Boot zu mieten. Der Kapitän, aufgeschreckt durch eine Titelgeschichte im „Mirror“, hat Angst: „Es ist nicht eine von diesen Punkbands, oder?“Zu allem Überfluss trägt das Schiff den Namen „Queen Elizabeth“. Es wird mit Union-Jack-Wimpeln und einem passenden Transparent geschmückt: „Queen Elizabeth welcomes Sex Pistols!“ Um halb acht Uhr abends beginnt die Fahrt. Mit an Bord sind Freunde und Verbündete sowie jede Menge Zugaufspringer, sensationsgeile Presse und Branchenleute, auch Richard Branson selbst. Das Wetter ist lausig, ebenso wie Johnny Rottens Laune: Er hasst Menschen wie Branson, er hasst die ganze Idee, und er fühlt sich manipuliert; schließlich ist es sein Songtext, um den sich das Spektakel dreht, und er hat mit seinen unsterblichen Zeilen etwas vollkommen anderes im Sinn gehabt als das, was hier passiert. Um halb zehn, bei Westminster, versammeln sich die vier Musiker auf der improvisierten „Bühne“, schalten Verstärker ein, lautes Feedback ertönt. Paul Cook trommelt ein bisschen, Sid Vicious sieht sehr derangiert aus. Keiner von ihnen wirkt begeistert, hier stehen zu können. Dass das mehr ist als nur eine Verweigerungspose, zeigt sich, als das Schiff das Parlament passiert: Da spielen sie los, „Anarchy In The UK“, und es ist, als explodierte eine Bombe.
Niemand an Bord, der die Band schon mal gesehen hat, hat sie je derart wütend, frustriert, überzeugt, schäumend vor Zorn gesehen. Binnen Sekunden wird aus dem lachhaften Theater existenzieller Ernst und ohrenbetäubende Wirklichkeit. Die Vertreter der Musikindustrie erbleichen. Sie hatten erwartet, so etwas Ähnliches wie die neuen Rolling Stones zu erleben. Stattdessen stellen sie nun schockiert fest, dass sie keine Rockband unter Vertrag genommen haben, sondern den Weltuntergang. Und Johnny Rotten selbst kann sich nicht mehr wehren gegen den Sog der eigenen Musik; sein Sarkasmus verpufft. Die Sex Pistols spielen um ihr Leben, „No Feelings“, „Pretty Vacant“, „I Wanna Be Me“ …
Plötzlich tauchen Polizeiboote auf, die die „Queen Elizabeth“ umkreisen, immer näher kommen. Die Band spielt „No Fun“, und es ist, als hallte Rottens gespenstischer, wie hypnotisch wiederholter Schrei durch die gesamte nächtliche Stadt, deren Einwohner immer noch ausgelassen ein System feiern, in dem sie keine Zukunft haben: „No fun I’m alone No fun I’m alive! I’m alone! I’m alive! „Da sind die Polizisten längst an Bord. Das Schiff wird zur Landung gezwungen, der Kapitän schaltet den Strom ab, im Dunkeln geht es drunter und drüber: Prügeleien, Schreie, Chaos, Verhaftungen, Möbel und Flaschen fliegen. Malcolm McLaren beschimpft die Polizei: You fucking fascist bastards!“, derweil kommen die vier Musiker, um nicht ebenfalls verhaftet zu werden, über eine versteckte Luke an Land und fliehen. Während der Fahrt zum Polizeirevier in der Bow Street entlädt sich der Zorn des Establishments: Jamie Reid und andere werden derart verprügelt, dass er später vermutet, einige der elf Festgenommenen müssten „aus Gummi“ sein.
Obwohl die Presse, Um die Jubiläumsfeierlichkeiten nicht zu trüben, am nächsten Tag so gut wie nichts über die Vorgänge auf der Themse berichtet, ist die Wirkung messbar – in Zahlen. Am Ende der Woche sind über 200.000 Exemplare von „God Save The Queen“
verkauft, laut einer internen Mitteilung des CBS-Vertriebs mehr als doppelt so viele wie von der aktuellen Nummer eins, Rod Stewarts „I Don’t Wanna Talk About It“. Stewart bleibt trotzdem an der Spitze, weil, wie sich später herausstellt, der Leiter des Verbands der britischen Phonoindustrie (BPI), John Fruin, die geheime Anweisung erteilt hat, bestimmte Händler, die besonders viele Pistols-Platten absetzen, solange aus der Statistik herauszunehmen, bis die Verkäufe nachlassen.
Dann erwacht England aus dem Royal-Taumel, und die Presse bläst zu einer bis dahin selbst bei Boulevardblättern nicht vorstellbaren Hetzjagd auf den Punkrock und seine Hauptdarsteller. „Bestraft die Punks!“ fordert die Titelschlagzeile des „Sunday Mirror“, und der „Daily Mirror“ zitiert den Labour-Abgeordneten Marcus Lipton: „Wenn die Popmusik benutzt wird, um unsere etablierten Institutionen zu zerstören, dann sollte sie zuerst zerstört werden.“ Die Tiraden zeigen Wirkung: Aufgewiegelte Bürger verprügeln Jamie Reid auf der Straße, brechen ihm ein Bein und die Nase, John Lydon und Produzent Chris Thomas werden vor einem Pub mit Messern angegriffen und schwer verletzt, Paul Cook bekommt von Passanten eine Eisenstange auf den Kopf und muss genäht werden. Malcolm McLaren ist zu beschäftigt, um sich um seine Schützlinge zu kümmern. Erst nachdem Johnny Rotten erneut auf der Straße verprügelt wird, sich mit zwei Freunden in einem Restaurant verbarrikadieren muss, und Sid Vicious McLarens Mitarbeiterin Sophie Richmond nachts am Telefon anfleht, die Pistols aus dem Land zu schaffen, reagiert er und organisiert eilends eine Skandinavientour.
Die Reise ist der Anfang vom Ende: Zwar zeigt sich, dass die Sex Pistols inzwischen eine famose Rock’n’Roll-Band sind, zwar bleibt Sid während der gesamten Tour clean und genießt das Leben als Popstar so wie seine Kollegen, aber der Druck, der auf ihnen lastet, der gesamtnationale Hass, das Zerwürfnis mit dem Management und die bei aller neuen Bandharmonie nicht zu übersehenden Unterschiede der vier Persönlichkeiten lassen sich auf Dauer nicht überspielen. „Die Band“, sagt Sophie Richmond später, „war an einem Punkt angelangt, wo sie sich entscheiden musste: irgendwie noch mal weitermachen oder sich trennen und was dann? Ich denke, dieses,Was dann?‘ hat sie zurückgehalten, aber der alte Schwung und die Energie waren einfür alle Mal weg.“
Das Interview, das Johnny Rotten Anfang Juli Tommy Vance von Capital Radio gibt, mag nur ein kleines Symptom sein, aber es ist signifikant: Kurz zuvor ist gegen McLarens heftigen Widerstand der Promofilm zur neuen Single „Pretty Vacant“ in „Top of the Pops“ gelaufen, nun spielt der Pistols-Sänger als Gast-DJ Platten von Neil Young, . Captain Beefheart, Peter Hamill und Doctor Alimentado, sagt dazu, er möge „alle Arten von Musik“ und wirft so mit einem Schlag die Anarchist/Antichrist-Rolle ab, die ihm der Manager verordnet hat. Die „Sunday Times“ beschreibt den ehemaligen Staatsfeind Nummer eins als „sympathisch liberalen Burschen mit guten Manieren und Islingtoner Straßenakzent“. Malcolm McLaren tobt vor Wut und beschließt dann, das ganze Projekt zu zerschlagen. Am 15. Januar 1978 findet das lange, quälende Finale seinen Abschluss: Erschöpft und zerrüttet von der US-Tournee, bei deren Planung McLaren fieserweise wichtige Metropolen I (und Punkrock-Zentren) wie New York ausgelassen und die Band dafür in den tiefen Süden nach Tulsa, Dallas und San Antonio geschickt hat, führt Johnny Rotten sein letztes Telefonat mit dem Manager und selbst ernannten Spiritus Rector des Punk. Sein letzter Satz lautet: „Der Scheiß interessiert mich nicht mehr.“ Ab dem nächsten Tag heißt er wieder John Lydon.