stirbt die CD aus?
Auf zu neuen Ufern: Die Musikindustrie begegnet der Krise mit [egalen Downloads und frischen Formaten. Was der CD das Licht ausblasen könnte.
Zuerst traf es den Plattenladen an der Ecke. Weil er so klein war, war seine Stimme nicht sehr laut, und wer sie dennoch hörte, verwiesauf die Gesetze der Marktwirtschaft. Der freien, die in solchen Punkten keine Sentimentalitäten kennt: Die Handelsriesen können die gleichen Produkte ehen billiger anbieten, und da Geiz bekanntlich geil ist, ist damit alles gesagt. Dass der Geiz so geil sein könnte, dass sich Millionen ehemaliger Plattenkäufer ihre Musik lieber kostenlos als billig besorgen, kam wenig überraschend. Seitdem singt die Branche den Blues. Stellen werden abgebaut, Vertriebswege reduziert, Prozesse geführt, Musikportale als Rettungsankerausgeworfen. Und Goldene Schallplatten gibt es jetzt schon für 100.000 verkaufte Alben statt früher 150.000. Den Bilanzen hat das alles bislang nicht wirklich geholfen. Es kann also nur besser werden.
Um 22 Prozent ist der deutsche Tonträgerumsatz im vergangenen Jahr zurückgegangen. Eine stattliche Zahl, die noch dramatischer wirkt, wenn man die ebenfalls zweistelligen Verluste des Vorjahres berücksichtigt. Und die des Jahres davor. Ganz egal, wer daran die Schuld trägt, der geizige Downloader, der kriminelle Raubkopierer, die träge Industrie oder das quoten und qualitätsfreie Formatradio: Musik ist allgegenwärtig, schnell verfügbar- und scheint nichts mehr wert zu sein. Daher steht das traditionelle Medium, die CD, auf der Liste der bedrohten Arten.
Wer so argumentiert, malt schwarz. War das Fernsehen langfristig der Tod des Kinos? Aktuelle Hollywood-Budgets sprechen eine andere Sprache. Wo das Kino in den 60er Jahren stand, als im Westen erstmals TV-Vollversorgung herrschte, steht momentan die Tonträgerindustrie: in einem Zwischentief, der Vorstufe zum Gesundschrumpfen und technologischen Aufbruch.Letzterer kommt allerdings nur zäh in Schwung, und diesen Schwarzen Peter muss sich die Tonträgerbranche auf die eigene Stirn kleben. Dass Plattenfirmen – mitunter eng verknüpft mit Technologiekonzernen -seit 20 Jahren an der CD festhalten, von Internet-Tauschbörsen kalt erwischt wurden und zum Teil noch heute um die Modalitäten ihrer Download-Portale streiten, kann man nur mit Saturiertheit erklären. Erst sorgte das neue Medium CD für glänzende Umsätze, anschließend konnte man die hungrigen Märkte Osteuropas mit längst amortisierten Best-Ofs beglücken. Technische Innovationen und konsequenter Aufbau dauerhaft erfolgreicher Acts? Kein Bedarf. Billig-Pop für die Kids im Westen, Best-Of-Altrock für den Osten. Und wenn ein Indie heiße Musik hat, wird er aufgekauft. Und dazu der ganze Trend, bis ihn keiner mehr will. Ein Konzept, das in die Hose ging. Es kann wirklich nur besser werden.
Zurück zur technischen Seite: Dass jungere Formate am Markt explodieren können, beweisen MP3, Handy-Klingeltöne (nicht lachen, die Branche verspricht sich davon Riesenumsätze!), SADC und DVD. Die Zuwachsraten sind bereits jetzt beträchtlich, und wenn die Schlacht um die Durchsetzung der Formate DVD-Audio (Warner) oder SACD (Sony Music, Universal) geschlagen sein sollte, wird die Party erst richtig losgehen. Es kann nur einen Sieger geben, doch den erwarten laut britischen Marktprognosen Zuwachsraten im dreistelligen Bereich. Voraussetzung ist, dass die teuren „Premium“-Produkte dank volkstümlicherer Preisgestaltung für den Massenkonsum attraktiver werden. Kleiner Dämpfer: DVD-Recorder werden immer billiger, und was das bedeutet, kann man sich an seinen zehn Fingern abzählen. Ziehen wir erneut den Vergleich zur Filmindustrie, die heute zumindest aus dem Gröbsten raus ist. Zum einen gelang das mit Kosten dämpfenden Fusionen und teuer produzierten, vor Spezialeffekten starrenden Blockbustern, quasi die Analogie zur technisch ausgefeilten SACD oder DVD. Zum anderen gelang es mit schlichter Kreativität: Phantasievolles, dabei billiges Marketing und ein grandios simpler Plot mach ten schon vor Jahren aus einem Low-Budget-Indie-Streifen wie „The Blair Witch Project“ einen dreistelligen Millionenseller.
Stichwort Indies: Während die großen Konzerne Rieseneinbrüche beklagen, halten sich die kleinen und kleinsten Label verhältnismäßig wacker. Auch für sie sind es keine goldenen Zeiten, doch die Mischung aus überschaubaren Marketing-Kosten, interessantem Repertoire und relativ treuer Kundschaft scheint zu funktionieren. Wer noch dazu einen Mailorder-Vertrieb besitzt, bleibt auch von den Kämpfen an der Handelsfront eher unbeeindruckt. Wahr ist natürlich auch: Indies haben dank ihrer Repertoiregestaltung, die traditionell eher Marktnischen bedient, weniger Probleme mit illegalen Downloads als Majors, deren schwarz gebrannte Mega-Hits aus dem TV-Hype auf jedem Schulhof kursieren. Zumindest in den USA ist jedoch Schluss mit der hemmungslosen Brennerei. Im Juni bat die „Recording Industry Association of America“ erstmals allzu eifrige Downloader zur Kasse: Sie verschickte blaue Briefe, in denen daraufhingewiesen wurde, dass der Adressat ins Visier der Fahnder geraten sei. Wer seine Musikdateien löscht und eidesstattlich versichert, nie wieder Musik zu stehlen,
kommt mit einem außergerichtlichen Vergleich davon. Wer sich weigert, dem wird der Prozess gemacht es droht eine sechsstellige Geldstrafe. Zwischen 2.000 und 10.000 Dollar mussten die „heavy user“ illegaler Tauschbörsen in besagten Vergleichen abdrücken, was dafür sorgte, dass rund 1,5 Millionen aufgeschreckter Yankees ihre illegalen Files von der Festplatte löschten. Das Prinzip der Abschreckung funktioniert offenbar, fördert allerdings auch das Klischee von der aggressiven aber irgendwie doch hilflosen Musikindustrie. Hierzulande wurden ebenfalls Sympathiepunkte abgezogen, denn streng genommen handelt es sich bei kopiergeschützten CDs, die nicht dem Red-Book-Standard entsprechen und auf einigen Geräten nicht laufen, um schadhafte Produkte. Wer den kurzfristigen Schaden durch verärgerte Kunden mit dem erhofften langfristigen Nutzen abgleicht, muss ins Grübeln kommen: Auch das raffinierteste Kopierschutzsystem sorgte in Hacker-Kreisen bislang früher oder später für stolz geschwellte Brüste und andere Robin-Hood-Posen, die vom gemeinen Volk auch noch mit Beifall quittiert werden. Die größten Feinde der Plattenindustrie heißen eben „mangelndes Schuldbewusstsein“ und „kompromissloser Eigennutz“. Was kann daran schon schlimm sein, wenn man das tut, was vermeintlich alle tun? „Ich bin doch nicht blöd“, tönt es aus dem Fernseher, und wer wollte da schon widersprechen? Und dass Musiker um den Lohn ihrer Arbeit gebracht werden? Who cares? Sind doch eh alles Millionäre. Das ist zwar Schwachsinn, wird mit dem Plastik-Glamour der Casting-Shows aber auch tatkräftig suggeriert. Klar: Talentierte Newcomer ohne Bohlens Gnaden, die im vermieften Kleinbus durch die Provinz eiern, will man eben nicht sehen. Doch das ist ein anderes Thema. Franklin Delano Roosevelt war nicht nur US-Präsident, sondern auch ein weiser Mann. Nach dem Motto, „wenn etwas Illegales nicht zu verhindern ist, muss man es eben auf ein legales Fundament stellen“, schaffte er 1933 die Prohibition ab. Saufen war- je nach Bundesstaat – wieder erlaubt, Schwarzbrenner (sie!) mussten dicht machen, und das Organisierte Verbrechen widmete sich anderen unschönen Dingen. Nach zähem Ringen mit der Realität hat sich derlei Pragmatismus 2003 auch in der Musikbranche durchgesetzt: Legale Download-Portale gingen ans Netz, einige Plattenhändler offerieren in ihren „Sales Points“ Hardund Software, mit der man sich gegen Gebühr das Wunschprogramm zusammenstellen kann. Unten fällt die fertige CD raus. Bei allem Respekt: Keine allzu zukunftsträchtige Methode, denn warum sollte man sich in einen Plattenladen bemühen, wenn man das digitale Wunschkonzert auch bequem von zuhause aus dirigieren kann? Voraussetzung ist, dass die Portale Zugang zu einem wirklich breiten Angebot gewähren, aber daran wird gearbeitet. In den USA jedenfalls herrscht Goldgräberstimmung: Nachdem Pepsi im Februar rund 100 Millionen Downloads als Werbegeschenke unters Volk brachte und momentan gemunkelt wird, dass McDonalds sogar eine Milliarde iTunes-Songs kaufen will, freuen sich die Kummer gewöhnten Börsenanalysten. Denn beide Großkunden müssen dem iTunes-Music Store den vollen Kaufpreis zahlen. Microsoft will 2004 mit eigenem Download-Service ans Netz, ebenso die Supermarktkette Wal-Mart. Und auch Napster, einst Feindbild Nummer 1 der Branche, ist als Napster 2. o erneut im Rennen – ganz legal.
Die Hemmschuhe für europäische Download-Portale sind bislang vornehmlich juristischer Natur: Anders als in den USA gibt es in Europa zahlreiche nationale Urheberrechtsgesellschaften und Autorenverbände, die Lizenzierung der Musik ist ungleich komplizierter. Zudem tendieren die Konzerne dazu, ihr eigenes Süppchen zu kochen, was nach der grassierenden Fusionitis allerdings bald vorbei sein wird. Sony (Weltmarktanteil: 14,1%) und BMG (11,1%) wollen sich das Jawort geben. EMIs (12,0%) Verhandlungen mit Warner (11,9%) sind zwar gescheitert, dafür erhielt der Medienunternehmer Edgar Bronfman den Zuschlag. Mit Branchenprimus Universal (25,9%) gibt es also nur noch vier große Konzerne, was routinierte Monopoly-Spieler bedenklich finden. Dabei muss man den Teufel ja nicht gleich an die Wand malen: Natürlich werden die Repertoires gestrafft werden, doch was irgendwie verkäuflich ist, wird wohl auch weiterhin verfügbar sein. Nur, dass auf dem Cover dann kein Major-Name mehr steht, sondern der eines spezialisierten Indies. Und teurer werden CDs gewiss nicht, das gibt der Markt nicht mehr her, auch wenn Lobbyisten dafür werben. Die Händler vertreten ohnehin einen anderen Standpunkt: Mehr als zehn Euro dürfen CDs ihrer Meinung nach nicht kosten, wenn man das Format – und die Handelsstrukturen – retten will.
Zahlt man alle Faktoren zusammen, läuft der Tonträgermarkt der Zukunft wohl dreigleisig: Major-Hits für den Massenmarkt und eine jüngere Zielgruppe werden als legale Downloads den Besitzer wechseln. Harte Zeiten für die Maxi-Single und Hit-Compilations, auch manche Mainstream-Alben werden wohl betroffen sein. Und die gerade eingeführte Dreizoll-Single für das Taschengeld-Budget könnte sich als Totgeburt erweisen. Denn wer heute seinen Lebensunterhalt mit Taschengeld bestreitet, loaded down. Plattenkaufen ist für Menschen Mitte zehn umständlich, vermeidbar und daher überflüssig. Daran wird sich auch nichts ändern. Doch Feinschmecker jenseits der 20, die auch gerne in Booklets schmökern und stolz auf ihre Sammlungen sind, greifen womöglich vermehrt zu SACD oder DVD, die mit einer Klangqualität und Zusatzoptionen locken, von denen Downloader nur träumen können. Auf Gleis 3 werden die lndies fahren, denen der Etat für sündteure Produktionen fehlt und deren Kundschaft ohnehin vor allem an der Musik interessiert ist, ohne digitalen Kinkerlitz. Da dürfte erstmal Vieles beim Alten bleiben, lustige Mailorder-Kataloge inklusive.
Zum Schluss noch zwei gute Nachrichten: Der Marktanteil der Vinyl-Schallplatte war 2003 stabil. Zwar auf bescheidenem Niveau, aber immerhin nicht rückläufig. Und die Konzertveranstalter freuen sich mehrheitlich über ein gutes Geschäftsjahr. Musik hat also doch noch ihren Wert.