Head Banging Light
Harte Schale, weiche Polster: Auch Megadeths Dave Mustaine probiert's mit Gemütlichkeit Hart an der Grenze des Mas- sengeschmacks: Metal macht heute Millionen, Mattenträger belagern die Charts. Das Publi- kum schüttelt den Kopf nicht mehr über, sondern zur Musik von Metallica und Co. Und die wissen mittlerweile vor allem eins: Wie man gezügelten Lärm an gemäßigte Ohren verkauft.
Selbst abgebrühte Szenekenner reiben sich verblüfft die Augen: Immer öfter stürmen vermeintlich ultraharte Metal-Combos über Nacht auch unsere konsensgeprägten Pop-Charts. Ehemals stahlharte Staccato-Trommler und tiefdunkle Todesschwadronen tummeln sich zwischen Eric Clapton und Paul McCartney in oberen Hitregionen, manchmal sogar mit Single-Erfolgen. Metallica, Anthrax & Co. ante portas. Unheilsverkündende Namen wie Megadeth, Overkill, Exodus oder Testament sorgen in der zweiten Reihe auch schon für erstaunliche Verkaufszahlen. Ist das Massen-Publikum zum kollektiven Headbangertum konvertiert?
Vorsorgliche Entwarnung: Der marktbeherrschende Mainstream-Geschmack ändert sich immer noch sehr langsam. Clevere Produktpolitik heißt nach wie vor das Zauberwort, das eben diesem Markt auf geschickte Weise Rechnung trägt. Dieses Phänomen, früher brutal und platt als „Kommerzialisierung“ gebrandmarkt, tritt heute in vielfältigerer Form und verfeinerter stilistischer Ausprägung zutage.
Begriff 1: Image Transfer. Wenn man mehr Fans will, muß man mehr Fans ansprechen. Also borgt man sich welche vom „anderen Markt“. Ein inzwischen klassisches Beispiel: Aerosmith und Run DMC. Als die Karriere von Steven Tyler & Co. seinerzeit am toten Punkt war, hängten sich Aerosmith geschickt an den aufkommenden HipHop-Trend in Gestalt der damals höchst angesagten und glaubwürdigen Rapper von Run DMC. „Walk This Way“ machte seinen Weg in die Charts und befriedigte alte Aerosmith-Fans. neue Teen-Hopper und sogar schwarzes Hardcore-Publikum.
Joe Perry dazu heute: „Rückblikkend war es wohl eine Pioniertal, damals haben wir das nicht so gesehen. ¿
„Eine Ballade verschreckt niemanden. Auch Bour bon-Säufer lutschen ganz
gerne an einer Praline.
Es steckte kein kühler, cleverer Plan dahinter.“
Scott Ian, Gitarrist und Kopf von Anthrax, sieht das ebenfalls ganz leidenschaftslos. Für Neuerungen und Überraschungen waren Anthrax immer gut: Auch sie schlugen schon vor Jahren die Brücke zur HipHop-Avantgarde, benutzen Scratch-Techniken und gingen mit ihren inzwischen langjährigen Freunden Public Enemy auf Tournee. „Alle in der Band sind prinzipiell offen für neue Einflüsse. Das war immer essentiell für uns“, betont Scott Ian. Neuerlich unerwartet dürfte für Anthrax-Fans auf dem jüngsten Album „The Sound Of White Noise“ die Zusammenarbeit mit Angelo Badalamenti sein, dem Komponisten des orchestralen Soundtracks zu David Lynchs Fernsehserie „Twin Peaks“. Für Anthrax mindestens genauso ungewohnt ist die Zusammenarbeit mit Produzent Dave Jerden, bekannt durch seine Arbeit mit Jane’s Addiction und Alice In Chains. Zum ersten Mal ließ die Band damit einen richtigen Sound-Regisseur zu, denn ihre bisherigen Produzenten „… waren nur bessere Toningenieure. Dave dagegen führte Regie. Und letztlich mochten wir die Sachen sehr, die er mit Alice In Chains angestellt hatte. „Also auch eine trendorientierte Entscheidung. Und die bringt uns zu …
Begirff 2: Crossover Potential Development. Heißt soviel wie ungenutzte Quellen und Möglichkeiten erschließen und entwickeln. Eine universelle Strategie, die sowohl ehemalige Spezialisten und Randgruppen-Favoriten wie Speed-, Death-, Doom-, (können Sie folgen?) oder Thrash-Metaller als auch alle übrigen inzwischen perfektioniert haben. Mitunter bleibt Bands auch wenig anderes übrig, denn wenn man als konsequente Speed-Truppe das Tempo mal bis an die Grenzen ausgereizt hat, befindet man sich schnell in einer Sackgasse. Gedankenbrücke:
Speed Metal mit aberwitzigen Rhythmus-Eskapaden in radikaler Verwandtschaft zum Jazz Rock — das ist längst gängige Theorie und trifft den Nagel auf den Kopf.
Metal-Bands bremsen diese aufreibende Kreativ-Fahrt meist früher ab. Und das geht so: Man mischt unter die vielen ultraharten Album-Tracks mal überraschend eine Ballade. Das verschreckt selbst keinen noch so verstockten Fan, denn auch Bourbonsäufer lutschen ab und zu mal gern an der Praline. Meist springt dabei ein marktfreundlicher Single-Titel heraus, der auch bei Rundfunk-Redakteuren mit Metall-Allergie auf offene Ohren stößt. Die magische Schleuse „Airplay“ öffnet sich via Ballade noch am schnellsten. Strömt’s da erstmal, erntet man weiterhin interessierte Aufmerksamkeit an der mächtigen Radiofront und rutscht mit der nächsten Single (beten hilft) nochmal durch das Sender-Sieb.
Mit dem Zugang zum Mainstream-Publikum haben Metallica heute kaum noch Probleme. Spätestens seit dem letzten Album, das inzwisehen weltweit vielfaches Platin eingespielt hat, sind die ex-Desperados um James Hetfield veritable Superstars — und können es sich leisten, musikalisch über die gewohnten Stränge zu schlagen. Erlaubt ist, was ankommt. „Wenn die Leute plötzlich spüren, daß du nur Scheiße im Kopf hast, Pech gehabt. Unsere Fans können wir ohnehin nicht an der Nase herumführen.“
Hetfield hat gut reden, Metallica haben ihre Fan-Gefolgschaft in zehn Jahren beständig erweitert. Und eben nicht mit immer härterem und kompromißloserem Sound. Damit kommen wir zu …
Begriff 3: Diversifikation. Das ist schwierig, langwierig, risikoreich, aber künstlerisch oft am interessantesten und bedeutet soviel wie „musikalische Angebotsverbreiterung ohne Substanzverlust'“. Im Erlebensfall dieser dornigen Zukunftsversicherung begründet ein Erfolg so etwas wie einen Rentenanspruch. Das Ziel heißt schließlich „Massenmarkt“, und wer da erstmal seinen festen Stand hat. steht auch mit einem Bein in der Ruhmeshalle der „ewigen Großen“. Daran arbeiten heute viele Musiker konzentriert, die sich früher mit der Disziplin schwer taten.
Wie etwa Jeff Waters, seines Zeichens Gitarrist und Chef der aufstrebenden kanadischen Band Annihilator. „Mit unserem dritten Album ,Set The World On Fire‘ sind wir erwachsen geworden“, sagt er bedeutungsvoll. Sanften Erfüllungsdruck gab es wohl auch seitens seines Labels Roadrunner. doch laut Waters lediglich, um ….. ein echtes Heavy-Album zu schreiben. Nur mein Management hätte es lieber gesehen, wenn ich mehr Balladen komponiert hätte.“
Immerhin zwei Stucke der begehrten Spezies — und damit reichlich Tribut an unseren Begriff 2 — finden sich auf dem neuen Annihilator-Werk, und sie scheinen Jeff Waters nicht sonderlich schwergefallen zu sein.
„Natürlich ist mir und anderen Hardrock-Musikern klar, daß Balladen dazu da sind, erfolgreicher und populärer zu werden“, gibt Waters unumwunden zu. „Aber entscheidend ist doch, daß Klassiker wie ,Stairway To Heaven‘ oder auch jüngere Sachen wie Metallicas .Nothing Else Matters‘ vor allem hervorragende Songs sind!“
Anthrax-Chef Scott Ian gibt ihm recht: „Es geht um Musik. Nicht um Ideologie.“
Wenn ideologische Bedenken dennoch weiter in den Köpfen der
Musiker rumoren, kommen sie bisweilen auf verwegene Ideen, um die Fans ihrer ersten Hardcore-Stunde nicht zu verschrecken. Wie die Suicidal Tendencies. Die Wortführer der ostamerikanischen Hardcore-Szene, die sich lange Zeit mit brachialer Härte durch Punk, Rock und Metal spielten, überraschten letztes Jahr mit „The Art Of Rebellion“‚, einem Album, das mehr Siebziger Flair als Punkattitüde verbreitete. Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden, schoben die Suicidal Tendencies jetzt ihr vor zehn Jahren erschienes Debut-Album, damals schlicht mit dem Bandnamen versehen, heute „Still Cyco“ betitelt, komplett neu eingespielt hinterher. Und das Ergebnis ist auch in der heutigen Version alles andere als radiotauglich.
Metallica, die Hauptzielscheibe des wütenden Ausverkaufsgeheuls brachialer Metal-Puristen, stehen ohnehin unumwunden zu ihrem bewußten Schritt Richtung Massenpublikum. Mit der Wahl des Produzenten Bob Rock (Bon Jovi, David Lee Roth, Motley Crue) zeigte sich schon deutlich, wo’s langgehen sollte. Denn Rock weiß genau, wie man US-Hitalben maßschneidert: „Metallica“ stieg als Nr. 1 in die Billboard-Charts ein und hielt sich dort immerhin einen Monat. Drummer Lars Ulrich: „Wir wollten es allen zeigen, die glaubten, daß wir keine Songs schreiben können. Wie lan Astbury von Gilt, der mal gesagt hat, jedes Metallica-Konzert sei nur eine einzige große Wichs-Veranstaltung. Für alle die Schlauberger gab’s das große ,Fuck you!‘ mit dem letzten Album. „
Solche Sorgen hat Lee Dorrian von der britischen Doom-Metal-Band Cathedral nicht. Ihr zweites Album „The Etheral Mirror“ wurde immerhin von Rick Rubins Tonmeister Dave Bianco produziert. „Wir halten ein sagenhaftes W0.(MX)-DoIlar-Budget“, erzählt Dorrian mit echtem Stolz. „Aber beim Songschreiben hat mich das nicht beeinflußt. “ Lediglich die Musikalität des stilbildenden 70er-Jahre-Hardrocks läßt Lee Dorrian als frischen Cathedral-Einfluß gelten, denn „das meiste von damals klingt attraktiver als viele aktuelle Bands. Und hat heute auch entsprechend gewichtigen Einfluß, wie Black Sabbath zum Beispiel.“
Womit sich zeigt, daß gesunde kommerzielle Ambitionen auch aus aktivem Geschichtsbewußtsein kommen können. Und wenn man das. wie Cathedral, mit modernem Rick-Rubin-Sound kombiniert, ensteht eben beinahe zwangsläufig ein attraktives Produkt. Und das ist doch letztlich — entscheidend — oder?