Die Welt tanzt
Ein normales Festival will es nicht sein, sondern eine "World Of Muspc, Arts and Dance". Das WOMAD-Festival, In diesem Sommer erstmals In Deutschland zu Gast, versteht sich als Begegnungsstätte aller Kulturen. ME/Sounds-Mitarbelter Jean Trouillet mischte sich unters tanzende Volk.
Die „multikulturelle Gesellschaft“ – eine neue Vokabel macht in Deutschland die Runde. Von ihr ist in den Feuilletons der Zeitungen ebenso die Rede wie in den Programmen politischer Parteien. Langsam scheint es sich herumzusprechen, daß wir in der Bundesrepublik nicht allein unter Deutschen leben. Ein Horror-Szenario für die Neu-Ewiggestrigen, die mit einem dumpfen „Ausländer raus“ fröhlich Wahlerfolge feiern.
Doch diese Parolen haben schon deswegen keine politische Zukunft, da wir es uns wirtschaftlich gar nicht leisten können, alle Ausländer nach Hause zu schicken. Was bleibt also anderes übrig, als unser Zusammenleben mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen so positiv wie möglich zu gestalten. Gastarbeiter, Flüchtlinge, Aussiedler – sie alle bringen ihre kulturellen Traditionen, ihre Küche und – nicht zuletzt – ihre Musik mit.
An einem Wochenende können wir, ohne die Grenzen der Heimatstadt zu verlassen, in die halbe Welt reisen: zur Hochzeit der Tochter unseres türkischen Gemüsehändlers mit viel Brimborium, Bauchtanz und Bergen besten Essens – oder auf einer afrikanischen Party die allerneuesten senegalesischen Tänze lernen – oder bei einem Discoabend im jugoslawischen Kulturzentrum feststellen, daß Zagreb über eine höchst interessante Punkszene verfügt. Es liegt an uns, eine Welt spannender Unterschiede kennenzulernen.
Nichts anderes haben die Veranstalter der WOMAD-Festivals im Kopf, die nun schon seit acht Jahren die spannendsten Weltmusik-Events in Szene setzen. WOMAD heißt zu Deutsch: eine Welt voll Musik, Kunst und Tanz. Und die Geschichte dieser Organisation ist nicht weniger erstaunlich als ihr wohlklingender Name.
Mitte der 70er Jahre ging es in der englischen Hafenstadt Bristol nicht anders zu als in London. An allen Ecken und Enden der Stadt entstand eine Punkszene, mit illegalen Kellerclubs, Fanzines und einer Fülle von Bands. Es galt, wie in den seeligen Zeiten des Hippietums, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, aus der gesellschaftlichen Bevormundung auszubrechen, Spaß zu haben.
Dabei gab sich die Punkszene durchaus pragmatisch: Schnell entwickelten sich Plattenlabels, Konzertagenturen und Zeitungen, die alleine für die Bedürfnisse der Szene selbst produzierten. Thomas Broomann, Drummer einer Punkband, war einer der Leute, die Ende der 70er ein Label mit dem Namen „Bristol Recorder“ gründeten. Der Bristol Recorder sollte die Lebendigkeit der städtischen Jugendkultur auf Vinyl bannen und gleichzeitig in einem beigefügten Magazin die Bands selber zu Wort kommen lassen.
Eines Tages, man war mitten in der Produktion des zweiten Bristol Recorders, kam Peter Gabriel in das Studio hereingeschneit. „Der gehört ja eigentlich auch zur kreativen Szene unserer Stadt“, stellten unsere Punks erstaunt fest, die naturgemäß mit Genesis nicht viel am Hut hatten. Man lernte sich näher kennen, machte ein Interview und entschied sich, ein Stück von Gabriel auf dem nächsten Recorder zu veröffentlichen.
Ein paar Wochen später traf man sich wieder, und Peter Gabriel erzählte von seiner Idee, ein großes Konzert zu organisieren, das neben angesagten Pop-Größen vor allem moderne afrikanische Bands vorstellen sollte. Zwei Jahre diskutierte man über das Projekt, und aus dem Konzert wurde ein ganzes Festival, das der traditionellen Musik und Pop, dem Tanz, der Kunst und dem Handwerk gewidmet sein sollte. Die WEA stellte 70.000 Pfund als Vorschuß für einen Sampler zur Verfügung, der einen Teil der Festival-Künstler präsentieren sollte. Es war die Geburtsstunde von WOMAD, dessen Direktor Thomas Brooman werden sollte.
Im Sommer 1982 war es endlich soweit, das Weltmusik-Mammut-Fest konnte in Shepton Mallet steigen. In den Wochen vorher waren Künstler aus aller Herren Länder in den Schulen der Region unterwegs, um auch den Kindern, die freien Eintritt haben sollten, die Festival-Idee nahe zubringen. Sie bauten zusammen Instrumente, Masken oder musizierten. Eine wild geschminkte und maskierte Prozession von 7.000 Kids zog denn schließlich am ersten Tag bis zur Bühne und eröffnete das Festival mit ohrenbetäubendem Lärm.
Auf der Bühne wechselten sich drei Tage lang über 300 Musiker und Tänzer solch unterschiedlicher Bands wie Echo and The Bunnymen, XTC, Simple Minds, The Beat, The Drummers of Burundi, Gamelan Orchester aus Bali, traditionelle Musiker aus Gambia, Prince Nico, Don Cherry und Jon Hassel ab. Jede Band, jeder Stil war genauso wichtig, wurde genauso ernst genommen. Die Auftrittsfolge der einzelnen Acts war nicht von deren Verkaufszahlen bestimmt; die meisten kannte man sowieso nicht. Außerdem ging es hier nicht um eine neue Auftrittsordnung, sondern um den musikalischen Dialog.
Die Attraktionen erschöpften sich nicht nur in der gebotenen Musik. Auf dem Festival-eigenen Marktplatz stellten Handwerker ihre Waren aus, bald jedes Land war mit einer eigenen Küche präsent. Der einzige Hotdog-Stand gab am zweiten Tag entnervt auf – keine Kunden. Das Publikum, eine bunte Mischung aus Punks, Hippies, Alternativen, Musikethnologen und Normalos, waren ebenso wie die versammelte Presse begeistert.
Doch Montag früh gab es für die Veranstalter ein böses Erwachen, man mußte einem gigantischen Defizit ins Auge sehen – Katzenjammer.
Aber wie so oft, wenn man etwas wirklich Einmaliges schafft, finden sich Menschen, die ihre Unterstützung nicht versagen. Peter Gabriels Ex-Kollegen von Genesis kamen auf die Idee, die Band für einen einzigen Gig zu reformieren. Nicht weniger als 189.000 Pfund, das waren damals etwa 756.000 DM, wurden aufgebracht. Die Künstler des WEA-Samplers verzichteten auf ihre Gage.
WOMAD sollte nicht sterben.
Stattdessen setzte man sich zusammen, um ein neues Konzept zu entwickeln. Während sich heutzutage viele Promoter am Woodstock- oder Isle of Wight-Festival orientieren, entschied man sich, einen anderen Weg zu gehen: weg vom unüberschaubaren Massenspektakel, hin zur Produktion
feiner Konzerte und Festivals.
Daneben versucht die WOMAD-Stiftung Gelder aufzubringen, um Workshops in Schulen zu finanzieren und ein Schullehrbuch für den (Welt-) Musikunterricht zu entwickeln. Man hat die Zuhörerschaft des Jahres 2000 schon fest im Auge.
Seit 1984 werden regelmäßig im Sommer Festivals veranstaltet, die wegen der Qualität ihrer musikalischen Darbietungen, den niedrigen Eintrittspreisen und der Schönheit der Veranstaltungsorte schon Wochen vorher ausverkauft sind.
Meist gibt es gar keine Tageskarten, sondern nur Festivalpässe. Das hat seinen Vorteil darin, daß die Konzerte mit den bekanntesten Gruppen nicht von nur einseitig Interessierten überrannt werden. Ob langhaarig oder kurzgeschoren, die WOMAD-Besucher sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich für ein Wochenende von der Unterschiedlichkeit der musikalischen Äußerung auf unserem Globus faszinieren lassen wollen.
Eine Begegnung mit fremden Kulturen, die der Veranstalter mit seinen für jeden zugänglichen Workshops vereinfacht. Vom Gitarren-Spiel der zambischen Bands fasziniert? No problem, nix wie hin zum Vortrag „Die verschiedenen Techniken des Gitarren-Spiels in Zambia“. Kleine Einführung in das Tex-Mex-Akkordeon gefällig? Flaco Jimenez, der Meister seines Fachs, demonstriert es. Bald jede Band hält im Workshop-Programm Vorträge, die die Musik, Traditionen und Songs erklären oder ganz konkret instrumentelle Fertigkeiten vermitteln.
Das klingt alles sehr betulich, trägt aber zur entspannten Atmosphäre des Festivals bei. Genau wie die Ordner, die überall bereitstehen, den Besuchern zu helfen. Es wirkt sich nur positiv auf die Stimmung aus, wenn man seine Eintrittskarte zwei ausgesucht höflichen Damen präsentiert oder der Backstage-Eingang von einem ausgelassen mittanzenden Opi bewacht wird. Es geht also auch ohne kläffende Bulldoggen.
Ein Tummelfeld für Musik-Dogmatiker sind die WOMAD-Festivals auf keinen Fall. Wenn auch die meisten Bands aus dem weiten Spektrum von europäischer und außereuropäischer Volksmusik und deren Weiterentwicklung in Popmusik kommen, sind Newcomer-Bands aus der Region oder der eine oder andere berühmte Rock-Act genauso zu finden. Faszinierend zu beobachten, mit welcher Leichtigkeit das Publikum des letztjährigen Festivals in Cornwall von einem Konzert mit klassischer indischer Musik in Tackheads Acid-geschwängerte Disco wechselte, um sich danach für den nicht angekündigten Special Guest des Abends zu begeistern. Special Guest war niemand geringerer als Peter Gabriel und seine Band, der gemeinsam mit Youssou N’Dour, dem indischen Geiger Shankar und dem pakistanischen Sänger Nusrat Fateh Ali Khan sein Programm für die Amnesty-Tour vorstellte. Ein Konzert, in dem die Idee dessen, was multikulturelle Kommunikation (auf musikalischer Ebene) sein könnte, Gestalt annahm.
WOMAD ist über die Jahre stetig gewachsen und heute die wichtigste Agentur für Weltmusik in Großbritannien. Kein Wunder, daß da irgendwann die Grenzen zu eng wurden. Seit 1987 wird die WOMAD-Idee exportiert – zunächst nach Roskilde, dem großen Rockfestival in Dänemark, anschließend nach Kanada, und inzwischen auch nach Spanien, Frankreich, Finnland und Deutschland. Die Internationale der Weltmusikliebhaber gibt sich ein Stelldichein.