Echte Männer, wahre Werte
Byrds? Countryrock? Neo-Psychedelia? Die Kritiker tun sich schwer, für die Gruppe aus Georgia die passende Schublade zu finden. Doch auf ein Image und ähnlichen Schnickschnack legen die vier aufrechten Südstaatler ohnehin keinen Wert. ME/ Sounds-Mitarbeiter Jörg Feyer sprach mit R.E.M.-Chef Michael Stipe bei ihrem einzi- gen Konzert in Deutschland.
Utrecht war großartig, London ganz gut, aber Paris war fir’n Arsch, einfach furchtbar!“ Michael Stipes Impressionen des kurzen Tour-Abstechers nach „good ol‘ Europe“ am Nachmittag vor dem Düsseldorfer Konzert. „Esgibt“, fährt der R.E.M.-Sänger fort, „halt Orte, wo du festen Boden unter den Füßen spürst. Hier bei Euch z. B. fühle ich definitiv, daß ich tatsächlich da bin — im Gegensatz zu Frankreich.“ Doch am wohlsten fühlt er sich immer noch im Süden der USA, wo die klimatischen Verhältnisse (hohe Luftfeuchtigkeit, richtige Hitze) alle Aktivitäten in einen zähflüssigen Sirup tauchen, der alles sehr, sehr „slow“ vonstatten gehen läßt.
„Ich denke“, sagt Michael Stipe, „daß das essentiellfür unsere Musik ist. Es überträgt sich auf die Worte, die ich schreibe, auf die Art und Weise, wie ich auftrete.“
R.E.M. — außer Stipe noch Gitarrist Peter Bück, Bassist Mike Mills und Drummer Bill Berry — haben es, wie sagt man, „geschafft“, als einzige von allen sogenannten „Neo-Psychedelia“-Bands, die zu Beginn des Jahrzehnts aufmarschiert waren, frischen Wind in die darbende US-Szene zu blasen. Green On Red? Rain Parade? Dream Syndicate? Alle abgeschmiert zwischen Underground und dem Kampf um einen „richtigen“ Plattenvertrag.
R.E.M. aus Athens/Georgia haben für das Vorjahres-Album Lif’s Rich Pageant ihre erste Goldene kassiert und treten drüben vor durchschnittlich 5000 bis 10000 Leuten auf. Dabei haben sie es stets verstanden, das Ungeheuer „Pop-Business“ nach ihren Regeln tanzen zu lassen.
Musikalisch sind R.E.M. immer besser geworden, haben kontinuierlich, ohne auf Trends zu schielen, an ihrem völlig eigenen Sound gebastelt. Die ohnehin fragwürdige Meßlatte „Byrds“, früher um der lieben Vergleiche wegen oft angelegt, ist längst gefallen.
„Unser einziges Kriterium“, so Stipe, „ist: Wir schreiben Pop-Songs, sind ein Rock Y Roll-Act, Gitarre, Baß, Drums, Gesang. Aber innerhalb dieser Struktur kann alles passieren. Wir treffen viele unserer Entscheidungen, indem wir versuchen herauszubekommen, was wir nicht wollen. “ Stipe galt früher bei seinen seltenen Interviews als äußerst schwieriger Gesprächspartner. Fürs Radio ist er immer noch nicht zu haben, doch der schreibenden Zunft tritt er mittlerweile aufgeschlossen, um druckreife Formulierungen bemüht, gegenüber. Vielleicht eine interessante Parallele zu Stipes Entwicklung als Sänger: Konnte zu Anfang ob seines murmelnden Vortrags leicht der Verdacht aufkommen, er sei direkt nach einem schwierigen Zahnarzttermin hinters Studiomikrofon getreten, so schlägt uns Stipe jetzt seine Lyrics mit unerbittlicher, fast schon penetranter Eindringlichkeit um die Ohren. „Noch bis vor eineinhalb Jahren“, versucht er eine Erklärung, „war das Studio für mich dieses große Monster. Ich warf mich dem Biest vor die Füße, und das was dabei rauskam, kam eben raus. Ich dachte immer, ich käme um moderne Maschinen herum, aber dann wurde mir klar, daß ich mich früher oder später doch damit auseinandersetzen muß.“
In Paris übrigens waren R.E.M. im selben Hotel wie Aerosmith abgestiegen; zu einem Treffen kam es jedoch nicht. Auf der B-Seiten-Compilation Dead Letter Office hatte die Band den Bostoner Hard-Rockern mit einer „Toys In The Attic“-Coverversion ihre Referenz erwiesen. „Ich hab‘ sie bewundert, seil ich sehr jung war, Peter genauso. Sie waren meine Heavy Metal-Band, als ich auf der High- School war. Eine merkwürdige Kombination damals: Aerosmith, Television, Blondie, Wire.“
Ein kurzes Lachen huscht über Stipes narbendurchsetztes Gesicht. Er blättert in seinem vollgekritzelten Notizbuch. Auf dem Umschlag steht ein einziges Wort: Freedom.