Tangerine Dream
Bahnt sie sich an, die Tendenzwende in der elektronischen Musik? Sind nun auch die deutschen Zuhörer bereit, wie die 'Welt' meint, "nichtssagende, kosmische Klangmuster" über sich ergehen zu lassen? Nach einer überaus erfolgreichen Dokumentation im April in der Münchener Benno-Kirche, muß man zu dem Schluß kommen, daß die Unsicherheit, die elektronische Musik verursacht, von dem Berliner Trio 'Tangerine Dream' beseitigt wird.
Der Veranstalter Wolfgang Zimmermann bangte einen Tag vor dem Konzert um seine Einlage. 600 Karten, die im Vorverkauf 15,— DM kosteten, waren abgesetzt, aber das war zu wenig, um seine Kosten zu decken. Edgar Froese. musikalischer Zünder des Trios, beruhigte ihn mit den Worten: „Das wird schon werden.“ Für ihn selbst waren die verkauften Tickets ein Zeichen dafür, daß es mit dem Trio auch in Deutschland aufwärts geht. An diesem Tag überschlugen sich für die Gruppe die Termine. Interviews wurden gegeben, Fotosessions gemacht, und dazwischen tauchte immer wieder das bedrückte Gesicht des Veranstalters auf. Er hatte das Konzert initiiert, weil er die Musik so gut, so gewaltig und so gigantisch fand. Doch für seinen Idealismus wollte er nur ungern mit barer Münze zahlen. Na ja, ich konnte seine Sorgen verstehen. „Es wäre schade, wenn er mit seiner idealistischen Begeisterung auf die Schnauze fallen würde,“ meinte Christoph Franke.
Musik vom Nordpol nach Tahiti
Als ich gegen acht Uhr am nächsten Abend in die Benno-Kirche kam, strahlte der Veranstalter. Die Kirche war voll. Er hatte sogar noch zusätzlich Stühle aufstellen müssen. Die Keyboards und der überdimensionierte AM HI-Synthesizer waren vor dem Altar aufgebaut, in indirektes blaues Licht getaucht, das die Kalte in der Kirche auch optisch verdeutlichte. Als das Trio begann, stand ich auf der Empore und fror. Gedanken an Dämonen und Teufelsaustreibungen schwirrten durch meinen Kopf, während ich die im übrigen stockdunkle Kirche mit meinen Blicken überflog. Doch es war alles andere als „Teuflische Musik‘, die in der Kirche ablief, wie eine Münchener Boulevard-Zeitung meinte. Die Musik war kalt, sehr, sehr kalt. Ich hatte das Gefühl, allein in einem eisigen Wind auf einer endlosen, gläsernen Eisschicht zu stehen. Die warmen Melodien im ersten Teil waren zu schwach, um mir etwas von dieser Kälte zu nehmen. Ich wollte weg, hin zu dem warmen Bollerofen in der Sakristei, doch die musikalische Spannung der Drei hielt mich wie erstarrt auf der Empore. Obwohl ich mich nach einem anderen Gefühl sehnte, konnte ich diese Spannung nicht zerbrechen, ohne etwas zu zerstören. „Laß Dich mal hineinfallen und erlebe, was dann passiert!“ Dieser Gedanke von Edgar ging mir durch den Kopf. Ich blieb. Nach einer halben Stunde begann die Eisdecke aufzubrechen, der Boden wurde schwankend. Ich sah, wie die Schollen sich krachend, berstend ineinander schoben, sich auftürmten, und wie sich die riesige Glaswoge auf mich zu schob. Die Spannung der Musik ließ nach, und auch meine Kälte verschwand. Das Licht ging an. Es war Pause. In der Sakristei stand Edgar am Ofen. Ihm war kalt.
Nach der Pause setzte ich mich ins Mittelschiff und erlebte das genaue Gegenteil. Die Kirche war erfüllt von warmen, weichen und wohligen Vibrationen. Mit geschlossenen Augen durchquerte ich die durchsonnte Inselwelt des Pazifik. Ich tauchte ein in Klänge von gestern bis übermorgen, holte schnaufend Luft, um mich erneut diesem Tiefenrausch hinzugeben. Gedankenfetzen flogen an mir vorbei. Die Klänge des Trios brodelten, pulsten und dampften durch die 150 Jahre alte Kathedrale. Zogen sie mich zu mir selbst? Ich wußte es nicht mehr. Der Applaus setzte exakt am Ende des Stückes ein und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Dann geschah etwas seltsames: Das Klatschen wurde rhythmisch, und die Rufe nach einer Zugabe waren auch in der Sakristei nicht zu überhören. Offensichtlich hatte das Publikum mitgelebt und war davon fasziniert.
Kosmisch ist für mich heute komisch
Am Abend zuvor hatten wir gemeinsam auf dem Hotelzimmer versucht, Argumente und Meinungen auf einen Nenner zu bringen. „Kosmisch ist heute für mich komisch,“ urteilte Edgar. „Weißt Du, dieser Aufhänger ‚kosmisch‘, den uns Kaiser vor drei Jahren verpaßt hat, war in seinem begrenzten Rahmen gerechtfertigt, denn es ist schwer, etwas musikalisch Neues mit Worten begreifbar zu machen. Wenn das nicht geht, dann horch mal einfach die Gefühle ab, die bei dieser Musik frei werden. Ich hab noch nie ein kosmisches Gefühl gehabt. Was ist das überhaupt?“ Christoph Franke, der den von den Stones gekauften AM Ill-Synthesizer bedient und so etwas wie der pragmatische Logiker ist, versuchte den Faden weiterzuspinnen. ———— „~ „Alles in unserer Musik entsteht durch die Kommunikation des Augenblicks. Wenn Du so willst, befinden wir uns in einer permanenten Uraufführung. Die Klänge, Muster und Strukturen, die dabei hörbar werden, sind an nichts aufgehängt. Sie existieren, wenn Dir das etwas sagt, frei im Raum. Vielleicht haben deshalb viele Hörer das Gefühl, wir würden des Kosmos zelebrieren.“
Die drei wollen ihre Hörer nicht ins All katapultieren, sondern sie aufnahmebereit für das machen, was bei ihnen selbst abläuft. Daß es dabei nicht zu „kosmischen Gefühlen‘ kommt, liegt auf der Hand. Es sind vielmehr ‚Gefühlsurviecher‘, die da hochkommen: Angst, Hoffnung, Kälte, Wärme, Spannung, Erlösung, Freude und Trauer. Im Konzert tags darauf hatte ich diese Palette am eigenen Körper erfahren.
Virgin Records: Vom Regen in die Traufe
Nachdem die Gruppe 1973 in einen gerichtlichen Clinch mit der Firma Ohr gestiegen war, spitzte die Branche die Lauscher. Die Band selbst bemühte sich, da eine Vertragslösung abzusehen war, um eine neue Firma. Doch alle deutschen Gesellschaften von der Polydor bis zur WEA winkten ab. Adjektive wie esoterisch, prätentiös oder langweilig waren an der Tagesordnung. Rainer Krüger, ein Freund des Trios, knüpfte für die Band die ersten Fäden nach London und da speziell zu der jungen, aufstrebenden Firma Virgin Records. Edgar Froese erinnert sich: „Als ich das erste Mal in das Office Nottinghill Gate 130 kam, dachte ich, hier bist du vom Regen in die Traufe geraten. In dem Büro stand nur das Notwendigste, und die drei Typen, die da rumhingen, sahen nicht gerade wie dynamische Jungmanager aus. Ich hab dann mit Mike Bronson geredet, der mir außer seinen Ideen nichts Konkretes bieten konnte. Aber diese faszinierten mich. Danach hatten wir gesucht.“
Mike Bronson, ein verkrachter Polytechnik-Student, hatte mit den Virgin-Discount-Läden Kohle gemacht. Er suchte nach einer Möglichkeit, das verdiente Geld in ähnliche Unternehmungen zu stecken. Die Idee, selbst Platten zu produzieren, zu pressen und über die eigene Ladenkette zu vertreiben, bot sich an. Tangerine Dream wurde nach Mike Oldfield, Kevin Coyne und Gong das vierte Produkt, das auf dem Label erschien. Mit ihren unkonventionellen Methoden eroberte sich die junge Firma sehr schnell die Gunst der Hörer. Erstens stand die Musik abseits von der bis dahin gehörten, und zweitens profilierte sich Virgin durch zugkräftige PR-Kampagnen, z.B. eine 30%-Ermäßigung für alle auswärtigen Konzertbesucher.
Neue Freiheit
Der Erfolg von Tangerine Dream in England, Australien und Amerika verblüffte die Gruppe nicht. Natürlich, der auslösende Grund kann nur vermutet werden. Edgar Froese interpretiert ihn so: „Die Jungs in England und in der Neuen Welt sind übersättigt. Sie können die Rockmusik nicht mehr miterleben. Sie ist vorprogrammiert. Wir geben den Leuten etwas von der Freiheit zurück, die sie zu Anfang des Rock-Booms hatten. Sie werden wieder fähig, zu reflektieren: sich selbst und unsere Musik.“ Für diese Meinung sprechen auch die Tatsachen. In Australien kassierte die Band eine Goldene. Ihre LPs sind in England und Amerika in den Charts, obwohl die Presse – und hier insbesondere die englische — die Band anfangs in ihren Kritiken so zerriß, daß die Fetzen flogen. Steve Lake, ein ambitionierter Schreiber im englischen Melody Maker, revidierte erst, nachdem er an einem Life-Konzert in der Kathedrale zu Reims teilgenommen hatte, seine Meinung, die er vier Monate vorher so formulierte: „Klangmatsch, keine Musik, ohne Gefühl, einfach unmöglich“; doch was soll’s? 100000 Käufer können sich nicht irren. Damit spielte er auf die Verkaufszahlen in England an. „Es ist schon irre,“ meinte Edgar, „daß ein Schreiber öffentlich seine Meinung ändert. In Deutschland wäre das undenkbar!“ Die Band freut es natürlich, daß sie ihre Käufer auf der gleichen Ebene treffen. Edgar glaubt an ein humanes Musikempfinden, das jeder hat und das nun von einigen Hunderttausend gleichzeitig neu entdeckt wird. „Mann, das ist vielleicht irre, es ist wahnsinnig.“