Kommentar

Ideenrecycling: ARD sucht deutschen ESC-Kandidaten 2017 mit Casting-Show


Nach zwei an Peinlichkeit nicht zu überbietenden Jahren kriecht die ARD zurück in den Schoß von Raab TV und versucht verzweifelt einen neuen Erfolgsact zu züchten. Mit Lena, Tim Bendzko und Florian Silbereisen. Ein aufgebrachter Kommentar.

2016: Stockholm, Jamie Lee, „Ghost“, 11 Punkte, letzter Platz. 2015: Wien, Ann Sophie, „Black Smoke“, 0 Punkte, letzter Platz. Lief nicht allzu gut für Deutschland beim „Eurovision Song Contest“ in den vergangenen zwei Jahren. Nachdem Lena 2010 mit „Satellite“ einen ungefährdeten Sieg holte und „Schland“ endlich mal wieder dem Glauben verfallen ließ, man habe doch Ahnung von junger, moderner, internationaler Musik, verlor sich der Blick der verantwortlichen ARD schnell wieder in einer tiefschwarzen Leere. Klar, der achte Platz von Roman Lob 2012 in Baku war ein respektables Ergebnis, aber wer erinnert sich daran noch, wenn darauf musikalische, pardon, Flachpfeifen wie Elaiza oder Cascada folgten?

Man kann nicht behaupten, Deutschland, vertreten von ARD und NDR, habe nicht alles versucht. Hier mal Ethno-Ziehharmonika-Pop, da Rummel-Bumms-Beat-Eskalation mit hohem Plagiatsfaktor, egaler Midtempo-Pop mit „charakterstarker“ Stimme, wie es Dauerkommentator Peter Urban wahrscheinlich nennen würde. Nur eine tiefe, schonungslose Analyse, was zum Teufel da eigentlich im Argen liegt, die scheint es zu keiner Zeit gegeben zu haben. Viel eher wurde wahrscheinlich gesagt: „Hm, vielleicht mögen die Osteuropäer keine Doppelnamen“ – und verständnislos mit den Schultern gezuckt.

2017 wird es in der ARD heißen: „Eurovision Song Contest – Unser Song 2017“

Nun jedenfalls wurde bekanntgegeben, dass für den ESC 2017 in der Ukraine wieder auf ein altbekanntes und vor allem erfolgreiches Format zurückgegriffen werden soll: Man züchtet sich einfach die neue Lena hoch. 2017 wird es in der ARD heißen: „Eurovision Song Contest – Unser Song 2017“. Vor der Livesendung, die am 9. Februar zur Prime-Time im Öffentlich-Rechtlichen über den Äther geht, können sich hoffnungsvolle Nachwuchssänger und -sängerinnen für einen Slot unter den letzten Fünf bewerben. Wer es soweit schafft, das entscheiden „musikalische Experten“, Vertreter der ARD und der Produktionsfirma Raab TV, mit deren Zusammenarbeit Das Erste bereits Lena und Roman Lob aus dem Hut gezaubert hat. So weit, so bekannt.

Jedoch untergraben die Verantwortlichen damit jegliche Chance auf Individualität und Alleinstellungsmerkmale so plump, dass es schon körperlich weh tut: Statt dem Zuschauer die Chance zu geben, durch eigene Songs oder zumindest eigene Songauswahl der Kandidaten deren jeweilige Facetten und Präferenzen kennenzulernen, schnallt die ARD ihren Künstlern steife Korsetts in Form von eigens für den ESC von „national und international erfolgreichen“ Produzenten eingereichten Songs um. Damit wird weder musikalische noch künstlerische Diversität und Entfaltungsmöglichkeit gefördert, sondern lediglich auf Massenkompatibilität abgeklopft. Turbo-Kapitalismus der etwas anderen Art, wenn man so will.

Doch nicht genug der Widersprüche. Mit Lena, Tim Bendzko und Florian Silbereisen stellt man eine Jury zusammen, die jedoch außer ihrem Senf dazugeben, keinerlei Autorität hat: Über den finalen Vertreter entscheiden weiterhin die Zuschauer. Und dass die in den vergangenen fünf Jahren vier von fünf Mal ordentlich bewiesen haben, keinen Geschmack zu haben, zeigt nur noch offensichtlicher auf, wie verzweifelt die ARD versucht, es jedem Recht zu machen, anstatt einfach auf den Tisch zu hauen und einzugestehen, dass diese Art des demokratischen Prozesses in den vergangenen Jahren nur zu Frust und Pöbelei geführt hat.

Die ESC-Entscheidung von ARD und NDR wird leider zu keinem spannenden Wettbewerb führen

Aber: Da wäre ja noch der Joker, den der Sender aus seinem Ärmel zückt. Erstmals wird der deutsche Vorentscheid nämlich über die offizielle ESC-App gestreamt und eröffnet somit das, was Das Erste ein „europäisches Stimmungsbarometer“ nennt. Denn 2017 dürfen Menschen aus allen Ecken Europas ihre Empfehlung für den deutschen Vertreter abgeben. Das wirft ein paar neue Fragen auf: 1. Warum sollte eine moldawische Familie zur besten Sendezeit einen deutschen ESC-Vorentscheid streamen? 2. Wenn alle deutschen Kandidaten unterirdisch schlecht sind, bringt der Zuschauer in Island mit eben dieser Meinung auch nichts, oder? 3. Warum sollte ein impulsiver, nationalstolzer Deutscher auf die Empfehlung seines luxemburgischen Nachbars hören?

Der Innovationsversuch von ARD und NDR bleibt wohl nur ein Versuch. Es wird bei diesem Vorentscheid, vielleicht mehr als je zuvor, um Konsens gehen, um Gesichter, jedoch nicht um Ecken, Kanten, Charaktere. Diese Entscheidung hat nichts mit Mut zu tun, sondern viel mehr mit Angst – der Angst, es der Öffentlichkeit, die nunmal die Löhne bei der ARD zahlt, nicht um jeden Preis recht machen zu können. Dass dies zu keinem spannenden und vor allem guten Wettbewerb führen kann, liegt auf der Hand.

Schalten Sie doch trotzdem gerne ein, wenn ARD und NDR am 9. Februar 2017 beginnen, einen weiteren nichtigen Kandidaten für Deutschland beim „Eurovision Song Contest“ zu suchen. Wenn Sie die mutmaßliche Belanglosigkeit aushalten wollen und können.