Depeche Mode: „Wir hatten keine Langzeitstrategie“


"Ich habe damals nicht geglaubt, dass es Depeche Mode bis 1981 geben würde." Ein Exklusivinterview mit Martin Gore, dem musikalischen Kopf von Depeche Mode, über die Anfänge, die Gegenwart und die Zukunft seiner Band.

Depeche Mode feiern im Mai ihr 25-jähriges Jubiläum. Als ihr 1980 angefangen habt, habt ihr daran gedacht, im Jahr 2005 immer noch da zu sein?

Martin Gore: Nein, ich habe damals nicht einmal geglaubt, dass es die Band 1981 noch geben würde. Am Anfang war es nur ein Hobby. Wir sind damals einmal pro Woche aufgetreten, haben einmal pro Woche geübt – wir haben das nur zum Spaß gemacht. Wir haben in kleinen Clubs gespielt, und plötzlich aus heiterem Himmel hat sich Daniel Miller (Chef des Mute-Labels – Anm. d. Red.) für uns interessiert. Wir durften im Vorprogramm von Fad Gadget spielen, und ehe wir uns versahen, hatten wir unsere erste Single veröffentlicht, die sich auch ganz gut verkaufte. Ab da begannen wir, die Band ein bisschen ernster zu nehmen. Glücklicherweise wurde unsere zweite Single „New Life“ ein Hit. Seit der zweiten Single hatten wir nichts als Erfolg. Wenn „New Life“ und unser erstes Album Speak And Spell keine Erfolge geworden wären wer weiß, was wir da heute machen würden. Wir hatten uns damals auch keine Langzeitstrategie ausgearbeitet.

Was ist deine früheste Erinnerung an Depeche Mode?

Ich erinnere mich daran, wie Dave zur ersten Bandprobe gekommen ist. Bevor er kam, waren wir nur zu dritt. Ich erinnere mich an unser erstes Konzert mit Dave in einem kleinen Club. Es war sehr gut, Dave brachte eine neue Dimension in die Band, etwas, das uns dreien bisher gefehlt hatte. Er war natürlich noch nicht der Performer, der er heute ist, aber er hatte definitiv schon Charisma.

Welche Phase der Band war für dich die schönste?

Die Zeit, als Black Celebration herauskam und wir auf Tour gingen, habe ich sehr genossen. Mit diesem Album haben wir musikalisches Neuland betreten. Unsere Musik klang anders, und die Leute haben das auch registriert. Das war eine besondere Zeit für mich. Ab diesem Zeitpunkt gab es eigentlich nur noch Hochs für mich. 101 und Music For The Masses – das war auch eine aufregende Phase, weil wir zum ersten Mal in den großen Stadien spielten. Und dann natürlich die Zeit um Violator. Mit diesem Album sind wir wieder auf eine höhere Stufe gekommen, und dann kam plötzlich dieser Riesenerfolg in Amerika.

Was ist das beste Depeche-Mode-Album?

Ich mag alle Alben ab Violator, aber ich nehme an, dass Violator das wichtgste ist. Ich mag aber auch Exciter sehr gerne.

Vince Clarke ist Ende 1981 nach eineinhalb Jahren bei Depeche Mode aus- gestiegen. Wo würde die Band heute stehen, wenn er geblieben wäre?

Ich glaube, dass wir nach dem zweiten oder dritten Album von unserem Label fallen gelassen worden wären. Vince hat sich nicht sehr verändert. Viele der Songs, die er heute für Erasure schreibt, klingen so, dass sie auch vom ersten Depeche-Mode-Album stammen könnten. Vielleicht wären wir auch nach zwei, drei Jahren Teenie-Pop-Stars geworden.

Irgendwie müsstest du ihm dankbar für seinen Ausstieg sein. Weil du dadurch zum musikalischen Kopf der Band geworden bist.

Das war eine Chance für mich, weil Vince vorher wirklich die treibende Kraft hinter Depeche Mode war, er war der Bandleader. Deshalb waren wir anfangs auch geschockt, als er uns mitteilte, dass er die Band verlassen werde. Ich hatte damals auch schon ein paar Songs geschrieben, aber ich dachte, dass sie nicht zu der Musik passen würden, die wir zu dieser Zeit mit Vince gemacht haben. Es war dann aber für mich ganz natürlich, dass ich seinen Part übernehmen würde.

Wie hast du reagiert, als Alan Wilder 1995 seinen Ausstieg aus der Band angekündigt hatte?

Es gab damals ein Meeting in unserem Londoner Büro. Und ich erinnere mich daran, wie ich mit der U-Bahn nach Hause gefahren bin. Dort habe ich Freunde von mir angerufen, weil ich wirklich dachte, das müsse das Ende von Depeche Mode bedeuten, weil wir nicht ohne Alan weitermachen wollten. Ich weiß nicht mehr, wann genau das war, aber irgendwann dachte ich darüber nach, dass Alan nicht mal ein Originalmitglied der Band war und dass es vielleicht doch richtig wäre, ohne ihn weiterzumachen. Das war wie ein Erwachen, und dann haben wir einfach weitergemacht.

Das Remix-Album ist in Deutschland auf Platz 2 eingestiegen. Wenn ich mich nicht irre, ist das die höchste Chartsposition eines Remix-Albums überhaupt. Depeche Mode werden immer erfolgreicher…

Ich weiß wirklich nicht warum, aber es überrascht mich immer wieder. So Sachen wie diese „Depeche Mode Partys“, die jede Woche auf der ganzen Welt stattfinden, sind wirklich eine hervorragende Promotion für uns, die von der Basis ausgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, woher die Leute diesen Enthusiasmus nehmen, die ganze Zeit solche Partys zu veranstalten. Zu solchen Veranstaltungen kommen auch ganz junge Kids, die unsere Musik erst entdecken. So was ist vielleicht hilfreich, um den Mythos Depeche Mode aufrechtzuerhalten. Wenn man als Band lange genug dabei ist, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem die Fans der ersten Stunde die Musik ihren Kindern vorspielen. Bei unseren Konzerten ist fast jede Altersgruppe vertreten – vielleicht weniger die 40- bis 50-Jährigen (lacht). Wenn man mal ein bestimmtes Level erreicht hat, läuft es wie geschmiert.

Wie würdest du nach all den Jahren dein Verhältnis zu den anderen definieren? Sind sie Freunde oder Kollegen für dich?

Nach dieser sehr langen Zeit würde ich das vielleicht eher mit einer Familie vergleichen. Andy ist ein enger Freund, weil ich ihn schon so lange kenne – seit ich elf war. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen. Dave sehe ich ziemlich selten. Als er auf seine Solotournee ging, habe ich ihn in Los Angeles getroffen. Das war unsere erste Begegnung seit dem Ende der Exciter-Tour und bis zu einem Treffen in London, bei dem wir erstmals über das neue Album gesprochen haben.

Hast du vor zwei Jahren eines von Daves Solokonzerten gesehen?

Ja. Das war in gewisser Weise ein surreales Erlebnis. Ich hatte ja noch nie die Gelegenheit, mir ein Depeche-Mode-Konzert aus dem Zuschauerraum anzusehen, weil ich auf der Bühne stehen muss. Im Gegensatz zu den anderen Bandmitgliedern. Die können auch mal runter von der Bühne, wenn ich zum Beispiel einen Song nur zur akustischen Gitarre spiele. Bei seinen Solokonzerten hat Dave neun Depeche-Mode-Songs gespielt, und das war ein bisschen seltsam für mich.

Wenn du Marilyn Mansons Coverversion von „Personal Jesus“ hörst, fühlst du dich da geehrt, oder denkst du, was soll der Scheiß?

Ich fühle mich immer geehrt, wenn irgendjemand meine Songs covert. Ich mag auch die Version von Marilyn Manson. Aber sie unterscheidet sich nicht sehr vom Original. Das ist das erste, was mir daran aufgefallen ist. Natürlich klingt seine Stimme anders, die Gitarren sind ein bisschen heavier, aber die Grundstimmung seiner Version ist sehr nahe am Original von „Personal Jesus“.

Wenn du Depeche Mode in einem Satz beschreiben müsstest, wie würde er lauten?

Das kann ich nicht. Ich bin jetzt schon so lange dabei, ich stecke so in der Sache drin, dass ich das nicht in einem Satz ausdrücken kann.

Okay, dann in zwei Sätzen.

(lacht) Das geht nicht. Es würde ein Buch werden, wenn ich damit anfinge.

Was ist dran an dem Gerücht von der Zusammenarbeit zwischen dir und Madonna?

Ich habe keine Ahnung, wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat. Aber es ist derart weitverbreitet, dass mich jeder darauf anspricht. Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat, aber wahrscheinlich sitzt derjenige jetzt irgendwo und lacht sich schlapp, weil sich das Gerücht dermaßen verselbständigt hat. Ich habe ja nicht mal genügend Zeit, Songs für die Band zu schreiben, geschweige denn für Madonna.

Wurdest du für sie arbeiten wollen?

Ich habe noch nie großartig Songs mit jemandem zusammen geschrieben – ich habe auf einem Song des Gwen-Stefani-Albums Gitarre gespielt. Sie wollte eigentlich, dass ich einen Song mit ihr schreibe, aber Songschreiben ist eine sehr persönliche Sache. Ich kann mir nicht vorstellen, gemeinsam mit jemandem in einem Zimmer zu sitzen und Songideen auszubrüten. Ich weiß nicht genau, wie Madonna arbeitet, aber es würde wahrscheinlich auch darauf hinauslaufen, dass wir gemeinsam in einem Zimmer sitzen und versuchen, ein paar Worte aufs Papier zu bringen und ein paar Akkorde zu spielen. Songschreiben ist für mich eine sehr persönliche Sache.

Und eine sehr einsame dazu, oder?

Oh ja. Manchmal sitze ich zwei Wochen lang in meinem Studio und tue überhaupt nichts, weil mir die Inspiration fehlt. Und irgendwann kommt dann die Inspiration, und ich beginne an einem Song zu arbeiten.

Ihr habt euch Anfang Dezember in Kalifornien getroffen, um die Aufnahme eures neuen Albums vorzubereiten. Wie sahen diese Vorbereitungen genau aus?

Wir haben nur die Termine festgelegt und uns über grundsätzliche Fragen verständigt.

Sind die Songs schon fertig?

Ich habe bereits sieben Songs geschrieben. Und Dave hat jede Menge, von denen wir zwei oder drei auswählen. Dann werden wir Mitte Januar mit einer fünfwöchigen Session beginnen. Bevor wir dann mit der zweiten Session anfangen, habe ich noch genug Zeit, Songs zu schreiben.

Wie seid ihr auf den Produzenten Ben Hillier gekommen?

Ben hat eine gamz andere Herangehensweise als die Produzenten, mit denen wir in der Vergangenheit zusammengearbeitet haben. Bei unseren letzten Alben hatten wir Produzenten, die sehr elektronikfixiert waren, Mark Bell bei Exciter und Tim Simenon bei Ultra. Ben ist nicht so stark elektronikfixiert. Er hat mehr von einem Oberaufseher, der verschiedene Leute mit ins Spiel bringt, Programmierer und so. Er sieht mehr das Gesamtbild.

Inwiefern braucht ein Depeche-Mode-Album überhaupt einen externen Produzenten?

Ich glaube, dass wir jemanden brauchen, der die Funktion eines „Schulleiters“ übernimmt, (lacht)

Wie würde ein Depeche Mode-Album klingen, wenn ihr es selber produzieren würdet?

Es würde mehr basic klingen. Wir brauchen jemanden, der unsere Energien bündelt, der ein Auge auf das Gesamtbild wirft. Wenn du Songs schreibst und aufnimmst und produzierst – wenn du das alles selber machst, dann verzettelst du dich in Kleinigkeiten, der Blick auf das Gesamtbild geht dabei verloren.

Wenn Depeche Mode ein neues Album aufnehmen, tun sie das dann aus einem inneren Zwang heraus, weil sie die Pflicht haben, etwas fortzuführen, das sie noch nicht beendet haben?

Ich glaube nicht, dass wir das Gefühl haben, die Pflicht zu verspüren, etwas zu Ende zu bringen. Aber wir sind uns schon bewusst, dass wir in den vergangenen 25 Jahren ein Vermächtnis aufgebaut haben. Und das möchten wir nicht zerstören. Wenn wir das Gefühl hätten, unser neues Album wird nicht funktionieren, weil es nicht mit den Standards mithalten kann, die wir selber vorher gesetzt haben, dann sollten wir einfach aufhören. www.depechemode.com