Kraftwerk – Elektronischer Lebensstil
Seit Monaten freute ich mich auf eine Zusammentreffen mit Ralf Hütter, denn die Plattenfirma hatte avisiert, das die neue Kraftwerk-LP fertig sei und die Kraftwerker zu einem Interview bereit seien. Aus Gründen, die in der Geschichte sehr deutlich werden, kam es erst vor einigen Tagen zu unserem Treff. Ralf Hütter ist ein äußerst kluger, sensibler Gesprächspartner und durch seine Forschertätigkeit bewegt er sich dabei in vielen Dingen auf einer Ebene, die uns Normalverbrauchern“ neu, zumindest nicht bewußt genug ist, da wir uns von Alltagsproblemen, Streß, Hektik und Reizüberflutungen systematisch kaputtmachen lassen. Kraftwerk leben in einer erweiterten Dimension unseres Gedankengebäudes und das nicht durch Drogen, sondern durch systematisches Forschen, Selbsterkennung, Selbstbesinnung und Selbstbeschränkung.
Ich hatte eine andere Geschichte geplant, wollte viel über die neue Show erfahren, die nun am 29. Mai in München (Zirkus Krone), 30. Mai in Frankfurt (Festhalle), 1. Juni in Hamburg (Audimax), 2. Juni in Berlin (Metropol), 3. Juni in Mannheim (Mozartsaal) und am 13. Juni in Düsseldorf (Philipshalle) läuft die erste. Tournee von Kraftwerk seit 1976(1), doch dann habe ich mich entschlossen, einen Teil unseres Gespräches unverändert in Wort und Reihenfolge wiederzugeben. Ich glaube, es vermittelt viel von dem Geist, der die Arbeit dieser Gruppe tragt.
All jenen, die sich auf die Kraftwerk-Konzerte freuen, sei gesagt, daß sie nicht enttäuscht sein werden; es wird einmalige technische Leckerbissen und für Elektroniker ungewohnt powervolle Musik geben!
ME: Exakt vor drei Jahren habt ihr MENSCH-MASCHINE veröffentlicht. Das neue Album, auf das wir so lange warten mußten, heißt COMPUTERWELT. Sicher habt ihr nicht unbewußt diese Thematik gewählt…
Ralf Hütter: Wir haben ständig gearbeitet. Wir sehen uns nicht als Musiker, die den großen Einfall haben, blitzartig, und dann sagen,das ist es!“. Wir sehen uns als Musikarbeiter. Deshalb haben wir dieses Studio, das Kling Klang Studio, wo wir seit über zehn fahren jeden Tag arbeiten. Gedanken und Ideen spielen dabei auch eine bestimmte Rolle, aber wir komponieren und spielen nicht nur, wir machen an unserer Technik mit Hilfe von Ingenieuren ja auch alles selbst. Wir sehen uns als produktives Team, das nicht nur Musik macht, sondern s Technik, Video-Filme und andere 5 Dinge. Wir nennen das Totalmusik.
Das sind nicht nur Töne, das manifestiert sich in einem elektronischen Lebensstil. In allen Lebensbereichen setzen wir uns damit auseinander.
An irgendeiner Stelle ergibt sich die Musik daraus zwangsläufig und klingt dann so und nicht anders. Das ist so, wenn man sich den ganzen Tag mit diesen elektronischen Apparaten und dem Realismus der heutigen Zeit beschäftigt und sich darüber klar wird. Für uns steht dann fest, das kann nur so klingen. Für uns kann 1980, ’81 nur so wie COMPUTERWELT klingen. Das ist wie eine Zeitmaschine, wo am Ende das rauskommt, was wir überall mit unseren Sinnen aufgenommen und verarbeitet haben. Es ist das zwangsläufige Ergebnis unserer Forschungsarbeit. Dabei spielt die kreative Idee nur eine Rolle. Mit der Magnetton- und Videoaufzeichung kann man sich selbst erforschen, psychologisch. Und wenn man da ehrlich ist, sieht man, aus wieviel kleinen Teilchen sich alles zusammensetzt. Den Faktor Zeit können wir dabei nicht bestimmen. Deshalb hat COMPUTER WELT so lange gedauert.
ME: COMPUTERWELT klingt, nach erstem Anhören, einfach. Im positiven Sinne. Kann das heißen, daß unser Leben einfach ist?
RH: Nein, das glaube ich nicht. Das Leben ist nicht einfach. Aber wir stehen auf Konzentrat. Wir lieben die geraden Linien. Kraftwerk steht für eine ziemlich gradlinige Sache, die wir seit Jahren machen. Wir sind nicht besonders flexibel…
ME:… seid ihr stehengeblieben…
RH: … ich meine geradeaus nach vorn. Für uns sieht es so aus, als ob wir uns entwickelt haben. Wir wollen unsere Musik gradlinig, ohne Schnörkel spielen, weil es für uns feststeht, daß das am schwierigsten ist. Und es ist für uns am ehrlichsten, so direkt zu spielen.
ME: Im gewissen Sinne wird das zur Volksmusik.
RH: Es wäre großartig, wenn uns das gelänge. Elektronische Volksmusik. Das schwirrt auch in unseren Gedanken rum. doch das ist nicht unsere Entscheidung. Wenn aber in unserer Musik was drin ist, was die Lebenssituation des heutigen Menschen betrifft und das man verstehen kann, dann haben wir das Gefühl, das wir unsere Arbeit auf der richtigen Ebene getan haben. Es geht da um Wahrheitsfindung, Wirklichkeitsfindung für uns selbst. Es interessiert uns, was mit uns los ist. Weil wir hier leben und ständig diesen Einflüssen ausgesetzt sind. Wir nennen diese Platte ,Neue Sachlichkeit‘.
ME: Sie klingt für mich sehr positiv!
RH: Grundsätzlich ist unsere Lebensform positiv. Sonst würden wir das nicht machen. ,Der Rhein ist verseucht“ voll Zynismus zu sagen, also kippe ich meinen Müll da auch noch rein“ das hieße für uns mit der Arbeit aufzuhören. Denn musikalisch gesehen hieße das ja, daß die Musikwelt musikalischer Müll ist.
ME: Ist sie das nicht auch?…
RH: Sie besteht zu einem großen Teil aus akustischem Müll. Für uns steht fest, daß die Musik-Industrie im weitesten Sinne auch Umweltverschmutzung betreibt, so wie jeder andere Industriezweig auch. Ich glaube, es wird eine Zeit kommen – das steht für uns heute schon fest – wo weiten Kreisen klar wird, daß man sich nicht mehrere Stunden irgendein Zeug übers Radio ins Hirn reinbrennen lassen kann, denn das kriegt man nie wieder raus! Was da über das Unterbewußtsein reinrieselt, bliebt drin. Heute sagt man, „was soll’s, laß doch das Radio laufen.“ Auch diese Art der Verschmutzung wird sich auswirken. Wir leben nicht nur in einer Welt der physikalischen Zerstörung, des Mißbrauchs, sondern auch die Verschmutzung der geistigen Welt, die total mit akustischem und visuellen Müll vollgeschüttet wird hinterläßt Schäden. Wenn das nicht aufhört, wird es Dauerschäden geistiger Natur geben, die vielleicht nicht mehr reparabel sind.
ME: Damit verlangst du, daß wir alle uns befleißigen, die Dinge einzeln und bewußt aufzunehmen…
RH:.. .ja, bewußt aufnehmen. Sich konzentrieren. Jeder versucht heute, sechs Sachen auf einmal zu machen …
ME:… und ist auch noch stolz darauf! Sollte man dann nicht weitergehen und die Dinge, die auf den Markt kommen, begrenzen? Aber ist das nicht ebenso gefährlich?
RH: Die Antwort kann nur sein, daß man alldem nicht mit Zynismus begegnet und sagt, „egal, noch ’ne Müllplatte auf den Markt“. Wir haben für uns die Erfahrung gemacht, daß man aus dem Nichts etwas machen kann. Auf ein unbespieltes Tonband kann man was draufspielen… Wenn man dann daran arbeitet, merkt man, wie die eigenen Kreativität, die eigene Kraft wächst. Nur durch Tuen, durch Handeln.
ME: Die Texte auf euren Platten sind ebenfalls auf ein Minumum reduziert. Zitat:
Interpol und Deutsche Bank FBI und Scotland Yard Flensburg und das BKA Haben unsere Daten da. Nummern, Zahlen, Handel, Leute. Automat und Telespiel Leiten heuf die Zukunft ein. Computer für den Kleinbetrieb Computer für das Eigenheim. Reisen, Zeit, Medizin, Unterhaltung. Computerwelt, denn Zeit ist Geld. (Textauszug „Computerwelt“)
RH: Ja. Das sind Code-Worte, Schlüsselworte. Weil wir auch keine Schriftsteller sind. Außerdem glauben wir, daß in Sprache, Schrift bereits alles gesagt ist. Vielleicht ist es ein Medium, das veraltet ist. Man glaubt nur, was man schwarz auf weiß lesen kann. Das ist Mittelalter. Man kann auch einen Film sehen, eine Platte hören. Bilder, die visuell-akustisch transportiert werden. Unsere Musik läßt sich nicht in Worten beschreiben, nicht in einzelne Worte zusammenpressen. Deshalb benutzen wir Worte als Klangdinge, als Gedankenanstöße. Und zu dieser Platte mußten wir nicht nur die Soft-Ware, also die Musik, machen, wir mußten auch teilweise die Hard-Ware erstellen. Man kann nicht sagen, wir machen jetzt diese Musik und spielen das alles auf der Blockflöte. Computerwelt läßt sich nicht auf der Flöte darstellen.
ME: Wie stellt sich die Computerwelt dar?
RH: Als Realismus. Zunächst ohne Wertigkeit. Wir versuchen das ohne Moral zu sehen, weil wir glauben, Moral kann man sich heute überhaupt nicht mehr leisten…
ME:… aber entwickelt sich nicht aus der technisierten Computerwelt wieder eine neue Moral?
RH: Mehr aus der Erkenntnis. Wir müssen unser Leben durchsichtiger machen. Es wird doch soviel verschleiert. Keiner soll das merken. Unser Leben basiert auf Tarnung.
ME: Computer tragen mit ihrer Speicher- und Abrufmöglichkeit entscheidend dazu bei. RH: Selbstverständlich. Deshalb machen wir das ja auch. Wir denken, daß man mit Computern auch ganz andere Sachen machen kann, transparente. Reproduktive Tätigkeit, mit der sich ein großer Teil der Menschheit in der westlichen Zivilisation belaßt und Zeit verschwendet, kann man anders nutzen. Zu mehr Kreativität, Produktivität nicht im Sinne von Gewinn — sondern von produktiverem Leben. Reproduktive Tätigkeiten kann man einschränken.
Unsere Musik hat keinen hohen Entspannungswert. Sie ist mehr direkt, dynamisch.
ME: Dann ist COMPUTERWELT überaus politisch zu sehen!
RH: Ja, ziemlich.
ME: Anstöße geben…
RH: Vor allen Dingen in dem Bereich, in dem wir tätig sind Es gibt Leute, die sind politisch sehr aktiv, öffentlich, den ganzen Tag politisch! Sie geben alle möglichen Sachen von sich und wenn sie dann sie selbst sind in ihrer wirklichen Existenz, dann sehen sie sich plötzlich als Cowboy. Musik ist da für mich eine Wissenschaft, die das Privateste, Intimste im menschlichen Leben berührt. Sie gibt die eigentlichen Schwingungen des Menschen als psychische Existenz wieder. Musik ist eine Wahrheitsdroge. Das Tonband als Beweismittel. Man kann sich verstellen wie man will, auch die Verstellung ist zu erkennen. Die Revolutionierung des Lebens muß ihren Ursprung in der privaten Existenz haben. Es wird im Medienbereich soviel gefaselt und gedudelt, aber es hat keine existentielle Konsequenz. Wir versuchen, das zu erreichen. Ob uns das gelingt, weiß ich auch nicht. Unser Gedanke ist, das so radikal wie möglich zu verwirklichen. Wenn unser Musik nicht ihre Wurzeln im wirklichen Lebensstil hat, ist es alles nur Stammtisch-Unterhaltung. So sehe ich unser politisches Bewußtsein. Daß diese radikale Haltung sich tatsächlich als Leben ausspricht. Das Abfalldenken, das Sich-wegdenken. Das geht nicht Ich bin hier und erlebe alles voll. Mittendrin. Wir bauen keine Tabus auf. Wir leben in einer Computerwelt, also machen wir ein Lied daraus.
ME: Der Song „Taschenrechner“…
RH: Er ist eine menschengerechtes Objekt geworden. Dimensionen, die greifbar sind. Wir haben mit Taschenrechnern und einer Kinderspielzeug-Miniorgel rumgebastelt. Zunächst machen wir unsere Musik nicht gedanklich. Wir experimentieren, improvisieren. Wir können nicht voraussehen, was da kommt. Man muß offen sein. Wir fungieren oft medial. Sachen kommen auf uns zu, man wird selbst zum Medium.Jeder macht das, was ihm gemäß ist. Das ergibt sich aus dem langen Zusammenleben. Jeder weiß seine Schwächen und Stärken. Wir sprechen kaum über Sachen, die wir machen. Digitale, computerisierte Abspeicherung. Töne fast für ewig abspeichern. Elektronische Bücher. Damit beschäftigen wir uns. Wir brauchen uns nicht mehr mit reproduzierbaren Dingen zu beschäftigen.
ME: Ähnlich wie Jazzer es tun, frei über gewissen Schemata zu improvisieren, kreativ zu sein…
RH: Ja, wir versuchen, die Grundstrukturen nicht so kompliziert zu machen, damit man sich nicht darauf konzentrieren muß, richtig zu spielen. Räume schaffen, in denen man frei arbeiten kann.
ME:… mehr verinnerlichen, ohne an Spieltechnik denken zu müssen und Gefühle nach außen geben…
RH: …Durch die Computer brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, ob wir alles richtig spielen. Ein klassischer Pianist muß jeden Tag fünf, sechs Stunden üben, um sich mechanisch in Form zu halten. Das ist doch ein Witz. Der kaut wieder. Der Computer hingegen spielt auch technisch bisher unspielbare Sachen. (Hier teilen sich unsere Gedanken, weil ich zum einen glaube, daß wir unser Leben nicht ohne Traditionen leben können, also auch das herkömmliche Klaviere brauchen, und daß wir, unseren Stimmungen gemäß, eine Beethovensonate z.B. jeden Tag, ja jede Sekunde anders spielen, da wir sie anders empfinden, da wir anders sind, andere sind. – d.i.) Das zeigt doch, daß sich die andere Richtung, das alte Herrschaftssystem, total zusammenbricht Gewisse Herrschaftsstrukturen, die da sind, aufgrund von physikalischen und mechanischen Gesellschaftsformen, werden durch ein elektronisches Zeitalter, das jetzt beginnt, zusammenbrechen. Auch Gedankengebäude, denn die sind noch schlimmer als physikalische.
ME: Was wird der Mensch dann noch für eine Rolle spielen, welche Aufgabe hat er in diesem System?
RH: Er muß eine neue Identität finden. Die Figur des heutigen Herrschaftsmenschen, so wie er rum läuft, ist längst zum Roboter geworden. Wir haben diese Stufen ja selbst durchlaufen. Schaufensterpuppen – wir haben es an uns selbst erfahren. Wie wir heute arbeiten, ist völlig anders, als noch vor wenigen Jahren. Der Gedanke der Machbarkeit. Softer denken, das Gedankliche in den Vordergrund stellen. Ein Großteil der heutigen Musik sehe ich als gymnastische Übung. Da macht einer ein Schlagzeugsolo. Da sitzt ein schwitzendes Bündel. Das ist doch ein Witz! Eine Form körperlicher Ertüchtigung. Das Gebäude habe ich durchschaut. Man muß in anderen Dimensionen denken.
ME: Heißt da, daß du das meiste, was auf dem Musik-Markt passiert, ablehnst?
RH: Ablehnen nicht, aber es hat für mich überhaupt keine Bedeutung. Wunderbare Gymnastik. Was nicht heißt, daß das besser ist, was ich mache.
ME: Aber für mich gibt es Stimmungen, da will ich mich direkt körperlich von kräftiger, herkömmlicher Rockmusik berühren lassen…
RH: Das ist für mich kaum mehr möglich. Das ist für mich eine faschistische Kunstform. Wo es darum geht, daß einer oder mehrere die Herrschaft über möglichst viele Millionen Zuhörer übernimmt.
ME: Das stellt sich doch auch bei euch ein! Wenn der „Taschenrechner“ in Discotheken zu hören sein wird!
RH: Das ist das Medium. Aber wir hoffen, daß das bei uns in einer anderen geistigen Haltung passiert.
ME: Ein frommer Wunsch. Mögest du recht behalten. Aber hast du in jüngeren Jahren nicht auch anders gedacht, bist in Konzerte gegangen?
RH: Ja, ich mache den Leuten nicht den Vorwurf, die heute in Hämmer-Konzerte gehen. Aber denen, die wissen, was da läuft. Die das gezielt verbreiten. Die wollen Herrschaft ausüben. Der amerikanische Rockmarkt! Ich bin froh, daß sich in Deutschland soviel tut. Eine ganz neue Generation das gibt Auf
ME: Zur Platte MENSCH-MASCHINE wolltet ihr eine Tournee machen, die letzte lief 1976, es wurde 78 nichts daraus. Warum?
RH: Wir haben es nicht geschafft. Wir wollen keine halbfertigen Dinge machen. Wir hatten die Idee mit der Computer-Schaltzentrale. Das mußten wir bis zuende durchentwickeln. Jetzt ist es soweit und wir gehen weltweit auf Tournee. Von Ende April bis in den Juli hinein.
ME: Was werdet ihr auf der Bühne spielen, was wird technisch passieren?
RH: Wir spielen gesammelte Werke. Konzepte in variierter Version. Wir spielen nicht reproduktiv, sondern alles so, wie wir es heute fühlen.
ME: Warum macht ihr Konzerte?
RH: Es geht eine Form von Energie von Menschen, die sich an gleichem Ort befinden, aus. Wir als Batterien, die sich aufladen, entladen. Da kommen Energieströme zusammen, die für uns wichtig sind. Wenn man das allerdings zuviel macht, stumpft das ab. Durch solche Reizüberflutung fliegt man hinterher weg. Auf der Bühne spielen, ist auch eine Form des Sich-Findens. Aber anschließend müssen wir uns wieder zentrieren. Wir brauchen keinen Urlaub, wir arbeiten dann wieder im Kling Klang Studio.
ME: Danke, Ralf, es war ein sehr interessantes Gespräch!