Chappell Roan & Charlie XCX: Das ist der Summer of 24
Julia Friese erklärt, welche Pop-Girls sich gerade mit Nostalgie an die Chartspitze singen.
Drei Beobachtungen:
1. (setze-attribut-ein)-girl-summer.
Seit dem Hot Girl Summer, der 2019 von Megan Thee Stallion durch ihre gleichnamige Single ausgerufen wurde, gibt es im Internet jedes Jahr einen (Setze-Attribut-ein)-Girl-Summer. 2020 war es natürlich der pandemische Sad Girl Summer besungen von Maisie Peters. 2023 gab es den Tomato Girl Summer, der keine weiteren musikalischen oder gar politischen Implikationen hatte, als sich rot anzuziehen, um sich mit Tomaten oder anderweitigen sogenannten Cottage-Core-Elementen fotografisch in Szene zu setzen. Dieses Jahr war Brat Summer. Man hörte Charli XCXs BRAT, be-accessoire-te sich dem Cover entsprechend neongrün, während man Wein im Unterhemd auf einer Vibrationsplatte trank.
Oder man war einfach nur sehr Ich-bezogen chronisch online. Dann war da aber noch Sabrina Carpenter, die sich an der US-Billboard-Spitze mit ihren Singles immer wieder selbst entthronte, um dann eine ganze Tour auszuverkaufen, woraufhin Taylor Swift kommentierte: „SUMMER OF SABRINA AND MAY IT CONTINUE FOREVER “. Das könnte man nun so stehen lassen, wäre da nicht noch Chappell Roan gewesen. Der neue Superstar, der sich abzeichnete wie Trump am Himmel über Amerika, oder die identitären Regierungen in den dunklen Starkregenwolken über Europa …
2. die fünfziger durch die brille der achtziger auf den lines der gegenwart
Charli XCX ist die Pop-Künstlerin, die die Gegenwart am sortenreinsten verkörpert. Natürlich gibt es auch in ihren Texten nostalgische Referenzen wie „Von Dutch“ oder „Mean Girls“, aber alles in allem wirkt sie authentisch jetzt. Eben chronisch online. Sie holt sich Influencerinnen in ihre Videos, und trägt Ski-Brille zur Musik, durch die das aschenbecherkalte Herz des Internets schlägt. Sabrina Carpenter hingegen wirkt wie aus den Achtzigern abgepaust. Ihre Musik ist eine Wiederkehr der Bangles, aber mit funny Selbstmarketing-Lines wie: „Walked in and dream-came-trued it for ya / Soft skin and I perfumed it for ya.“
Am bekanntesten ist ihre Espresso-Line: „Say you can’t sleep, baby / I know, that’s me espresso.“ Es sind Lyrics, die aus der Dauerwerbesendung Social Media gemacht sind. Ich mag es an gleicher Stelle schon mal gesagt haben, aber: Wir konsumieren und reproduzieren Eigenwerbung jeden Tag den ganzen Tag. Marketing ist die Kunst der Gegenwart und Ads die Art, wie wir kommunizieren. Song-Lyrics, die nichts als ein Konglomerat aus Self-Slogans sind, müssen natürlich in ein Nostalgie-Gewand gesteckt werden. Denn was tut Werbung? Die Schönheit der Vergangenheit an eine ersehnte Zukunft verkaufen (John Berger). So wirken Carpenters Musikvideos voller abgenutzter Kopfschal-und-Cabrio- zu High-School-Sweetheart-Ästhetiken reinterpretiert, aber eben nicht modern reinterpretiert, sondern wie die Fünfziger durch die Brille der Achtziger, fahrend auf den (Koks-)Lines der Gegenwart.
3. kaffee attributierte girls
Chappell Roan wiederum ist die Wiedergeburt von Marina and The Diamonds, aka der Myspace-und-Tumblr-Jahre. Falsett-Dramatik über Camp- und Drag-Optiken, verquirlt mit The-Band-Anleihen und – natürlich! – Achtziger-Pop. Chappell Roans Hit „Good Luck Babe“ schafft es, gleichzeitig so zu klingen, als sei er von Marina and The Diamonds und Sabrina Carpenter. Denn auch Roan textet natürlich Eigenwerbung an Eigenwerbung: „H-O-T-T-O-G-O / You can take me hot to go.“ Man sieht: Kaffee-Attribute auf sich selbst anzuwenden, ist das Ding gerade. Roans „Super Graphic Ultra Modern Girl“ hingegen ist sowohl ein Song als auch die perfekte Behashtaggung für Charli XCX, wie auch eine potenzielle Vibe-Blaupause für einen Summer.
Also was darf es heute für Sie sein? Neongrünes Vapen mit Charlie XCX? Ein süßer Espresso mit Sabrina? Oder gleich ein heißer Kaffee in den Schritt à la Chappell Roan? Egal was. Hauptsache natürlich der echte Summer of 24 muss nicht erlebt werden.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 09/2024.