Pet Shop Boys im großen Interview: Dr. Pop & Mr. Hyde
So geht’s zu bei einer Stunde Deeptalk mit den wunderbaren Pet Shop Boys. Lest hier unsere Digital-Coverstory.
Der allwissende Neil Tennant und der geniale Versteckspieler Chris Lowe wundern sich selbst, aber: Die Pet Shop Boys sind wieder hip. Die Sleaford Mods covern „West End Girls“, der legendäre Groucho-Club will sie zurückhaben – und ihr altes Plattenlabel auch. Das Duo bedankt sich und legt mit NONETHELESS ein Album vor, auf dem Tennant noch einmal in die Rolle des „New London Boy“ schlüpft und die beiden ihr Herz für Die Flippers entdecken. Noch in der Hinterhand haben sie einen Song über die Unterhosen von Putin. „Über so was singt ja sonst niemand“, echauffiert sich Neil Tennant, der darüber hinaus ein Soloalbum mit Folksongs in Aussicht stellt – und gar nicht mitbekommt, wie Lowe ihn mit Kiki Dee vergleicht und hopsnimmt, weil Sprachenstreber Tennant sich am sehr deutschen Wort „nichtsdestotrotz“ abmüht. So geht’s zu bei einer Stunde Deeptalk mit den wunderbaren Pet Shop Boys.
Hast du eine Frage zum Pop? Willst du wissen, was Pop bedeutet, was er leistet? Und hast du Interesse daran, zu erfahren, warum Pop dem Rock heillos überlegen ist? Dann wende dich an diesen fast 70 Jahre alten Mann mit Glatze und neuerdings markanter Brille, der aussieht wie ein wandelndes Lexikon – wenn auch eher in Disziplinen wie Ägyptologie oder Paläontologie. Dabei ist Neil Tennant: Dr. Pop, der Mann, der dieses Genre wie kaum ein anderer versteht. Weil er es miterfunden hat.
Woher du weißt, dass er mit dem, was er sagt, recht hat? Neben ihm sitzt Mr. Hide, der beste Versteckspieler der Branche, ein beinahe 65 Jahre alter Mann, der bei offiziellen Anlässen zuverlässig mit Basecap, Hoodie und Sonnenbrille erscheint, was dazu führt, dass er als Mitglied eines der erfolgreichsten Popduos der Welt vollkommen unbehelligt im Tesco einkaufen kann. Sollte sein langjähriger Freund und Kollege rechts von ihm Unsinn erzählen, würde Chris Lowe grinsend mit dem Kopf schütteln und einen trocken-bissigen Kommentar ablassen, so was wie „er wieder mit seinen Theorien“. Gut, manchmal erwischt man Lowe dabei, wie er still in sich hineingrinst, wenn Tennant seine Thesen über Putin, Adele oder Die Flippers vom Stapel lässt. Echten Widerspruch gibt’s aber nur sehr selten. Da vergleicht er ihn lieber mit Kiki Dee. Aber dazu später mehr.
Hier die Deluxe-Edition des neuen Albums kaufen:
AmazonZur Veröffentlichung ihres neuen und 15. Albums NONETHELESS haben sich die Pet Shop Boys ein „in depth interview“ gewünscht, was bedeutet: deutlich mehr Zeit als die übliche halbe Stunde. Nichts lieber als das! Organisiert wird das Gespräch via Zoom, Neil Tennant und Chris Lowe sitzen im Tonstudio vor einem sehr guten Mikro, wie es sich für Soundästheten gehört. Zu Beginn sind sie ein wenig enttäuscht, weil sie die Falschinformation bekommen hatten, in diesem Augenblick mit einer Journalistin aus Buenos Aires zu sprechen. Stattdessen ein Typ aus Köln. Na ja. Auch gut. Der Dom! Der Rhein! Und Schlager gibt’s im Rheinland natürlich auch. Diese urdeutsche Musikrichtung ist ein überraschendes Thema auf NONETHELESS, einem Album, mit dem die Pet Shop Boys und ihr neuer Produzent James Ford (der zuletzt auch für die Arctic Monkeys und Depeche Mode gearbeitet hat) zu einer melodischen Stärke zurückfinden, die sie auf den Alben SUPER von 2016 und HOTSPOT von 2020 vermissen ließen.
Die Laune der beiden ist auch deshalb prima, weil es ein Jubiläum zu feiern gibt: Vor gut 40 Jahren, im April 1984, veröffentlichen die Pet Shop Boys ihre erste Single, „West End Girls“, hier noch in der ersten Fassung, produziert vom US-Produzenten und Sänger Bobby Orlando. Dieser – er nennt sich selbst Bobby ,O‘ – war eine der interessantesten Figuren in der New Yorker Pop- und Discoszene zu Beginn der Achtzigerjahre. Als Kind der Postmoderne überschwemmte Orlando den hungrigen Musikmarkt mit einer Vielzahl von Aufnahmen zwischen Pop und Dance. Er gilt als einer der Miterfinder des Hi-NRG-Sounds, der zunächst in den Gay-Clubs rotierte, bevor ihn in England das Produzententeam Stock, Aitken, Waterman für die Charts optimierte. Orlando erfindet Retortenbands wie The Flirts, Hippies With Haircuts oder Barbie & The Kens, viele seiner unzähligen Platten nimmt er aber auch einfach selbst auf, um sie unter diversen Namen bei verschiedenen Labels zu platzieren.
Entsprechend oft fanden sich Singles seiner Nunzio Brocheno Productions in der Redaktionspost der großen Popmagazine, wobei die Platten ob der reinen Masse irgendwann ungehört in die Kiste mit der Aufschrift „zum Mitnehmen“ wanderten. Einer, der gerne zugriff, war Neil Tennant, damals Redakteur bei „Smash Hits“ sowie ein erklärter Fan von Bobby ,O‘. Als er den Auftrag erhielt, nach New York zu fliegen, um dort bei einem Konzert von The Police ein Interview mit Sting zu führen, nutzte Tennant den Trip, um bei Orlando vorstellig zu werden. Schließlich hatte der Redakteur gerade selbst ein Popduo gegründet: Pet Shop Boys, zusammen mit Chris Lowe, einem talentierten, aber schweigsamen Ex-Architekturstudent.
Ob man nicht zusammen eine Single produzieren könnte, fragte Tennant Bobby ,O‘. Dieser sagte selbstverständlich nicht nein, sein Produktionsverhalten war zwanghaft, in einem Interview sagte er mal, ein Produzent, der Platten aufnehmen könne, dies aber nicht rund um die Uhr tue, handele „ungehorsam gegenüber Gottes Befehl“. Und so nahmen die Pet Shop Boys vor vier Jahrzehnten ihre Debütsingle „West End Girls“ und noch ein paar weitere Tracks mit diesem Hyper-Macho aus New York auf, der eine Menge schwulenfeindlicher Sprüche auf Lager hatte, aber auch die Drag-Queen Divine zum Star machte. Diese Dialektik, sagt Neil Tennant heute, sei sehr typisch für Pop. „Sie steht für die Widersprüche der Welt, in der wir leben.“ Und schon sind wir mitten im Gespräch mit Neil Tennant und Chris Lowe, den Pet Shop Boys, einem der erfolgreichsten Pop-Duos der Geschichte. Die beiden werden diesen Status mit ihrem neuen Album weiter ausbauen. Und zwar auch, weil ein Song in deutschen Schlagerkreisen die Runde machen wird. Dazu gleich mehr, zum Einstieg aber erst einmal ein paar Übungen in Linguistik.
ME-Premiere: Schaut hier den exklusiven Live-Videomitschnitt der Pet Shop Boys.