Tanz nicht bei Juden: Boykott und Pop – Linus Volkmanns Kolumne


Dieser Act muss gecancelt werden! Dieses Event darf nicht stattfinden! Volkmann schreibt über Boykotte im Pop – vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts.

Also dafür, dass bei den Nahost-Diskussionen immer wieder ein „Silencing“ (stummschalten) von Stimmen beklagt wird, ist es ganz schön laut überall – auf den Straßen, an den Unis, auf TikTok und überhaupt. Doch selten nähren all die schrillen Stimmen und Stimmungen die Hoffnung auf Frieden und Co-Existenz, auf Zweistaatlichkeit oder gar auf die Rückkehr der überlebenden Hamas-Geiseln. Auch die globale Musikwelt zeigt sich bei all dem in Aufruhr. Das bleibt nicht ohne Folgen. Zuletzt schlagen wieder vermehrt Boykottaufrufe große und kleine Wellen. Doch was heißt hier „zuletzt“? Das Thema ist nicht neu. Ich nehme euch mit auf eine kleinen Roundtrip dazu.

Und der geht so:

Krieg der Sterne

Schön, wenn sich andere für deine Meinung zu aktueller Musik interessieren. Als Popjournalist legitimiert ein solches Interesse streng genommen ja auch erst das eigene Tun.

Bei meiner Arbeit für den Musikexpress gibt es ein wiederkehrendes Ereignis: Alle vier Wochen fragt eine Excel-Tabelle (immerhin!) nach den Wertungen der Redaktionsmitglieder hinsichtlich zehn Alben des jeweiligen Monats. Bis zu sechs Sterne gilt es für jeden Act zu vergeben. Das Ergebnis findet sich im Heft in Tabellenform und vor der Rezensionsstrecke wieder. Titel dieser Rubrik: „Krieg der Sterne“. So weit, so gut.

Natürlich hat man nicht immer alle Künstler:innen aus diesem Plattenpool en detail vor Augen. Routinemäßig muss auch ich beim Hören die Google-Suche bemühen.

Anfang diesen Jahres, der Backlash des 7. Oktobers hat sich immer weiter in die internationale Musikszene und sicher auch in mich gefressen, ging ich dazu über, den jeweiligen Bandnamen auch noch plus „Palestine“ beziehungsweise „Israel“ zu googlen.

*** Kleine Pause für eure Imagination ***

Ja, ihr habt vollkommen recht, wenn ihr euch das jetzt ziemlich ungemütlich vorgestellt habt.

Von dieser Praxis (lies: Selbstbestrafung) sollte ich schnell wieder abkommen. Bei allem Willen zu Transparenz … Es ist einfach zu ernüchternd zu bemerken, wie fahrlässig sich Acts in der Nahost-„Debatte“ instrumentalisieren lassen – und mit wie wenig Ahnung größtenteils operiert wird. Lagerdenken und einfachste Gut-und-Böse-Narrative stellen die Kulisse für die eigene Inszenierung als „politischer“ Act dar.

Support für die jüdische Seite begegnet dabei selten und die dagegen dominante Unterstützung für die Palästinenser erschöpft sich – auch in der Popbranche – leider vor allem in einem Furor gegen Israel. Zivile Hilfe für Gaza? Spielt kaum eine Rolle. Dagegen ein großes Thema bei all dem: Der Boykott.

Meme aus dem Werk von @ruth__lol (find her on instagram)

We don’t need no education

Als ich Kamasi Washington in Verbindung mit „Israel“ google, stoße ich auf ein seinerzeit vielbeachtetes Posting, das der Musiker Roger Waters (Pink Floyd) jenem Washington öffentlich auf die Facebook-Pinnwand gepresst hatte:

„Dear Kamasi, ich habe Ihnen vor ein paar Wochen geschrieben, aus Respekt habe ich meine Nachricht damals nicht öffentlich gepostet. Ich habe mich privat an das Management gewandt und keine Antwort erhalten. Ich war davon ausgegangen, dass es eine Selbstverständlichkeit sei, dass Sie absagen würden. […] Da Lana Del Rey nun auch abgesagt hat, sind Sie die einzige bemerkenswerte Ausnahme: Bitte spielen Sie nicht auf dem Meteor Festival in Tel Aviv. Dies wäre ein Verrat an allen, die sich jemals für Bürger- oder Menschenrechte eingesetzt haben. Please cancel Meteor Festival in Tel Aviv.“

Aus „Respekt“ habe Roger Waters diesen Absage-Imperativ also nicht gleich öffentlich gepostet? Well, thank you very, Dark-Side-Of-The-Boomer! Da kann sich Kamasi Washington ja glücklich schätzen, dass ihn der alte weiße Mann erst nach einigen Wochen an den Social-Media-Pranger stellte – und den Schwarzen Musiker erst dann coram publico über Menschenrechte educated.

Kamasi nahm das Festival dennoch wahr. Aber dass 2018 Lana Del Rey auf öffentlichen Druck den Menschen in Israel ein Live-Konzert beim Meteor Festival vorenthielt, hat die Menschenrechtslage in Nahost bestimmt spürbar weitergebracht…

Diese Intervention von Waters steht aber bloß stellvertretend dafür, dass natürlich nicht nur Überzeugung und Reflexion Faktoren darstellen bei all der Boykotthuberei.

Kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel im letzten Herbst wurden beispielsweise Acts wie Idles oder Sleaford Mods outgecalled. Sie würden sich nicht gegen Israel aussprechen.

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„Feiglinge“ werden beide Bands öffentlich von dem Musiker Bob Vylan genannt. Der mediale Pranger bleibt nicht folgenlos.
Zumindest hatten die Idles auf ihrer Deutschlandtour in diesem Frühjahr nun „Viva Palästina!“-Rufe in ihrem Programm.

Der Zeitgeist spukt

Shantel, einer der populärsten Vertreter des Balkan-Pops, sagt in einem Radio-Podcast Folgendes zu der globalen Problematik:

„In England ist struktureller Antisemitismus sehr präsent. Es ist fast eine Art Zeitgeistphänomen. Die Linke in England, wie auch die Linke in Frankreich oder Spanien waren tendenziell immer Anti-Israel – einhergehend mit einem klassischen Antiamerikanismus oder auch Antikolonialismus. Da schwingen also mehrere Komponenten ineinander. Und klar, da gibt es auch einen Druck in der Szene, wer da nicht einschwenkt auf Boykottaufrufe oder an Initiativen teilnimmt, der ist einfach draußen.“

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Die Sache mit dem BDS

Boykottaufrufe? Initiativen? Auch wenn viele Ereignisse dieser Tage situationistischen Ursprungs sind, gibt es dennoch gerade in der Kultur organisierte Akteure. Der populärste ist sicher der BDS (Boycott, Divestment and Sanctions). In dieser transnationalen Kampagne laufen viele Aktionen, besonders Kulturboykotte zusammen, werden koordiniert. Persönlich habe die komplette Tragweite des BDS erstmals 2017 wahrgenommen. Das Popkultur Festival in Berlin stand zu jener Zeit unter Druck. Ein Boykott-Aufruf des BDS hatte sich verfangen, auf Social Media dröhnte die Kakophonie des mitgelieferten Shitstorms und gebuchte Acts begannen abzuspringen – allen voran die als Headliner vorgesehenen Young Fathers. Bis heute brüstet sich die Webseite des BDS mit ihrem „Coup“: „Mehr als 20 Künstler boykottierten seit 2017 das antipalästinensische, rassistische Festival“.

Harte Vorwürfe in nur einem Satz, nicht wahr? Verschwiegen wird dabei, dass der Aufhänger für die mehrfach erneuerten Boykottbestrebungen einzig Folgender war: Unter den vielen Unterstützern des international besetzten Popkultur Festivals von Berlin fand sich auch die Kulturabteilung der israelischen Botschaft. Sie hatte dem Event einen Reisekostenzuschuss von 500 Euro (!) für Artists zur Verfügung gestellt. That’s it.

Die Musikmanagerin Anne Haffmanns ließ sich zum Thema BDS bei den Kollegen der „Spex“ seinerzeit wie folgt zitieren: „Das sind populistische Methoden. Die Forderungen des BDS sind hanebüchen, rückwärtsgewandt und völlig fern von politischen Realitäten. Ich bin keine Freundin der aktuellen israelischen Regierung, aber man kann doch den Staat Israel deshalb nicht delegitimieren. Die Agenda des BDS besteht darin, Unfrieden zwischen Unbeteiligten – Künstlern, Agenten, Labels, Veranstaltern – zu stiften. Es gibt am Ende keine Gewinner, außer den BDS.“

Wobei Haffmanns auf Rückfrage heute betont: „Ich spreche keinem Künstler und keiner Künstlerin eine politische Überzeugung ab und diese muss frei und öffentlich äußerbar bleiben. Nur befürchte ich, dass gerade Musiker:innen, die nicht gut informiert sind, genau dadurch zu leichter Beute für den BDS werden. Wie Rehe im Scheinwerferlicht schauen sie dann auf ihre Peers und plappern nach, was diese von sich geben. Die Textbausteine dafür liefern ihnen BDS und Strike Germany.“

Abgesagt werden / Fame werden?

Aber auch umgekehrt ist Boykott ein Thema. Anfang des Jahres sagt der Berliner Techno-Club die Ritmo-Fatale-Labelnacht ab. Grund dafür ist der Act Arabian Panther im Line-Up. Über Social-Media-Accounts lässt er wissen, dass er für seine pro-palästinensische Haltung abgestraft werden solle. Er habe vorgehabt, sein Set mit einer Kufiya (vulgo: Pali-Schal) zu bestreiten. Eine Absage nur deshalb verwundert insofern, als dass das Berghain diese Form der Positionierung an vielen anderen Stellen zuließ und zulässt.

Doch aufgrund der Skandalisierung der Absage seitens Künstler und Label sieht sich der Club nun selbst mit einer Vielzahl von Boykott-Aufrufe durch Artists und Internetaktivisten überzogen. In seiner Stellungnahme wird das Berghain darauf deutlich. In mittlerweile gelöschten Instagram-Story-Highlights hatte Arabian Panther Inhalte, die die Taten der Hamas am 7. Oktober leugnen und als Fake-News bezeichneten, verbreitet. Er postete auch, die Vergewaltigungsvorwürfe gegen die Hamas seien „haltlose Vorwürfe, die aus anti-arabischem Rassismus und Islamophobie resultieren würden.“

Im Nachklapp dieser Absage ist es aber vor allem das Berghain, das bei der eigenen Klientel mit einem Makel behaftet bleibt. Dem Artist indes, der dieses Narrativ der Hamas als Freedom-Warrior bedient, wird die Märtyer-Rolle abgenommen und er konnte seine Social-Media-Reichweite durch den Skandal verdoppeln.

Meme aus dem Werk von @ruth__lol (find her on instagram)

Booze Cruise

Auch die letzten Tage lässt mich das Thema Boykott nicht los. Mich erreicht die Nachricht eines Bekannten, ob ich von der Sache mit Booze Cruise mitbekommen hätte? Habe ich nicht – und muss auch erstmal nachschlagen, was das überhaupt ist. Aha, Booze Cruise ist ein großes Punkfestival, das dieses Jahr vom 31. Mai bis 2. Juni in Hamburg in diversen Clubs (Molotow, Hafenklang u.a.) stattfinden wird. Doch auch hier knallt das Thema Nahost rein. Kurz darauf spreche ich mit Stefan Jonas-Stephany von Booze Cruise.

ME: Stefan, kannst du kurz schildern, was über eure Veranstaltung hereingebrochen ist?

STEFAN JONAS-STEPHANY: Eine britische Punkband hat „entdeckt“, dass ich mit meinem privaten Instagram-Profil dem „Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft“, einer NGO, folge, die sich gegen Antisemitismus einsetzt. Das war für sie Grund genug, mich auf Instagram als „confirmed Zionist and Genocide-Supporter“ darzustellen. Die Band hat Bands, die auf unserem Festival spielen sollten, angeschrieben und aufgefordert, sich vom Booze Cruise zu distanzieren. Ich habe auf Instagram erklärt, warum ich gegen Antisemitismus bin und dass ich Krieg per se nicht gutheiße. Seitdem habe ich viele Hass-Botschaften, Fotos von toten Kindern und andere fiese Mails bekommen (Gewaltphantasien und Morddrohungen inklusive), außerdem gibt es einen Reddit-Feed mit Fotos von mir und über 600 Beiträgen. Ich wurde als Nazi, Nazijude und Schwuchtel beschimpft – für mich überraschend, dass Homophobie jetzt auch wieder en vogue ist. Mittlerweile haben einige Bands abgesagt, die meisten Bands und Besucherinnen halten aber weiterhin zu uns.

Gab es eine Möglichkeit des Austausches mit den Accounts, die euer Projekt versucht haben zu skandalisieren?

Die Möglichkeit hätte es durchaus gegeben: Die Band hat vor zwei Jahren auf dem Booze Cruise in Bristol gespielt und wir waren in Kontakt für einen möglichen Auftritt auf dem Hamburger Booze Cruise. Allerdings waren die Anschuldigungen sofort öffentlich, daher gab es wohl kein Interesse an einem ernsthaften Austausch.

Wie erlebst du das Feedback – mit den anderen Acts und eurer Community?

Es gibt sehr starken Rückhalt vieler Bands, insbesondere derer aus Mitteleuropa. Viele britische und nordamerikanische Bands haben abgesagt, fast durch die Bank, weil sie sich in Diskussionen entweder als Antisemiten herausgestellt haben oder es ein Nachteil für die eigene Karriere sein könnte, momentan mit uns assoziiert zu werden. So viel zu den ganzen hohlen Unity- und Stick-Together-Like-Glue-Phrasen. Alles blabla.

Schwelt die Sache jetzt noch?

Wir stellen gerade ein neues Line-Up zusammen. Für uns steht fest, dass wir das Festival auf jeden Fall durchziehen. Ansonsten bin ich mit der Antisemitismus-Beauftragten des Hamburger Senats in Kontakt und mit OFEK, einer NGO, die sich gegen antisemitischen Hass im Netz einsetzt.

Glaubst du, dass solche aggressiven Boykott-Vibes dazu führen, dass Acts/Labels/Veranstalter Hemmungen bekommen, sich offen solidarisch zu Jüd*innen zu verhalten?

Labels und Veranstalter müssen derzeit ziemlich oft die Augen und Ohren zuhalten, um die politische Haltung von Bands zu ignorieren, die mit Hass gegenüber jüdischen Menschen verbunden ist. Wer offen solidarisch ist, darf das eigentlich nicht durchgehen lassen. Es darf uns nicht egal sein, welchen Anfeindungen jüdische Menschen täglich ausgesetzt sind. Das kann aber nicht im Gegenzug heißen, dass ich dadurch einen Krieg irgendeiner Regierung unterstützte. „Solidarisch nur mit Menschen, nie mit Staat und Polizei“ singt Pöbel MC in „Rollkragenschläger“. Keine Ahnung, seit wann das nicht mehr zum Selbstverständnis unserer Punkszene gehört.

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Toomaj Salehi

PS: Eine Sache noch, nicht nur weil ich sie unbedingt drinnen haben will in dieser Kolumne, sondern weil sie letztlich auch in diese Schlaglichtparade über Musik und politisches Engagement passt. Der iranische Rapper Toomaj Salehi wurde erneut inhaftiert und soll nun hingerichtet werden. Sein Vergehen ist „regimekritische Propaganda“. Toomaj hatte sich solidarisch gezeigt mit den Protesten rund um die Ermordung von Jina Amini durch die iranische Sittenpolizei. Deren Vergehen 2022: Ein nicht korrekt sitzendes Kopftuch. Toomaj textete in einem seiner letzten Stücke Folgendes:

„Someone’s crime was dancing with her hair in the wind / Someone’s crime was that he or she was brave and criticized.“

Nun droht auch ihm der Tod. Über die hohe Hinrichtungsrate im Land sprach ich übrigens unlängst mit der deutsch-iranischen Musikerin Mina Richman. Die einzige Hoffnung für Toomaj ist, dass die Öffentlichkeit hinschaut. Auf dass dieser politische Mord durch das Regime eine höhere Schwelle bekommt.

Hier jedenfalls sind jetzt all die Fingerzeige gerade auch aus der Musikwelt so nötig. Hier geht es ganz konkret um diese Vision von emanzipierter Kunst und von Menschlichkeit, die so viele Akteure dieser Tage teilen – und die sie dennoch aktuell so sehr spaltet. Save Toomaj!

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(Und immer gut hinschauen, wenn mal wieder Boykotte gepumpt werden …)

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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