Klingeltöne, Casting-Stars und sexy Skinheads: Das (Bravo-)Jahr 2003 im Test
Massive Klingeltöne, paarungsbereite Popstars und für dich schiebt Yvonne Catterfeld die Wolken weiter... Unser Kolumnist Linus Volkmann zeigt sich derart unzufrieden mit den jüngsten Ausformungen der Popkultur, dass er ein allgegenwärtiges Retro-Angebot angenommen hat: Er führt uns durch eine BRAVO-Ausgabe des Frühjahrs 2003. Das Comeback der Nuller Jahre.
EINLEITUNG
Gegenwartsüberdruss? Dafür habe ich jedes Verständnis. Und auch wenn ich versuche, diese Kolumnenbeiträge am liebsten tagesaktuell zu halten, seien hier immer auch mal Butterfahrten in die Vergangenheit gestattet. Die omnipräsente Revivalkultur macht ohnehin möglich, dass selbst solche Rückgriffe sehr gegenwärtig erscheinen. So führt dieser Text mutwillig 20 Jahre zurück. Denn wenn gerade soviel vom Wiederauftauchen der Nuller Jahre gesprochen wird, warum nicht mal originäre Quellen checken? Blättern wir durch eine BRAVO aus genau dieser Zeit.
(Apropos BRAVOs durchblättern… Letztes Jahr ist das an dieser Stelle auch mal mit einer topaktuellen Nummer geschehen.)
GEGENWART (Doch noch): Der Wendler
Aber ich möchte auch nicht völlig den Bezug aufs Hier und Jetzt schuldig bleiben. Daher zwei aktuelle Themen der hiesigen Popkultur, nach denen man die darauf folgende Zeitreise richtig herbeisehnen wird.
Einmal: Der Wendler. Über die letzten zweieinhalb Jahre ist der Schlager-Gockel mit Fiberglas-Frisur immer wieder auch in dieser Kolumne aufgetaucht. Denn ich verfolgte auf Telegram mit Faszination und Ekel, wie tief man seiner Karriere mit Hilfe von Doofheit und Narzissmus das Grab wohl noch schaufeln kann.
Daher war ich richtig geschockt, als es zuletzt hieß, jener Wendler kehre mit einer Reality-Show zum Baby bei RTL2 zurück ins TV – und damit auch zurück ins Geld. Kurz dachte ich, es ist jetzt meine Aufgabe, seine unzähligen unsolidarischen bis antisemitischen Telegram-Hetz-Posts nochmal öffentlich zu machen. Von den fiesesten Ausfällen habe ich schließlich Screenshots gemacht. Aber hat diese langjährige No-Go-Performance denn wirklich niemand in den Medien außer mir auf dem Schirm?
Doch … zum Glück. Erst distanzierte sich RTL, dann offenbar „die Geißens“ (okay) und jetzt findet die Show nicht statt. Wendler ist nicht amused darüber, hatte er doch eine half ass Entschuldigung (lies: Nopology) rausgegeben und einfach seinen sich konstant staatsfeindlich gebärdenden Telegram-Kanal auf „privat“ gestellt. So wenig hätte fast gereicht? Wow! Denn mittlerweile ist die ganze Debatte um seine Ausfälle zusammengeschnurrt auf die Wendler-Aussage, Deutschland sei ein KZ. Der unangenehme Sänger behauptet hierzu „spitzfindig“ im Nachgang, damit sei „Krisenzentrum“ gemeint gewesen. Alles klar.
Mich schafft es echt, dass er fast durchgekommen wäre. Wo ist die Cancel Culture, wenn man sie mal braucht? Beziehungsweise weckt mich, wenn das nächste Comeback dieser Person ansteht, ich habe noch genügend andere Screenshots von seinem Kanal, von denen sich sein Ruf – zurecht – nicht mehr erholen kann.
GEGENWART II: Trettmann
Der andere aktuelle Downer in Pop besitzt glücklicherweise keine gesellschaftspolitische Dimension, ist aber ebenfalls ein Stimmungskiller: Wie enttäuschend ist bitte die neue Platte von Trettmann? INSOMNIA wirkt wie das prototypische Album eines ratlosen Mega-Stars. Erratische Befindlichkeitstexte darüber, wie lost, aber reich man doch ist – und statt Esprit gibt‘s mehr rangekarrte Gäste denn je. Wobei, „rangekarrt“ wäre ja noch schön, vielmehr erscheinen diese Duette wie von Management zu Management weitergeleitete Soundfiles, die dann der Engineer zusammengebastelt hat. Chemie zwischen den Gästen und Trettmann? Null. Darüber hinaus besiegelt dieser schief gelaufene Pop-Blockbuster das Ende der Zusammenarbeit von dem Produzententeam KitschKrieg und Trettmann. Mit großartiger Musik wie das ewige Über-Stück „Grauer Beton“ (2017) hat man sich gemeinsam hochgekämpft – und sich nun auf dem Zenit verloren. Das letzte Woche erschienene Vermächtnis dieses Teams INSOMNIA halte ich künstlerisch für kolossal gescheitert – trotz (oder wegen) seiner ganzen Kulissenschieberei.
Zur Illustration meiner Enttäuschung sei der Track „Kalte Welt“ genannt. Hier erwartet uns der Trettmann mit einer larmoyanten Collage aus Break-Up-Floskeln, es folgt ein kurze Bridge und dann soll es (mal wieder) der Gast im Refrain richten.
Doch die Trademark-Reibeisen-Stimme von Henning May (AnnenMayKantereit) sieht sich in seltsam ranziges Autotune getunkt und knarrt, als wäre ein Fehler auf der Spur. Sorry, das Ergebnis klingt mehr nach Comedy denn Gänsehaut.
Ich wünsche Trettmann nach dieser festgefahrenen Megalomanie hier einen echten Neuanfang. Auf dass er wieder zu interessanten, berührenden Storys zurückfinden möge – und diese in einen zeitgemäßen authentischen Sound kleiden kann. Dass er das drauf hat, steht außer Frage, doch so ist „Insomnia“ für mich leider der Flop des Jahres.
Okay, sorry für den ganzen Bad Vibe bis jetzt. Nun geht es endlich ins Jahr 2003. Sollen uns doch Klingeltöne, Xtina und die Fotolovestory von der Gegenwart heilen! Hier ein paar Schlaglichter auf eine BRAVO aus dem Frühjahr 2003. Viel Spaß.
So sah die BRAVO vor 20 Jahren aus
BRAVO 2003 – Das Cover
Einigermaßen beruhigend, dass man quasi alle Acts kennt, oder? Okay, auch wenn ihr meinen Acker salzen und meinen Hof anstecken würdet, ich könnte mich nicht mehr an einen einzigen Song der abgebildeten Band Good Charlotte erinnern – ihre Existenz ist mir indes bekannt. Einzige Leerstelle auf der Umschlagsseite: John von B3. Bitte wer? Der Rest von J.Lo, Orlando, 50 Cent über Evanescence bis hin zum Simpsons-Poster dürfte den meisten Betrachter*innen vertraut vorkommen.
BRAVO 2003 – Alle Stars sollen sich paaren
Ziemlich auffällig bei meinem Rewatch, wie vielen Stars in diesem Heft heimliche Beziehungen unterstellt werden. Avril Lavigne und ihr Gitarrist, dann noch Lucy von den No Angels und irgendein Random-Musical-Dude oder wie wäre es mit Vanessa (No Angels) und Giovanni (Bro’Sis) oder zumindest Christina Aguilera und Justin Timberlake!
In meiner Funktion als Medienprofi und Kommissar möchte ich dazu die These in den Raum stellen, dass das viel mit der (Paparazzi-)Kultur jener Zeit zu haben dürfte. Die bunten Redaktionen beziehen Fotos über Agenturen und stricken drum herum ein paar heiße Affären im Konjunktiv – und siehe da, die Seite ist sowohl optisch wie inhaltlich grell und vor allem gefüllt. Ich will mich dabei aber als Konsument nicht von einer gewissen Mitschuld ausnehmen. Denn auch ich glaube stets gerne, dass es alle Stars heimlich miteinander treiben und dass alle romantischen Küsse im Film möglicherweise doch echt sind. Okay, vielleicht brauche ich Therapie – aber vielleicht stimmt es ja doch einfach! (Gut, in den hier angebotenen vier Fällen scheint alles erfunden gewesen zu sein, wie man durch das Wissen der Rückschau konstatieren kann. Bestimmt nur Zufall!)
BRAVO 2003 – Omg, Handys!
Das zentrale und alles beherrschende Thema einer Jugend 2003 lautet völlig unmissverständlich: Handy! Alles in dieser Zeitschrift schreit Handy, Handy, Handy: Handy-Tattoos! Handy-Verlosung! MMS-Foto der Woche! Die besten SMS-Sprüche! Und natürlich vor allem: Klingeltonwerbung! Ein Angebot, das schon allein von der graphischen Darreichung her Menschen ab einem gewissen Alter ausschließt, denn wer außer einem Heranwachsenden mit fester Augenmuskulatur soll denn diese 4-Punkt-Schrift all jener ganzseitigen aufgeregten Anzeigen zum Thema überhaupt lesen können?
Interessant dabei, dass 2003 noch nicht der grelle Konzern Jamba übernommen hat, um die Kids in Abofallen zu stoßen. In dieser Phase des Handy-Irrsinns wird noch über kostenpflichtige 0190er-Nummern abgezockt. Also haben die Klingeltöne oder Pixel-Logos, die man sich zieht, durchweg (vermeintlich) keinen Preis. Doch um sie zu beziehen, muss man sich in sauteuren Hotlines für knapp zwei Euro pro Minute hinhalten lassen. Graham Bell, der Erfinder des Telefons, soll sich endlich mal entschuldigen für all die Apokalypse, die sein Werk bis heute heraufbeschwört.
BRAVO 2003 – Doc Sommer
Der Doktor, er ist doch immer wieder Garant für stabile Überschriften, die man sich streng genommen noch heute als Wandtattoo machen sollte: „Sie hat wegen Skinheads mit mir Schluss gemacht“. Tja, das würde mich echt auch runterziehen. Feel you, Bro!
BRAVO 2003 – Massive Töne
Wer sich immer gefragt hat, warum 2004 der Aggro-Kram von SIDO und Bushido im deutschen Rap alles platt gemacht hat, sollte zu dem Status Quo des Sounds kurz vor dieser Zeitenwende schauen. Dort entdeckt man hier zum Beispiel die Massiven Tönen. Die bringen gerade „Cruisen“ heraus, ein Meilenstein beziehungsweise Mahnmal des völlig abgehängten 90er-Jahre-Reihenhaus-Raps von Bürgerkindern, der die 2000er nicht überleben wird. Denn mal ehrlich, so konnte es echt nicht bleiben.
Für mich allerdings ist das Stück auf ewig verbunden mit der erbaulichen Selbstbefragung, was wohl den schlimmsten Reim in einem deutschen HipHop-Song darstellt? Massive Töne sind mit diesen Zeilen für mich auf jeden Fall ganz vorne dabei:
„Wir sind die Coolsten, wenn wir cruisen / Wenn wir durch die City düsen / Wir sind die Coolsten, wenn die süßen /
Ladys uns mit Küsschen grüßen“
Süßen auf grüßen auf cruisen. Still lovin‘ this sprachlichen Totalausfall.
BRAVO 2003 – Gib Fotolovestory!
In der Geschichte „Kathis gefährliches Liebesspiel“ geht es angenehm hemdsärmelig zur Sache. Piff, paff, puff! Die Geschlechter sind dabei noch streng getrennt und gut unterscheidbar: So kämpfen die Boys im Freibad um die Frauen („Zähl schon mal deine Knochen!“). Während die Girls sich wiederum mit dem Zwischenmenschlichen beschäftigen („Immer wenn er ’ne Tüte drüberzieht, schlafft er ab.“). Den Bechdel-Test besteht diese Fotolovestory vielleicht nicht, aber sie legt dennoch ein buntes Zeugnis davon ab, wie unentbehrlich diese Rubrik für den Guilty-Pleasure-Lesegenuss einer BRAVO ist.
BRAVO 2003 – Charts aus der Hölle
Stimmt, Musik gibt’s ja auch noch – und die hat es in dieser ausgewählten Woche ganz schön in sich. Zu jener Zeit erschien das Jugendmagazin noch wöchentlich, heute ist man bei einer monatlichen Distribution angelangt. In diesem Frühjahr 2003 winkt von oben Yvonne Catterfeld. Das mag einen ästhetisch vielleicht nicht ganz so abholen, aber immer noch besser als die dahinter lauernden Spukgestalten mit Querdenker-Swag, Nena und Xavier. Auf Platz vier wiederum der mittlerweile tragisch zu Tode gekommene Daniel Küblböck und dahinter noch DJ Tomekk, der fünf Jahre später wegen eines Hitlergrußes unehrenhaft aus dem Dschungelcamp fliegen wird. Grundgütiger! 2003, das waren also deine Charts?
So schließt sich damit der Kreis dieser Kolumne und verweist wieder auf ihren Anfang: Denn los ging es ja mit dem Wendler. Der wäre in dieser Hitparade von vor 20 Jahren auch gut aufgehoben gewesen. Von wegen früher war alles besser. Früher war eher alles wie heute. Bloß noch mit 0190er-Nummern.
Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.