Mein erstes Festival „ohne Pandemie“: In einem Land vor unserer Zeit
Unser Autor war am Wochenende in Dänemark und besuchte sein erstes Festival ohne Corona-Schutzmaßnahmen. Ein Erfahrungsbericht vom SPOT Festival 2021.
Ein angenehm verranzter Club in Aarhus. Flache Decken. Viele Leute. Die Bühne: eine bessere Treppenstufe. Das Interieur: viel orange und 70er-Jahre-Utensilien. Ein perfekter Laden also für eine Rockshow, die ebenfalls klingt, als wäre die Band in den 70ern hängen geblieben. Ich sehe: so gut wie nichts. Vor mir stehen Menschen, die größer sind als ich. Es ist dicht gedrängt. Dunkel. Weiter hinten sehe ich eine Betonpfeiler, einen hin und her wiegenden Kopf und zumindest zwei Haarschopfe der vierköpfigen Band. Es klingt bescheuert, aber plötzlich denke ich: „Genau diesen Anblick haben ich vermisst!“
Als ich glücklich grinsend einen Schluck Bier nehme, kickt plötzlich das Pandemie-Wissen durch. Die Vorsicht, die man sich anderthalb Jahre antrainiert hatte, auf die man so stolz war – ich habe sie schlicht vergessen. Ich trage keine Maske, weil das hier in Dänemark seit dem 10. September niemand mehr macht. Ich frage mich: Hat der Laden eigentlich eine gute Lüftung? Riecht nicht so. Immerhin: Die Tür ist auf. Mir fällt auf, dass der Abstand hier eher 15 cm als 1,5 Meter beträgt. Mir kommen die Nachrichten der letzten Woche aus Münster in den Sinn: diese 2G-Party, die dann doch zum Superspreader Event wurde. Und kurz bevor ich wirklich ein wenig panisch werde, bete ich das Mantra runter, dass mir auch in Deutschland schon manchmal hilft, wenn mir eine Sache noch nicht ganz geheuer ist: Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote!
Impfquote! Impfquote! Impfquote!
Die liegt in Dänemark an diesem Wochenende bei 74,6 Prozent. Seit Ende August sind bereits 80 Prozent der Menschen ab zwölf Jahren vollständig geimpft – die Menschen, die sich hier auf dem SPOT Festival in Aarhus an mir reiben, sind also vermutlich alle geimpft. Ich bin es auch – Doppel-Impfe Astra. Vorsichtige Virologen gehen laut Robert-Koch-Institut davon aus, dass die Herdenimmunität bei Covid-19 bei einer Impfquote von 80 bis 85 Prozent erreicht ist. Ein Teil von mir sagt also: Junge, chill, du bist safe! Ein anderer – der, der mich infektionsfrei und nicht total vereinsamt durch die letzten anderthalb Jahre gebracht hat – mahnt: Vielleicht doch eine Location wählen, wo ein wenig mehr Platz ist?
Das ist nur einer von vielen Momenten dieser Art, die ich auf meinem ersten Festival ohne Pandemie-Beschränkungen am vergangenen Wochenende erlebte. So was ist in Europa gerade nur in England und in Dänemark möglich – und ganz ehrlich: den Briten hätte ich in dieser Hinsicht nicht getraut. Dafür war deren Verhalten zur EM zu fahrlässig. In Dänemark wurde für den 10. September entschieden, dass Covid-19 keine „für die Gesellschaft kritische Krankheit“ mehr sei. Was eben bedeutete: keine Beschränkungen mehr. Nicht mal mehr der Impfnachweis. Dänemark ist in Sachen Impfen in Europa ganz vorne mit dabei, deshalb traut man sich diesen Schritt – übrigens in Übereinstimmung mit den Virologen des Landes. Den meisten zumindest. Die Kommunikation dieses Schrittes hatte ebenfalls nicht diese behämmerte „Freedom Day“-Note der Briten, die damit auf das Vokabular der Querdenker zurückgriffen, sondern eher etwas Belohnendes. So nach dem Motto: Das habt ihr euch verdient, weil ihr alle so fix die Impfe wolltet. Ein Risiko bleibt natürlich trotzdem. Aber irgendwann muss man sich diesen Schritt doch trauen, oder?
Mit Maske in die Tankstelle ist plötzlich nicht mehr normal
So ganz geheuer ist mir die Sache anfangs jedoch auch nicht. Als meine Reisegruppe am Donnerstag die erste Tankstelle nach der Grenze (an der wir übrigens nicht kontrolliert wurden) entert und fast alle Masken tragen, werden wir von einigen mitleidig angestarrt, von anderen eher verwirrt. Aber klar – in Dänemark sind wir jetzt wieder in der Zeit angelangt, in der ein Mensch, der maskiert die Tankstelle betritt, als Risikofaktor angesehen wird. Als ich dann auf dem SPOT Festival ankomme, habe ich mich schon ein wenig an den Gedanken gewöhnt und betrete mutig, oder fahrlässig, einen großen Konferenzraum ohne Maske, um meine Akkreditierung abzuholen. Dabei werde ich freundlich angelächelt. Von einem wildfremden Menschen. Das ist mir im letzten Jahr so gut wie nie passiert.
Die zwei Festivaltage, an denen rund um das ehrwürdige Musikhuset Aarhus die spannendsten dänischen Newcomer auftreten, fühlen sich dann auf einmal fast wieder so an, wie ich es von „damals“ kenne. Gedränge und Schlange stehen bei den angesagten Bands und an der Theke. Aber eben auch: Ekstatische Menschen, die vor der Bühne stehen, tanzen und mitsingen. Oder im bestuhlten Saal des Musikhuset vor Euphorie von den Sitzen gerissen werden. Ich schaue mich permanent um, erfreue mich an diesen glücklichen Gesichtern, die später am Abend schon mal gehörig verrutschen. Denn auch das merkt man den Dänen an: Sie haben wieder Bock auf all das – aber ein wenig verlernt, in Maßen zu trinken. Falls sie es denn je konnten. Aber hey, es gibt schließlich ein Jahr aufzuholen.
„Noooooo, we are nurses!“
Dass es die Pandemie gibt, merkte ich – einmal im Festivalflow – nur noch selten. Einmal wundere ich mich, ob die zwei Frauen Mitte 40 in mintgrünen Umhängen gerade auch in der Bierschlange stehen – hey, die Dänen sind schließlich modisch, die tragen auch so was. Ich frage sie also, ob dem so sei. Da grinst die eine breit und sagt: „Noooooo, we are nurses!“ Und erklärt mir, dass sie im Nebenraum noch etwaige Spätzünder impfen können. Ich weiß nicht, ob mir das Vertrauen gibt oder nimmt. Hatte ich mir nicht eingeredet, hier wären alle geimpft?
Trotzdem: Das Festival fühlt sich gut an – und die meiste Zeit sicher. Das Einzige, was ich an mir bemerkte, ist, dass ich hier manchmal in zwei Stunden mehr Menschen treffen, als ich es im ganzen letzten Jahr getan habe. Obwohl ich mit einer tollen Gang umherstreife, erwische ich mich also immer wieder dabei, dass ich mich sozial ausgelaugt fühle, mir das Quatschreden, Fachsimpeln und Smalltalken nicht mehr so leichtfällt. Aber das geht den anderen Mitgereisten ähnlich – also redet man drüber, dass man sich hin und wieder awkward fühlt und den eigenen Pointen nicht mehr traut.
Bin ich positiv??????
Als wir am Samstag wieder Hamburg erreichen, dauert es eine Weile, bis ich meine Maske gefunden habe. Und mit der Maske kommt auch das Pandemie-Bewusstsein mit voller Wucht zurück. Habe ich mir was eingefangen? Ist das Kratzen im Hals eine Folge des Wartens im Nieselregen am Donnerstag oder das erste Corona-Hecheln? Sind das Kater-Kopfschmerzen? Oder doch andere? Immerhin fühlen sie sich an wie der Kater nach der ersten Astra-Impfe. Heißt das also, der Impfstoff arbeitet? Bin ich positiv?????? Dann rege ich mich wieder ab – greife zum bekannten Mantra zurück: Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote! Impfquote!
Inzwischen ist es Montag – und NATÜRLICH habe ich heute einen Test gemacht. Ergebnis: negativ. Ich bin erleichtert. Und frage mich: War diese Reise in dieses Nachbarland, in dem die Pandemie polemisch gesprochen vorbei ist, nun der erste spürbare Schritt in die Normalität? Oder wieder nur ein kurzer Moment der Freiheit, der bald schon wieder vorbei ist? Immerhin behalten sich die Dänen ja vor, die Schutzmaßnahmen wieder in Kraft zu setzen, falls die Situation kippt. Ich weiß es nicht. Aber irgendwann muss man es doch riskieren. Oder nicht?
P.S.: Den Nachbericht mit unseren Highlights des Wochenendes gibt es hier auf unserer Website.