Ben Hartmann von Milliarden: „Jetzt kommt die grobe Kost, wir schauen mal, wer sie essen möchte“
Im Interview mit Milliarden-Sänger Ben Hartmann sprechen wir über kurzfristige Entscheidungen, Selbstbestimmung in der Musikbranche, dem Wunsch des Ausbruchs aus dem eigenen Leben und dem Ekel vor der Unschuld.
Newcomer sind Milliarden nicht mehr: Gegründet hat sich die Band um Sänger Ben Hartmann und Pianist Johannes Aue im Jahr 2013. Nachdem sie beim Vorsprechen an der staatlichen Hochschule für Schauspiel in Bochum zusammenfanden, beschlossen sie, gemeinsam Musik zu machen. Den ersten großen Schritt in die Öffentlichkeit machten Milliarden im Jahr 2015 – als Teil des deutschen Spielfilms „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“. Ihre Single „Freiheit Is Ne Hure“ ergänzte den Filmabspann und beschallte deutsche Kinosäle. Beheimatet war der Track auf der 2014 erschienenen Debüt-EP KOKAIN & HIMBEEREIS. Im Rahmen ihres zweiten Albums BERLIN brachten Milliarden im Jahr 2018 sogar ihren eigenen kleinen zweiteiligen Musikfilm heraus.
Live setzen Milliarden auf ein erweitertes Ensemble: Schlagzeuger Findan Cote, Bassist Philipp Malong und Gitarrist Florian Eiles unterstützen die beiden kreativen Köpfe auf der Bühne.
2020 veröffentlichten sie „Himmelblick“, die erste Single ihres dritten Albums SCHULDIG, und gingen einen weiteren Schritt in Richtung Selbstbestimmung: Sie gründeten das bandeigene Plattenlabel „Zuckerplatte“. Wie es dazu kam und wieso Bewegung im neuen Album eine entscheidende Rolle spielt, erzählt Ben Hartmann nun im Interview. Er verrät auch, wieso SCHULDIG ein Stück weit mehr nach Milliarden klingt, spricht über Songs, die nicht radiotauglich sind und erklärt die Verbindung zwischen Dramatiker Heiner Müller und dem Titel-Track.
musikexpress.de: Euer drittes Album SCHULDIG erscheint am Freitag (05. Februar). Wie war die Arbeit in der Pandemie für Euch?
Ben Hartmann: Im Dezember 2019 haben wir uns das erste Mal im Proberaum getroffen, um mit der Band über die Demos, die Johannes und ich gemacht haben, zu reden. Das haben wir von Ende Dezember bis Anfang März gemacht und uns dann zwei Wochen in einem Studio eingemietet, um die Dinger da rein zu prügeln – live. Danach sind wir nochmal ins Studio, bis der erste Lockdown kam. Da war dann aber unser erster Produzent mit dem Lockdown verbrannt. Wir waren weder zufrieden noch fertig.
Und dann?
Schließlich habe ich einen Freund angerufen, mit dem ich mal Theatermusik gemacht habe. Der hat wie mit so einer Axt da einfach durchgehauen. Der hat das alles zerkloppt und da nochmal reingegriffen. Wir haben das ganze Album nochmal zerrissen und im Lockdown mit ihm weitergearbeitet. Aber auch viel alleine: Das war das erste Album, an dem ich noch im August alleine im Studio saß und meine Gesangssachen selektiert und neu aufgenommen habe. Ich war noch immer nicht zufrieden. Wir haben viel zu lange daran gearbeitet, aber dadurch ist es schließlich auch ganz toll geworden. Ich bin total stolz. Es ist viel mehr „Wir“.
Woran machst Du fest, dass es viel mehr nach „Euch“ klingt?
Wahrscheinlich an meiner Beziehung zum Album. In den Soundwelten fühle ich mich viel mehr zu Hause. Wir haben einfach viel selber gemacht. Ich finde diese Musik hat eine Dimension und eine Vermülltheit gleichzeitig. Ich komme rein in die Musik. Bei den Platten davor hatte ich immer das Gefühl, ich bleibe an der Oberfläche. Diese ist qualitativ sehr hochwertig, aber ich komme nicht durch. Beim Hören dieser Platte habe ich das Gefühl, ich sitze in der Musik. Dadurch, dass wir jetzt unabhängig sind, ein eigenes Label sind, komplett autonom sind, quatschen da einfach weniger Leute mit. Also setzen dir weniger Leute einen Floh ins Ohr. Und das tut mir definitiv gut!
Aber dachtest Du das bei den vorherigen Milliarden-Alben nicht auch?
Doch, doch. Ich weiß auch genau, wo die Qualitäten für mich da liegen – und wo die Schwächen. Ihnen fehlt aber diese Tiefe und Vermülltheit, die ich gut finde. Und sie sind zu divers. Da ist zu viel drauf. Zu viel Material, von Pop bis Punk. Die Soundwelt macht nicht so ein Mysterium auf, wie die (zeigt die Platte). Diese Platte ist dichter. Sie ist hier und da cleverer. Da haben ein paar Sachen noch länger gearbeitet im Kopf. Ich wurde nicht sofort reglementiert von unterschiedlichen Seiten. Es muss in den Leuten kochen! Manche Sachen haben richtig gekocht.
„Wir haben auch richtig viel ‚Kill Your Darlings‘ gespielt und haben richtig viel rausgeschmissen“
Hat sich Euer Vorgehen bezüglich Album-Aufnahmen gewandelt in den vergangenen Jahren?
Ja, auf jeden Fall. Was wir diesmal anders gemacht haben, ist, dass die Demos, die Johannes und ich gemacht haben, nicht direkt vertont wurden. Wir haben sie mit in den Proberaum genommen und die Band hingestellt und gesagt „so, das ist die Grundlage“ da saß dann auch der Produzent auf der Couch. In dem Haus sind so viele Musiker und da schwirrten immer mal Leute rum, die dann auch nur so im Vorbeigehen meinten: „Ey! 5 bpm schneller“. Und wir waren so „Ja, lass‘ mal probieren“ (grinst). Bis auf zwei Lieder ist das alles im Proberaum geprobt. Vorher haben wir Track-By-Track aufgenommen. Und so haben wir einfach die ganze Grundrhythmusgruppe, teilweise alles, zusammen aufgenommen.
Klingt, als hätte das richtig gut funktioniert.
Sagen wir mal so, Mitte/Ende März hatte ich ganz große Fragezeichen auf meinem Kopf. Wir haben auch richtig viel ‚Kill Your Darlings‘ gespielt und etliche Songs rausgeschmissen, bei denen wir anfänglich sogar dachten, es werden Singles. Wir waren auch kurz davor, die erste Single rauszubringen und dann habe ich nochmal die Reißleine gezogen und den Song gibt es auf dem Album gar nicht. Sowas haben wir diesmal voll hardcore gemacht. Wir haben sicher fünf Album-Tracks mitunter einfach weggeschmissen (lacht). Um ein klareres Bild zu zeichnen.
Neben der Album-Aufnahme im vergangenen Jahr habt Ihr außerdem euer eigenes Label „Zuckerplatte“ gegründet. Wie kam es dazu?
Da gibt es ein Missverständnis gegenüber Major-Labels. Ich habe früher nur Punkbands gehabt und du weißt, was man sich da über Majors erzählt. Und ich habe trotzdem mit Johannes bei einem Major einen Deal unterschrieben. Wir mussten das auch einfach mal erleben, um zu verstehen, was daran Sinn macht und warum es auch für uns selber keinen Sinn macht. Die haben uns nicht gesagt, was wir tun sollen. Wir konnten machen, was wir wollen, die Leute haben aber ihre Meinung dazu gesagt. Früher mit meinen Punkbands sind wir einfach in einen Keller gegangen und haben es aufgenommen – so hört es sich auch an. Mit Milliarden ist es einfach eine absolute Reise, so etwas zu finden. Der Grund, warum wir da rausgesprungen sind, ist, dass es über zwei Alben immer einen Rest von Unzufriedenheit gab. Kompromisse, die uns nicht dahin geführt haben, dass ich jetzt beispielsweise hier sitzen und sagen kann „ich bin super stolz“. Ich zeige sie drei, viermal (zeigt die Platte). Das habe ich mit den anderen Platten nicht gemacht. Obwohl da absolute Babys von mir drauf sind. Dann haben wir einfach gesagt: „Wisst ihr was, dann lass‘ uns da einfach nicht mehr arbeiten. Wir machen das jetzt anders, klagen uns raus, bezahlen richtig Geld, um rauszukommen.“ Und haben uns sozusagen freigekauft, um „Zuckerplatte“ zu machen (lacht). Der Weg dahin ist absolut das Ziel: zu begreifen, dass eigene Entscheidungen getroffen werden müssen. Diese Entscheidungen zu spüren und zu wissen, was dranhängt.
Kommen wir zum Album: Du hast ja vorhin schon über die erste Single gesprochen, die rauskommen sollte. Jetzt ist es „Himmelblick“ geworden, einer der schwersten Songs auf der Platte. Wieso dieser?
Das war auch eine ziemlich kurzfristige Entscheidung. „Himmelblick“ galt noch gar nicht als Single-Kandidat. Es stand was anderes im Raum und dann haben wieder so viele Leute angefangen zu labern, dass wieder diese typischen Gespräche aufkamen. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade in Italien. Dadurch, dass wir jetzt aber „Head Of Everything“ sind, kommt alles über diesen Tisch. Und da war es so, dass ich gesagt habe: „Ne, wisst ihr was, lass‘ mal ganz anders machen. Wir nehmen das, was am wenigsten bekömmlich ist und am schwersten funktioniert.“ Um erstmal wieder einen Aufschlag zu haben, wenn es nach dieser ganzen Zeit kein Radiosong ist, sondern ernstgenommen wird. Lasst doch jetzt mal bitte keine Entscheidung nach Gefälligkeit treffen. Und ich dachte in dem Moment „Leute, Stop. Jetzt kommt die grobe Kost, wir schauen mal, wer sie essen möchte.“ „Himmelblick“ ist eine Gegenreaktion gegen den ganzen Scheiß.
Das vorherige Album war sehr ehrlich und biografisch. SCHULDIG scheint noch intimer geworden zu sein.
Ich werde dieses Jahr 35 und das höre ich – dass es darin Bewegung gibt. Die Songs auf der BERLIN-Platte „Ultraschall“ und „Ich Vermiss Dich“ sind so krasse Pfeiler meines Lebens. Auch inhaltlich. Deshalb ist es für mich nicht intimer geworden, sondern erwachsener. In der Ruhe der Betrachtung auf sich selbst. Ich finde, das ist eine sehr sehnsüchtige Platte. In jedem Song geht es um eine unglaubliche Sehnsucht nach einem anderen Leben. Nach einem anderen Muster. Nach dem Aufbrechen des Musters vor allem.
„Aber ich will umbauen. Ich will eigene Wände aufbauen und einreißen“
Du hast es schon angesprochen: Auf dem neuen Album besingst Du oft die Idee eines Ausbruchs. Wie erklärst Du Dir, dass sich diese nahezu durch die komplette Platte zieht?
Dadurch, dass ich Sachen lese oder auch im Gespräch mit älteren Leuten, stelle ich fest, dass der Zeitpunkt, an dem ich mich befinde, ein bestimmtes Alter ist, auf das ich eine gewisse Weile darauf zugearbeitet habe. Und es mir gereicht hat, mich selber in meiner Projektion zu sehen. Jetzt reicht es mir eben nicht mehr. Mir reicht es nicht, was ich mir vorgestellt habe zu sein und dann auch geworden bin. In so vielen Belangen reicht mir das nicht mehr. Und das meine ich gar nicht im Sinne von ‚Aaah, das ist schlimm‘. Nein, das ist ganz okay – aber ich will umbauen. Ich will eigene Wände aufbauen und einreißen. Ich glaube, dass man in dieser Anfang-30er-Phase eben auf sich schaut und merkt „Ne‘, das ist es noch nicht. Du kannst jetzt nicht so weitermachen.“
Der Wunsch aus dem eigenen Selbst auszubrechen und eine andere Rolle zu übernehmen, war bereits auf Eurem Debütalbum BETRÜGER beispielsweise bei dem Titel-Track und dem Song „Freiheit Is Ne Hure“ sehr präsent. Dieser Gedanke ist schon älter, oder?
Ja, da ist ein Mensch mit einem Kopf und einem Herz. Du hast natürlich recht. „Betrüger“ – ich schreib mich um, schreib mir die Welt, wie ich sie will. „Freiheit Is Ne Hure“ ist ein ohnmächtiger Song, der das spürt. Vor allem aber in diesem Kernsatz, dass man das Produkt von etwas ist, was die Ohnmacht in einen reininjiziert hat. Jetzt ist es „Fälschungen sind echt“. Da ist das Pathos weg, da wird nur noch gesagt, „ich habe schon verstanden“. Das, was wir uns als Leben gebaut haben ist genauso echt wie, was wir uns als Leben vorstellen können. Die Wahrheit, die wir uns erzählen ist nur eine dieser Wahrheiten, die wir uns erzählen können.
„Es muss sich bewegen. Wie sich auch dieser Mann auf diesem stillstehenden Bild bewegt. Es muss sich verändern, sonst sind wir tot.“
Wie ist der Album-Titel entstanden?
Der Titel basiert auf dem ersten Song. Als ich den geschrieben habe, gab es noch lange kein Corona. Und über das vergangene Jahr hat sich dieses Wort ‚schuldig‘ in den Medien so krass aufgeladen. Bei mir hat es sich aber schon viel früher aufgeladen. Ich habe ein Interview mit Heiner Müller gesehen, in welchem er gefragt wird, warum er immer wieder in die DDR, nach Lichtenberg in die Plattenbauwohnung zurückkommt. Und er hat gesagt, wenn er durch bundesdeutsche Innenstädte geht, dann ekelt ihn die Unschuld der Menschen unendlich an. In Ostberlin ekeln ihn die Leute auch an, aber die fühlen sich wenigstens nicht unschuldig. Die wissen ganz genau, dass sie Teil ihres Apparates sind. Sie sind immer sozusagen Teil ihrer Geschichte. Und das hat mich erschüttert. Diesen Ekel – Ich weiß genau, wovon er redet. Ich hätte gern ein Leben mit einem Anspruch auf meine eigene anarchische Geschichte. Das hat auch ganz lange in mir gearbeitet – bis mir dann irgendwann auf C-Dur einfiel: „Schuldig sein / Als ein Stein / Schuldig sein / Als ein Beil“. Das ist für mich eine ernstgemeinte Initialisierung. Genauso wie dieses Thema mit den vier LLLLs „Los Leise Langsam Laut“. Es muss sich bewegen. Wie sich auch dieser Mann auf diesem stillstehenden Bild bewegt (zeigt die Platte). Es muss sich verändern, sonst sind wir tot.
Ihr habt das erste Mal eine limitierte Box zum Album zusammengestellt, neben der Platte sind ein paar Extras drin. So auch eine DIN-A4-Seite mit insgesamt neun Abziehtattoos im Stil des Artworks. Wie kam es dazu?
Irgendeiner kam auf diese Idee. Da war die Frage „Wir machen jetzt mal eine Box, weil das total Sinn macht, aber was macht man da rein?“ Und ich habe ehrlich gesagt noch nie so eine Box in der Hand gehabt. Eigentlich wollte ich ein Buch schreiben und es dort reinlegen. Aber das habe ich nicht geschafft, weil ich mit dem Album beschäftigt war (lacht). Ich dachte: „Naja ich will gar nicht so viel Scheiße da reinlegen, geiler wäre doch eher ein kleines Manifest.“ Aber da habe ich dann natürlich wieder gemerkt: Gut Ding will Weile haben. Naja, irgendwann kommst du dann von deinen Träumen runter auf die Abziehtattoos (grinst) und auf Feuerzeuge und auf die Seife und so.
Und wer hat diese, einschließlich dem Cover illustriert?
Unsere anderen Bilderwelten waren immer fotografisch bestimmt: mit uns. Uns in irgendeiner Art und Weise in irgendein Licht zu rücken – es ist sowieso nicht so einfach, uns in ein Licht zu rücken, finde ich. Es wirkt alles so klischiert. Diese Bilder hat jemand gemalt, dessen Name geheim ist. Aber diese Welt… Wir haben ihm die Musik gegeben, uns unterhalten, ich habe ihm die Texte geschickt und er hat einfach drauf los gemalt. Als ich das Ding gesehen habe (zeigt die Platte), hat es mir die Schuhe ausgezogen. Da habe ich gesagt: „Das ist das Cover.“ Es war zwar schwarz-weiß, aber ich dachte „Wow.“ Es ist für mich zeitlos. Es ist in Bewegung, obwohl es steht. Das ist es für mich! Und ja, jemand der sowas Tolles malt, muss auch alles andere malen.
Milliardens neues Album SCHULDIG erscheint am 5. Februar 2021.