Kritik

„Never Rarely Sometimes Always“: Der „tägliche Thriller“ einer Frau


Das Drama von Eliza Hittman zeigt eine 17-Jährige und ihre Cousine, die für eine Abtreibung in der 18. Schwangerschaftswoche einen weiten Weg auf sich nehmen und den Horror, den sie dabei durchmachen müssen. Für die nüchterne Darstellung eines von Grund auf sehr emotionalen Themas gab es auf der Berlinale den Großen Preis der Jury.

Einmal tief durchatmen und los geht’s: Kaum lernen wir Autumn (Sidney Flanigan) kennen, da wird es auch schon unangenehm. Die 17-Jährige performt nämlich bei einer Schulveranstaltung mit ihrer Klampfe einen Emo-Song, der nur schwer zu ertragen ist. Alle lachen sie aus. Lediglich ihre Mutter (Sharon van Etten) zeigt Mitgefühl. Als Betrachter*in kann man sich noch nicht so ganz für eine Reaktion entscheiden. Doch kaum ist dieser Start im Schulalltag geschafft, geht der Film auch in eine völlig neue Richtung und die Gefühlslage ist klarer. Denn Autumn muss nach einem Test feststellen: Sie ist so was von schwanger. Während ihre Kleinstadtärztin direkt Folgetermine für sie ausmacht, überlegt die Schülerin noch, ob es möglich wäre, dass der Schwangerschaftstest nur beim ersten Mal positiv und ein paar Wochen später negativ sein könnte.

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Autumn versucht zunächst auf ihre ganz eigene Weise das loszuwerden, was sich in ihrem Inneren entwickelt. Aber als ihre Cousine Skylar (Talia Ryder) davon Wind bekommt, hilft sie ihr dabei, einen anderen Weg zu gehen. Die zwei machen sich von ihrer ländlichen Gegend in Pennsylvania mit dem Bus nach New York auf, damit Autumn dort abtreiben lassen kann. Die Fahrt ist beschwerlich, die Ankunft in der Klinik bringt die Hiobsbotschaft mit sich, dass sie längst in der 18. Schwangerschaftswoche ist. Der Eingriff muss in eine andere Praxis verlegt werden. Die Dauer: zwei Tage. Wer sich jetzt fragt, ob so ein Abort stationär oder ambulant und wie überhaupt von statten geht, der sollte in den 101 Minuten Laufzeit nicht den Kinosaal verlassen. Denn US-Regisseurin Eliza Hittman (die 2018 auch zwei Folgen von „Tote Mädchen lügen nicht“ inszenierte) hat sich vorgenommen, alle Fragen zu beantworten und so sehr ins Detail zu gehen, dass es weh tut.

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Schweißhände, Fassungslosigkeit und Wut

Focus Features

Die Momente im Krankenzimmer sorgen in der Akribie und Langsamkeit eines Dokumentarfilms für Schweißausbrüche, die Szenen außerhalb der Klinik für eine beständige Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut. Erst möchte man sich für die zwei Frauen freuen, dass sie ihrem Alltag zwischen Schule und Job als Kassiererinnen im Supermarkt entkommen konnten. Denn da hören sie entweder von ihrem Chef oder von den männlichen Kunden eine Anzüglichkeit nach der nächsten. Als sie sich in der Großstadt befinden, ändert sich jedoch nicht viel. Dort werden sie von Männern angestarrt, einer öffnet schon mal die Hose vor ihnen, als er das Gefühl hat, sonst unbeobachtet zu sein. Und dann ist da noch der Typ (Théodore Pellerin), der Skylar seit ihrer Busreise nicht mehr in Ruhe lässt. Erst leiert er ihr die Handynummer aus den Rippen, danach textet er ihr unaufhörlich – bis sie einknickt. Eigentlich sei er ja ganz okay gewesen. Aber auch der vermeintlich okaye Mann entpuppt sich als jemand, der vor allem auf Körperliches aus ist.

Den beiden widerfahren eine Menge Demütigungen. Man könnte schnell sagen, Eliza Hittman hat sich hier ein echtes Drama ausgedacht. Aber bei der Pressekonferenz auf der Berlinale sagte sie über ihren Wettbewerbsbeitrag, er spiegele den „täglichen Thriller“ einer jeden Frau wider. So aus der Luft gegriffen ist das Thema also nicht. Ganz konkret inspirierte Hittman die in Irland lebende Inderin Savita Halappanavar, der nach einer Fehlgeburt ein Abort verweigert wurde und sie letztlich durch eine Blutvergiftung verstarb. Und weiter: In Irland würden Frauen bis nach London fahren, um dort abtreiben zu können. Wie wohl so ein Fall in Amerika aussehen würde? Diese Frage trieb die Filmemacherin an, eigene Recherchen vorzunehmen. Und so ist die Busreise von Autumn und Skylar nichts völlig Erdachtes, sondern die Horror-Tour, die Hittman selbst schon ausgetestet hat.

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Fazit: Die wackeligen Bilder, das natürliche Licht sowie die analoge Machart tun ihr Übriges, um einen Blick ohne Distanz zu forcieren. Hier will man eigentlich wegschauen, kann man aber nicht. Aus Schock. Aus Rage. Aus Neugier. „Never Rarely Sometimes Always“ ist ein dermaßen von Schnörkeln befreites Werk, ohne einen Dialog zu viel, dass es einen direkt trifft. Selbst wer nicht alles auffängt, was zwischen den Zeilen passiert, wird getriggert sein. Und aufpassen: Erst in der zweiten Hälfte des Dramas wird einem bewusst, wofür der Anfang auf der Schulbühne noch erklärend und wichtig war.

„Never Rarely Sometimes Always“ hat bei der 70. Berlinale den Großen Preis der Jury, also den Silbernen Bären, erhalten erscheint regulär am 01. Oktober 2020 in den Kinos.

Focus Features