„Tote Mädchen lügen nicht“ bei Netflix: Ein Ende, das erschreckend aktuell ist
In der zweiten Staffel der Netflix-Serie wird lange auf eine große Katastrophe hingearbeitet, doch dann überrascht die Serie mit einer Kehrtwende. Durch den Angriff auf eine Schule in Houston am Freitag, dem 18. Mai ist die Serie erschreckend aktuell. Vorsicht, der Text enthält Spoiler.
In unserer längeren Besprechung der zweiten Staffel der Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, die 2017 dank ihrer ernsten Aufarbeitung eines tragischen Selbstmords zum weltweiten Phänomen wurde, erwähnten wir bereits, dass sich die Serie zu lang mit der erneuten Erzählung der Geschichte um die verstorbene Hauptfigur Hannah aufhält. Und dass es auf eine gewisse Art unangemessen erscheint, die Zuschauer inmitten der Verarbeitung dieser Tragödie mit neuem Unheil anzuteasern. Die Entwicklung des von Devin Druid gespielten Schulfotografen (und in der ersten Staffel Stalker) Tyler wird als besonders bedrohlich inszeniert und mündet fast in einem Amoklauf. Der Dramaturgie der Serie tut dieser Side-Plot keinen Gefallen, den Machern ist eine finale Botschaft aber wichtiger.
Hannah Baker ist tot, und zwar schon seit der allerersten Folge der Serie 2017. In Rückblenden erfahren wir über die letzten Monate in ihrem Leben, durch die Erzählungen verändert sich auch das Leben anderer Charaktere. Während viele Schüler trauern und einen kriminellen Mitschüler hinter Gitter bringen möchten, wird Tyler erst an den Pranger gestellt und später zu wandelndem Zorn. Bereits in den letzten Minuten von Staffel 1 war er mit einer Waffe zu sehen, ein Amoklauf oder Mord hätte sich im Kontext der Serie zwar nicht unlogisch, aber etwas am Kernthema vorbei angefühlt. Weshalb der Cliffhanger mit dem bewaffneten Tylor zu Beginn der neuen Staffel auch nicht in einem Blutbad kumulierte.
Dennoch wurde das Thema nicht fallengelassen, sondern nur hinten angestellt. Tyler wurde aggressiver, fand einen neuen Freund, mit dem er den aus seiner Sicht Schuldigen und moralisch Verdorbenen an der Schule derbe „Streiche“ spielte. Auch übte er Schießen in einem Waldstück und vertraute sich in seinem Frust seinem Freund an: Wir müssen mehr tun, wir sollten radikaler werden. In der Konsequenz wies sein Freund die Schulleitung auf Tylers Gedankenwelt hin, er wurde therapiert und kehrte in der allerletzten Episode als ruhiger, vermeintlich ausgeglichener und nicht mehr aggressiver Schüler zurück, während die restlichen Figuren noch einmal ausgiebig Abschied von der toten Hannah nahmen.
Gefühlt hätte die Serie an dieser Stelle ein perfektes Ende finden können. Doch dann, inmitten der Abschiedszeremonien für Hannah, wird eine Szene eingestreut, in der einige Schüler Tyler auf dem Schulklo angreifen, ihn Beschimpfen und schlussendlich einen Besenstiel mit Gewalt in den Anus einführen. Tyler ist verletzt, emotional zerstört und sinnt auf Rache. Er geht in den Keller und rüstet sich aus, auf dem Schulball will er einen Amoklauf starten.Immer wieder Amokläufe an US-Schulen
Tyler wird von Clay, einem Schulfreund aufgehalten, als er gerade mit einer Maschinenpistole Modell AR 15 auf das Gebäude zugeht. Die Waffe, die Tyler benutzt, lässt vermuten, worauf die Macher mit dem Plot um den wütenden, gedemütigten Jungen anspielen wollen. Eine AR 15 benutzte im Februar beispielsweise der Amokläufer des Parkland-Massakers in Florida. Nikolas Cruz stürmte seine Schule, tötete 14 Schüler sowie drei Erwachsene. In der Folge gingen Zehntausende Schüler und Erwachsene in den USA auf die Straßen, protestierten in Richtung Donald Trump für das Verbot von Waffen dieser Art und eine Einschränkung der Macht der NRA (National Rifle Association).
Die aktuelle Schulgeneration musste zu viele Amokläufe dieser Art anschauen, seit Columbine 1999 häuften sich die Blutbäder, die in Schulen angerichtet wurden. Es waren nach Parkland vor allem Schüler, die Social-Media-Kanäle und Menschenmassen bündelten, um gegen die Waffenlobby anzukämpfen und Schulen zukünftig sicherer zu machen. Der Erfolg der Aktionen und Demonstrationen? Minimal. Die NRA verlor einige Sponsorendeals, an den Gesetzen wurde allerdings nicht geschraubt – und der nächste Amoklauf folgte tatsächlich am 18. Mai, dem Erscheinungstag der „Tote Mädchen“-Szene mit Tyler auf Netflix. In Houston, Texas ist ein Mann bewaffnet in eine Schule gestürmt und hat das Feuer eröffnet.
In „Tote Mädchen lügen nicht“ drückt Tyler den Abzug nicht. Er kann davon überzeugt werden, von seinem Vorhaben abzusehen. „Wenn du das hier machst, dann bist du am Ende auch tot – und das wollen wir nicht“, sagt sein Mitschüler, erreicht damit den vermeintlich nicht mehr Erreichbaren. Tyler lässt die Waffe sinken, wird vom Fast-Tatort gebracht, bevor die Polizei eintrifft. In der Serie kann der Amokläufer aufgehalten werden, weil die Hauptfigur Clay aus all den Fehlern gelernt hat, die das Kollektiv Schülerschaft in der Vergangenheit begangen hat. Die Drehbuchautoren wollen vielen Schülern an US-Schulen, die in den letzten Monaten ob ihrer Verunsicherung im Klassenraum auf die Straße gegangen sind, Hoffnung machen – reagieren mit einer positiven Vision auf den Albtraum von Parkland und die Ohnmacht gegenüber der Waffenlobby. Eltern, Lehrer und Polizei konnten den Zorn des Jungen in der Serie nicht einfangen. Das konnten nur seine Mitschüler, auf Augenhöhe. Eine schöne Fiktion.