Rebellion in GlitzerKutte
Wer gut gekleidet ist, entscheidet Jan Joswig. Heute vor dem Stilgericht: Andy Bell
Was wurde nur aus den schwulen Mädchenträumen der 80er? Sie haben ihrer Paradiesvogel-Krone noch einen Zacken aufgesetzt. Boy George von Culture Club, Marc Almond von Soft Cell, Andy Bell von Erasure brachten in den damaligen Mainstream so viel bunte Abwechslung wie Jack Sparrow in den Hollywood-Abenteuerfilm der 2000er. Andy Bell in strassbesetzter Radlerhose? Das war eben Mode. Dass diese Musiker eine Linie schwuler Operetten-Disco von Liberace bis Leigh Bowery fortsetzten, war den träumenden Mädchen nicht klar.
Die schrägen Vögel des Synthiepop wurden im Gegenteil von den Freunden der Mädchen als Popperschweine geächtet. Diese Fehleinschätzung kann nur an den Scheuklappen einer rockistischen Naturburschen-Perspektive gelegen haben, die allem, was über T-Shirt und Jeans hinausging, als eitle, materialistische Kostümierung misstraute.
Solche potenziellen Missverständnisse und Ambivalenzen im Look zerstört das Alter. Niemand sieht heute gegenkultureller aus als die ehemaligen MTV-Helden. Wie sehr sexuelle Neigungen mit den Jahren den Habitus bestimmen, führte schon Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ am schrulligen Baron de Charlus vor. Auch Andy Bells Habitus strahlt es offensiv hinaus: „I’m a senior gay sex citizen and I’m proud.“ Mit blondiertem Stiernacken, einer Jeanskutte, die wie eine Jahrmarktsbude glitzert, und einem Kummerbund aus einem „God save the Queen„-Shirt verteidigt er den Habitus eines Außenseiters, der nicht bereit ist, sich von gesellschaftlichen Konventionen reinreden zu lassen. Lehrer oder Rechtsanwalt könnte er in seinem burlesken Punk-Hool-Stripper-Aufzug nicht werden. Entweder Popstar oder Prekariat. Zum Glück für den Ex-Fleischmarktarbeiter ist er Popstar geworden. Und zum Glück für die Emanzipation des Poppublikums nutzt er seinen Starstatus dazu, um die engen Rollengrenzen des gestandenen Mannes zu ignorieren. Sein Gesamtoutfit bezieht so entschieden Position wie eine Gesichtstätowierung.
Die aktuelle Heteroantwort auf den schwulen Paradiesvogel ist der kauzige Nerd. Das Quintett von Hot Chip etwa kultiviert den verschrobenen Ivy-League-Eigenbrötler. Mal sehen, ob Hot Chips Alexis Taylor in zwanzig Jahren als männliches Mauerblümchen genauso unnachgiebig alle Ambivalenzen aus seinem Look getilgt haben wird wie Andy Bell als alternder Operetten-Gigolo.
Jan Joswig ist studierter Kunstgeschichtler, wuchs in einer chemischen Reinigung auf, fuhr mit Bowie-Hosen Skateboard und arbeitet als freier Journalist für Mode, Musik und Alltag. Was LL Cool J in den Achtzigern die Kangolmütze bedeutete, ist ihm der Anglerhut.