Folk
Folk – der Begriff hat mittlerweile eine Bedeutung so weit und vage wie der Ozean. Spätestens seit die weltoffenen Folkies des Greenwich Village die ersten Acid-Tabs schluckten, ist Folk nicht mehr (nur) die Musik von Acker, Amboss und Arbeitskampf.
50 Platten ausgewählt und besprochen von: Hanspeter Künzler
In der Vorzeit gestaltete sich die Unterscheidung noch einfach. Es gab die komponierte Musik und es gab die Volksmusik. Komponierte Musik war Sache des Bürgertums. Dem gewöhnlichen Volk war ihr Genuss vor der Erfindung von Tonträgern meist verwehrt. Dafür gab es die Volksmusik – Lieder und Tanzstücke, die von Musikant zu Musikant, von Kneipe zu Kneipe, von Baumwollpflücker zu Baumwollpflücker weitergereicht wurden, bis sich niemand mehr an ihre Ursprünge erinnerte, denn jeder neue Interpret hatte bei Text oder Melodie seine eigenen kleinen Details angebracht, um wie eine Zeitung neue Ereignisse darzustellen. Leadbelly und Woody Guthrie waren die ersten, die Songs aus diesem Allgemeingut festhielten, neu interpretierten und ihre Namen darunter setzten.
Im Zeitalter der Tontechnologie war es wichtig geworden, dass eine Stimme und ein Lied auch ein Gesicht hatten. Guthrie schrieb (oder besser: lieh sich) hunderte von Songs und stellte diese ganz in den Dienst der Opfer der Wirtschaftskrise sowie der Arbeiter- und Völkerrechtsbewegung. Damit war der Protestsong geboren. Daraus wiederum erwuchs eine lange Reihe nordamerikanischer Barden – von Bob Dylan über Joni Mitchell bis hin zu Devendra Banhart – die ihre Gedankenwelt singend nach außen kehrten. Andererseits gab es Sammler wie Cecil Sharp in England und etwas später Alan Lomax in den USA, die in Stadt und Land nach traditonellem Liedgut fahndeten.
Die von ihnen katalogisierten Lieder wurden von einer jungen, primär britischen Musikergeneration aufgegriffen, wohl um in einer Zeit voller Umwälzungen ein Gefühl der Kontinuität und Zugehörigkeit zu schaffen, aber auch, weil viele Texte verblüffend relevant waren für die Denkweise von Ewan MacColl und anderen singenden britischen Sozialisten. Der puristische MacColl war entsetzt, als Bohemiens wie die Incredible String Band und Fairport Convention daherkamen, die zwar mit der Arbeiterbewegung nichts am Hut hatten, für die die alten Melodien jedoch Sprungbrett zur Ergründung eines neuen Lebensgefühls waren.
Was in den Ohren von MacColl ein Frevel war, entpuppte sich als einer der fruchtbarsten Seitensprünge in der Geschichte der britischen Popmusik, dessen Einfluss in den letzten Jahren lauter denn je nachklingt.
John Fahey
Blind Joe Death (1959)
Der Gitarrenpionier Fahey war ein Außenseiter, der die Blumenwelt der Hippie-Folkies ebenso verachtete wie die pfadpfinderhafte Kumpelhaftigkeit des Kingston Trios, das sich in den 50er-Jahren in den USA größter Popularität erfreute. Der 1939 in Washington, D.C. geborene Fahey studierte Religionsgeschichte und Philosophie. Sein Umgang mit der Gitarre zeigt daher einen starken Hang zum Grübeln und Sinnieren. Anfangs beeinflusst von Bill Monroe und Blind Willie Johnson sowie von den Komponisten Béla Bartók und Charles Ives, erforschte er später auch noch indische und südamerikanische Musik. Daraus strickte er ein zerebrales Gewebe unkategorisierbarer und doch uramerikanischer Gitarrenergüsse, deren Einfluss kaum zu überschätzen ist. Der legendäre US-DJ Barry Hansen nannte Fahey „den ersten Underground-Künstler“.
Shirley Collins & Davy Graham
Folk Roots, New Routes (1964)
Shirley Collins driftete in den mittleren 50er-Jahren in die Folkclubs von London und lernte über Ewan MacColl den amerikanischen Traditionsforscher Alan Lomax kennen. 1959 bereisten die beiden fünf Monate lang den Süden der USA – auf der Suche nach traditionellem Liedgut. Davey Graham war der Sohn einer guyanesischen Mutter und eines schottischen Vaters. Sein Gitarrenstil – der später Jimmy Page beeinflusste – war schon früh ganz eigen: folkige Melodien klangen bei ihm jazzig, ein längerer Aufenthalt in Tanger hatte melodische und rhythmische Spuren hinterlassen. Die Kombination seiner eigenwilligen Gitarre mit der urenglischen Stimme von Shirley Collins war ein Geniestreich. Mit dem Album zeigten Collins und Graham Möglichkeiten auf, wie sie der musikalisch so konservativ gesinnten Szene um MacColl gar nicht in den Kram passte. Das traditionelle „Nottamun Town“ passte plötzlich bestens an die Seite von Grahams Gitarrenarrangement von Thelonious Monks „Blue Monk“.
The Fugs
The Fugs First Album (1965)
Die New Yorker Beatniktruppe um Ed Sanders, Tuli Kupferberg und Ken Weaver kombinierte den schlitzohrigen Charme konsequenter Amateurhaftigkeit mit dadaistisch angehauchten Polit-Texten. Die musikalische Inspiration kam von Woody Guthrie, Dylan, Blues, Bluegrass und den alten Jug Bands. Geiger Pete Stampfel und Gitarrist Steve Weber alias Holy Modal Rounders übten sich daneben in einer schrägen Neuinterpretation des Blues, welche dem Geist der Anti-Folk-Bewegung um zwei Dekaden zuvorkam.
Jackson C. Frank
Jackson C. Frank (1965)
Der Troubadour aus Buffalo wandte sein Interesse noch als Teenager dem Liedgut aus dem Sezessionskrieg zu. Seine Stimme als Songschreiber fand er indes erst während eines längeren Aufenthaltes in London, wo er im legendären Folkclub „Les Cousins“ Stammgast war und Pioniere wie Bert Jansch, Sandy Denny und Nick Drake nachhaltig beeinflusste. Sein Leben lang wurde er von psychischen Problemen gebeutelt. Dieses – sein einziges – Album ist ein Meisterwerk kraftvoll düsteren Songschreibertums.
Sweeney’s Men
Sweeney’s Men (1968)
Vor Sweeney’s Men war irische Traditionsmusik die Sache knorriger Bauern in Provinzkneipen. Der Soundtrack Irlands wurde von den „Showbands“ und ihren seichten Schlager-Covers geprägt. Terry Woods, Johnny Moynihan und Andy Irvine waren die ersten Langhaarigen, die altes Liedgut neu ergründeten. Woods landete bei Steeleye Span und den Pogues, Irvine formierte die großartigen Planxty, Moynihan übte an der Seite von Anne Briggs (auch diese Sängerin gilt es neu zu entdecken) den Absturz.
Pentangle
Basket Of Light (1969)
John Renbourn und Bert Jansch waren als Duo unterwegs und genossen bereits einen großen Ruf als Gitarrenpioniere. Jacqui McShee war eine Folkclubsängerin im Stil „glockenrein“, Drummer Terry Cox und Bassist Danny Thompson hatten der Jazzband Nucleus angehört. Zusammen strickten sie eine fesselnde und jazzige Version von Folkrock, die mit Basket of Light ihren Höhepunkt erreichte. Thompson ist noch heute außer Stande, einen langweiligen Basspart zu spielen.
Karen Dalton
It’s So Hard To Tell Who’s Going To Love You The Best (1969)
In seinen Memoiren „Chronicles“ schreibt Bob Dylan, in seiner ersten Zeit in New York sei Karen Dalton bald seine Lieblingssängerin geworden. Sie habe eine Stimme gehabt wie Billie Holiday und Gitarre gespielt wie Jimmy Reed. Dalton hatte indessen mit Suchtproblemen zu kämpfen. Dies ist das erste von lediglich zwei (kaum beachteten) Alben, die zu Daltons Lebzeiten erschienen. Dylans Beschreibung insbesondere der Stimme trifft ganz ins melancholische Schwarze.
Nitty Gritty Dirt Band
Uncle Charlie & His Dog Teddy (1970)
Mit dem epochalen Will The Circle Be Unbroken machten die Kalifornier im Jahr 1972 Bluegrass wieder salon- und sogar hitparadenfähig. Zwei Jahre vorher hatte sich die Band, die als beatnikhafte Jug Band begonnen hatte, das Experiment gegönnt, ein paar alte Aufnahmen des tatsächlich existierenden „Uncle Charlie“ (1886-1964) in ein Album zu verweben, in welchem sie mit Mandolinen, Banjos und süffigen Refrains die Tiefen country-folkiger US-Traditionen ergründeten und es schafften, selbst neue Lieder wie Urgesteine klingen zu lassen. Doch das resultierende Stück Musikarchäologie klingt weder altmodisch noch gekünstelt – mit ihrer Version von „Mr. Bojangles“ landeten die „Dirts“ sogar einen Pophit.
John & Beverley Martyn
Stormbringer! (1970)
John Martyn steht im Pantheon schottischer Folk-Pioniere. Er fing als schrummelnder Akkustikgitarren-Poet an, experimentierte mit Effektpedalen, Reggae und Rock und verstarb 2009 als einer der großen britischen Songschreiber. Solid Air ist sein bekanntestes Album, aber in seinem Katalog verstecken sich viele Perlen, zum Beispiel Sunday’s Child, Grace and Danger, sowie das in den USA eingespielte Stormbringer!.
Vashti Bunyan
Just Another Diamond Day (1970)
Vashti Bunyan aus London wollte Lieder im Stil von Françoise Hardy singen. Als es mit der Karriere nicht klappen wollte, machte sie sich mit Pferd und Wagen auf, den Hippiebarden Donovan auf seiner einsamen Insel im Norden aufzusuchen. Als sie ein Jahr später dort ankam, war seine Kommune auseinandergefallen, aber Bunyan hatte die Songs für dieses Album geschrieben. Der romantische back-to-the-roots-Groove der Texte, die minimale Instrumentierung (u.a. mit Robin Williamson) und der kindsfrauliche Gesang führten zu minimalen Plattenverkäufen. Vor zehn Jahren wurde das Album auf CD neu aufgelegt – und Bunyan im großen Stil entdeckt. Sie ist heute wieder auf Bühnen und im Studio tätig, das Album gilt als Meisterwerk kunstvoller Hippieromantik.
Steeleye Span
Hark! The Village Wait (1970)
Steeleye Span haben nie den Ruf genossen, der Fairport Convention, ihren Weggenossen als Pioniere des britischen Folk-Rock, am Fersen haftete. Möglich, dass dies an der glockenklaren Stimme von Maddy Prior lag, die neben dem mysteriösen Timbre von Sandy Denny etwas einspurig wirkte. Das Debütalbum voller britischer Traditionals ist ein Meilenstein sutbiler Melancholie. Leider blieb es das einzige Album mit der Urbesetzung von Maddy Prior, Gay und Terry Woods, Ashley Hutchings und Tim Hart.
Trees
On The Shore (1970)
Trotz grandiosen Covers kaufte niemand dieses zweite Trees-Album. Dabei kreuzte die Band traditionelles Liedgut äußerst sensibel mit rockigem Instrumentarium. Auch die Stimme von Celia Humphris war glockenklar, und in Kombination mit einer feinfühligen Auswahl von Liedern – allen voran Cyril Tawneys „Sally Free And Easy“ – ging von ihr eine hypnotische Wirkung aus. Danger Mouse sampelte dieses Album für das erste Gnarls-Barkley-Album und löste damit eine kleine Trees-Renaissance aus.
Tim Buckley
Lorca (1970)
Sohn Jeff schaffte es zum Popstar, dabei war der mit einer Nebelhornstimme ausgestattete Tim der versiertere Sänger und vor allem der mutigere Innovator. In seinen Anfängen kredenzte er barock arrangierte, pathosschwangere Hippiesongs, schweifte in Richtung rauchigen Jazz ab, um schließlich beim rüden Funk von Greetings from L.A. zu landen. Das mit Free Jazz flirtende Lorca ist sein kühnstes Werk.
Third Ear Band
Air, Earth, Fire, Water (1970)
Die Instrumentierung des Musikerkollektivs aus Canterbury umfasste Oboe, Tablas, Cello und Geigen – aber weder Drums, Bass und (jedenfalls nicht immer) Gesang. Mit ihrem Zusammenspiel von repetitiven Rhythmen, abstrakten und manchmal dissonanten Streicherimprovisationen und verqueren Klangtupfern schlug es eine Brücke zwischen Gegenwartsklassik und Folk aus einer imaginären Parallelwelt. Dabei wirkte die Musik, in der es von Ideen nur so sprühte, nie vergeistigt oder gar unzugänglich. John Peel war ein großer Fan, dennoch gehört die Band zu den Vergessenen der Epoche – sie passte schlicht in keine Schublade. 1971 komponierte die Band den Soundtrack zu Roman Polanskis „Macbeth“ – die Stimmung passte perfekt.
Bröselmaschine
Bröselmaschine (1971)
„Bröselmaschine zog zusammen und einen durch Musik beeinflusst durch Volksmusik und zusammenleben“, heißt es etwas verwirrend und doch irgendwie verständlich auf dem Cover dieses deutschen Kommunenfolkalbums. Die Damenstimme gemahnt an Spyrogyra, derweil Gitarrist Peter Bursch sich und seinen Mitspielern allerhand ausführliche Instrumentalpassagen erlaubt, die vermuten lassen, dass neben Incredible String Band und Amon Düül auch alte Lautenmusik zum Hörprogramm gehörte.
Witthüser & Westrupp
Trips und Träume (1971)
Die Essener Bernd Witthüser und Walter Westrupp waren ein archetypisches Hippie-Duo, das es irgendwie schaffte, seine Vorliebe für Spliffs mit Texten von Heinrich Heine und Novalis zu vereinen. Die entspannte Musik mit den duellierenden Akustikgitarren, Blockflöten, Bongos und allerhand anderen Instrumentaltupfern lag näher beim deutschen Chanson und bei Dr. Strangely Strange als etwa bei Dylan und hört sich aus heutiger Warte erstaunlich frisch und originell an.
Roy Harper
Stormcock (1971)
Der aus Manchester stammende Harper zitierte die Amerikaner Leadbelly und Woody Guthrie als seine größten Einflüsse. Von letzterem erbte er vor allem die furiose Polit-Passion. Auf musikalischer Ebene gleicht er keinem von beiden. Seine Spezialität sind labyrinthhafte Kompositionen, die sich viel Zeit lassen beim Erzählen ihrer Storys. Oft werden sie von furiosen Gitarrenriffs getrieben, dann und wann aber auch von subtilen Streichern begleitet.
Mr. Fox
The Gipsy (1971)
Niemand sonst klang so wie die Band um das damalige Ehepaar Bob und Carole Pegg. Neben den Stimmen standen oft Tin Whistles, elektrische Geige, Dulcimer und Pauken im Vordergrund, wobei als Inspiration das traditionelle Liedgut und die traditionelle Tanzmusik von Yorkshire diente. Das Duo nahm drei Alben auf, allen spürt man an, dass sie rasch und ohne kosmetische Aufbesserung aufgenommen wurden.
Shirley Collins & The Albion Country Band
No Roses (1971)
Nach einigen minimalistischen Alben mit ihrer Schwester Dolly lernte die Ausnahmesängerin Shirley Collins Ex-Fairports- und Steeleye-Span-Bassist Ashley Hutchings kennen und formierte mit ihm die elegante Albion Country Band. Das Panorama der Mitwirkenden reicht von Dave Mattacks über Richard Thompson und John Kirkpatrick bis hin zum freien Jazz-Saxophonisten Lol Coxhill.
Richard Thompson
Henry The Human Fly (1972)
Fairport-Convention-Mitgründer Richard Thompson war noch blutjung, stand aber schon im Ruf, einer der kühnsten Gitarristen weit und breit zu sein. Sein erstes Soloalbum steckte in einem bizarren Cover und klang nicht annähernd so, wie Fairport-Fans es erwartet hatten. Posaunen und Trompeten gehören ebenso zum Instrumentaritum wie Harfe, Dulcimer und Fiedel. Damit strickt Thompson einen dichten Klangteppich, der faszinierend mit Drone und Monotonität spielt.
Lea Nicholson & Stan Ellison
God Bless The Unemployed (1972)
Ein unglaublich charmantes, ein unglaublich obskures Album, von dem eine ganz seltene innere Ruhe ausgeht. Eingespielt wurde god bless the unemployed von einem Gitarristen (Stan Ellison) und einem Concertina-Spieler (Lea Nicholson), unter gelegentlicher Mithilfe von Bass, Schlagzeug und Piano. Sind das hier etwa die Großväter von Badly Drawn Boy? Ein Textbeispiel, das die Vermutung zwar nicht bestätigen, aber sie immerhin legitimieren kann: „If nuns ever hitch-hiked/ I’d give them a lift/ If I had a car/ If the clergy were Christian/ Though few of them are/ I wouldn’t be still standing here.“
Lal & Mike Waterson
Bright Phoebus (1972)
Der Waterson-Clan aus Hull in der englischen Grafschaft Yorkshire gehört zu den Urgesteinen der britischen Folkszene, zumal mit dem Gitarristen Martin Carthy einer der ganz Großen einheiratete. Die Geschwister Lal und Mike Waterson versammelten für die Aufnahmen zu dieser Perle die gesamte Brit-Folk-Mafia (Wiederholungstäter Thompson, Carthy, Steeleye Span, you name it) und vereinten auf bright phoebus subtile, dem Folk verbundene Songschreibekunst mit ungekünsteltem, hoch emotionalem Gesang.
Robin Williamson
Myrrh (1972)
Die Incredible String Band: Ein lustiger Hippiehaufen, dessen Einfluss kaum zu überschätzen ist und dessen erste vier Alben in Stein gemeißelte Klassiker sind, fiedelte seinem Ende entgegen, als Robin Williamson zu diesem ersten Soloflug ansetzte. Von Cello und Klavier über Oboe und Geige bis hin zur Gitarre und der indischen Flöte spielte er praktisch alles selbst und schuf so eine eigenartige urtümlich und wettergebeutelt wirkende Scottish-Highland-Soulmusik.
Spyrogyra
Bells Boots & Shambles (1973)
Spyrogyra waren eine Folkrocktruppe aus dem südenglischen Musikmekka Canterbury. Ihre ersten beiden Alben enthielten gehobene, Lieder voller Fernweh, die der Band vor allem einen guten Live-Ruf eintrugen. Für dieses dritte Album war man zum Duo geschrumpft. Unterstützt von namhaften Sessionmusikern u.a. an Cello, Geige und Trompete schufen Barbara Gaskin und Martin Cockerham ein subtiles und stimmungsvolles Kammer-Folk-Meisterwerk.
Malicorne
Malicorne 1 (1974)
Gitarrist Gabriel Yacoub gehörte dem euphorisch folkrockenden Ensemble des Bretonen Alan Stivell an, ehe er mit seiner Ehefrau Marie Malicorne gründete, eine Band, die das französische Traditionsgut nach dem Muster der britischen Folkrockbands neu interpretieren wollte. Die Absenz von Drums und die Verwendung altertümlicher Instrumente wie Krumhorn, Epinette des Vosges und Harmonium sorgten aber dafür, dass Malicorne ihren ureigenen Sound kreierten.
June Tabor
Abyssinians (1983)
Unter den Stimmen, die sich nach dem Vorbild der großen Sängerin Sandy Denny (Fairport Convention) richteten, ist June Tabor bestimmt die facettenreichste. Ihr Repertoire besteht teils aus traditionellen Songs, deren Bedeutung immer auch auf die heutige Zeit übertragen werden kann, und aus Liedern zeitgenössischer Songschreiber. Durch die spärliche Instrumentierung (Tabor arbeitet oft mit dem Klavier, was im britischen Folk eher selten ist) kommt die Schönheit der Stimme wunderbar zur Geltung.
Horseflies
Human Fly (1987)
Die Band um das songschreibende Ehepaar Jeff Claus/Judy Hyman aus dem Staat New York kombi-niert(e) Geige, Banjo, Bluegrass und Old-Time-Musik mit einer Vorliebe für die repetitiven Klangmuster im Stil von Gegenwartskomponisten wie Philip Glass und Michael Nyman.
Twinkle Brothers
Higher Heights (1992)
Der „World Music“-Boom der 80er- und 90er-Jahre führte zu einer Vielzahl musikalischer Kultursprünge. „World Fusion“ ist heute quasi ein Genre für sich. Von allen frühen, Sample-freien Versuchen in dieser Richtung ist der Ausflug des jamaikanischen Reggae-Sängers Norman Grant zu den Bergbauern von Polen der faszinierendste. Die polnischen Fiedeln und Gesänge scheinen in der Tat aus der gleichen Geistesquelle zu strömen wie Grants Rasta-Inbrunst und sein Sinn für feine, eingängige Melodik.
Pooka
Pooka (1993)
Mitten in den Techno-Boom hinein, zu einer Zeit also, da kein trendbewusster britischer Hahn nach Folk krähte, erschien dieses verträumte Debüt-album des jungen Songschreiber-Duos Sharon Lewis/Natasha Lea Jones. Das traumwandlerische Zusammenspiel ihrer Stimmen hätte ihren Sound eh schon ungewöhnlich gemacht. Die rankenden Melodien (halb Dylan, halb Incredible String Band) und die ungewöhnliche String-, Piano- und auch Concertina-Arrangements machten ihn erst recht bemerkenswert.
Sixteen Horsepower
Low Estate (1997)
Die Band des Songschreibers David Eugene Edwards kombinierte Banjo, Fiedeln, Bandoneon und den Geist der Appalachen mit der Inbrunst von Wanderpredigern und Nick Cave. Geistesverwandt mit den Violent Femmes, die eine Dekade vorher ein ähnliches Stilgebräu serviert hatten, pirschen sich die Lieder von 16 Horsepower in ein psychisches Unterholz vor, in welchem man sich nicht unbedingt ohne Begleitung verirren möchte.
Gillian Welch
Hell Among The Yearlings (1998)
Welch hatte in ihrer Jugend Dylan und Co. kennen gelernt, spielte während ihrer Uni-Zeit in Kalifornien aber Bass in einer Gruftie- und Drums in einer Psychobilly-Surfband. Da spielte ihr ein Mitstudent ein Album vom stilprägenden Bluegrass-Duo The Stanley Brothers vor, und das stellte ihre Musikwelt auf den Kopf. Zusammen mit der wohl etwas pflegeleichteren Alison Krauss hat Welch den Genre Bluegrass nicht zuletzt mit hervorragenden Text-en für das 21. Jahrhunder erschlossen
Richard Youngs
Airs Of The Ear (2003)
Der in Glasgow lebende Youngs ist der archetypische moderne Global-Folkie – wobei diese Bezeichnung dem breiten Panorama seiner Musik in keiner Weise gerecht wird. Aber der Begriff „Laptop-Folk“ könnte zumindest einem Teil seiner unterdessen weit über einhundert Alben auf den gerade mal 44-jährigen Leib geschrieben worden sein. Zu seinen vielen musikalischen Partnern gehört der Drummer Alex Neilson (u.a.: Bonnie „Prince“ Billy). Trotz seines immensen Katalogs absolvierte Youngs bislang nur eine Tournee: 2002 im Vorprogramm von Low. Auf die „Magenkrämpfe und Kopfschmerzen, die eine Tour so mit sich bringen“, könne er „gern verzichten“, sagt er.
M. Ward
Transfiguration Of Vincent (2003)
In letzter Zeit hat es der ungeheuer fleißige Matthew Stephen Ward aus Portland, Oregon, dank auffälliger Projekte wie Monsters Of Folk (mit Conor Oberst, Jim James und Mike Mogis) und She & Him (mit Zooey Deschanel) zu einer geradezu popstarhaften Omnipräsenz gebracht. In früheren Tagen stellte er seine herausragende Spielechnik in den Dienst kontemplativer Gitarrenlieder, in denen er sich – von John Fahey bis Gabi Pahinui und Brian Wilson – die verschiedensten amerikanischen Folkstile vornahm.
Trembling Bells
Carbeth (2009)
Es ist fast unmöglich, dem merkwürdigen Stil dieser Schotten habhaft zu werden, ohne dass dabei Trees (die Stimme von Lavinia Blackwall!) oder Mr. Fox (die unorthodoxe Instrumentierung und der legere Umgang mit der Spieldiszpiplin) erwähnt werden. Kopf der zitternden Glocken ist der omnipräsente Drummer Alex Neilson. Dieser hat sich jahrelang auch mit freier Jazz-Improvisation beschäftigt und man spürt den Freigeist jener Musik auch aus seiner Neuinterpretation traditioneller Folkmelodik heraus. Dann und wann droht das Geschehen in einem wüsten Tohuwabohu von Sound zu versinken – aber als Retterin in der Not erscheint immer wieder die Stimme von Blackwall. Zur Besetzung gehören auch Posaune, Lap Steel und Orgel.
Katell Keineg
High July (2004)
Geboren in der Bretagne, aufgewachsen in Wales, mal wohnhaft in Irland, mal in New York, mal in Cardiff, erfreut sich Keinig einer breiten, urbanen Palette von Einflüssen. Dazu ist sie mit einer so kraftvollen wie ausdrucksstarken Stimme und einem gehobenen Sinn für Humor ausgerüstet. Plattenfirmenprobleme und eine Vorliebe für ungewohnte Melodik und komplexe Lyrics dürften schuld daran sein, dass die Ausnahmekünstlerin weiterhin in der Geheimtipp-Schublade haust.
Josephine Foster And The Supposed
All The Leaves Are Gone (2004)
An der songschreibenden Sängerin aus Colorado scheiden sich die Geister – ein Zeichen dafür, dass sie sich keinerlei orthodoxer Folk-Meinung gebeugt hat. Auf diesem psychedelisch angehauchten Album suggeriert eine fast schon zögerlich durch die eigenartigen Melodien tappende Stimme das Werk einer naiven Hinterwäldlerin. Es ist eine gekonnte Inszenierung, ähnlich, wie ein Nick Cave manchmal einen neuen Charakter annimmt: Foster arbeitete als Musiklehrerin und wäre fast Opernsängerin geworden.
Alela Diane
The Pirate’s Gospel (2004)
Alela Diane Menig stammt aus demselben Nest wie Joanna Newsom: Nevada City, Kalifornien – Newsom gehört zu ihren frühen Fans und Förderinnen. Diane nahm dieses sparsam instrumentierte, kunstvoll simple Album zusammen mit ihrem Papa auf. Vier Jahre dauerte es, bis sich ihr Ruf als moderne Vashti Bunyan herumsprach. Aber Diane ist Weltbürgerin. Das bewies sie mit Gesängen auf dem Coverversionen-Projekt Headless Heroes.
Animal Collective
Prospect Hummer EP (2005)
Bevor sie sich als Produzenten von hochglanzschimmerndem Laptop-Pop hervortaten, waren die vier Mitglieder des Animal Collective aus Baltimore, Maryland, typische, moderne Musikfans: Sie verbrachten ihre Freizeit damit, ihre Horizonte mittels Downloads und CD-Rereleases zu erweitern und stießen so auch auf die britische Folkrockszene der frühen Siebziger – und Vashti Bunyan. Es gelang ihnen, Bunyan aus ihrem Versteck in Schottland zu locken und mit ihr diese fein gesponnene EP aufzunehmen.
Iarla Ó Lionáird
Invisible Fields (2005)
Die irische Tradition besteht nicht nur aus lustigen Fiedeln und pathetischen Refrains. Es gibt zum Beispiel noch „Sean-nos“, ein vorab im Westen und Süden der Republik gepflegter Gesangstil, in welchem irisch-gälische Texte a cappella und mit vielen Schnörkeln und Schlenkern verziert vorgetragen werden. O Lionaird, der in der restlichen Welt für seine Kollaborationen mit Peter Gabriel und dem Afro Celt Sound System bekannt ist, hat den Stil praktisch eigenhändig ins neue Jahrtausend gerettet.
Fire On Fire
The Orchard (2006)
Zu fünft bewohnten Fire On Fire ein großes, blaues Haus in Portland, Maine, als sie mit Ziehharmonikas, Banjos, Mandolinen, Bongos und vor allem fünf inbrünstigen Gesangsstimmen dieses zutiefst eigenartige Album einspielten. Eine entfernte Verwandtschaft mit Arcade Fire ist herauszuhören, dazu eine innige Bekanntschaft mit den Werken der Incredible String Band.
Tim Van Eyken
Stiffs Lovers Holymen Thieves (2006)
Der belgischstämmige Melodeonspieler und Gitarrist gehört zur jungen Garde an Folkies, die sich von der britischen Tradition inspirieren lässt. Er ist locker mit der nächsten Generation der Watersons verbunden: Bis 2007 gehörte er deren Gruppe Waterson:Carthy an, Lol Watersons Sohn Olly Knight ist Mitglied seiner Band. Auch er ist immer um die zeitgenössische Relevanz alter Lieder bemüht.
The Memory Band
Apron Strings (2006)
Die Memory Band aus London ist ein Laptop-Projekt, das dank einer Reihe von Gästen wie Al Doyle (Hot Chip), Adem und Lisa Knapp mit organischen Geigen und Gitarren angereichert wurde. Songschreiber Stephen Cracknell bedient sich da der Methode „Trad(itional). Arr(anged) by …“, dort komponiert er ruhige Lieder im Geist der frühen Fairports – und dann kommen Covers vom Carly-Simon-Hit „Why“ und von „The Poacher“ des unvergleichlichen Ronnie Lane.
Espers
II (2006)
Greg Weeks arbeitete bei einem Plattenversand in Philadelphia und entdeckte so die Freuden des alten britischen Folk – unterdessen auch Psych-Folk oder Acid-Folk genannt. An der Seite von Meg Baird – einer Sängerin nach dem Vorbild von Trees‘ Celia Humphris – setzte er seine neue Liebe in die Praxis um. Zuerst klang das noch ziemlich „künstlich“, mit diesem Album hat man die eigene Stimme gefunden, zu der auch mal heftiges Gitarrenfeedback gehören kann.
Uncle Earl
Waterloo, Tennessee (2007)
Robert Plant ist beileibe nicht der erste Ex-Zeppelin, der Bluegrass und Old-Time-Music (der melangehafte Eintopf akustischer Einwanderermusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) für sich entdeckte. Vor ihm war Bassist John Paul Jones am Ball. Er produzierte dieses gloriose Album der von Kristin Andreassen und KC Groves geführten „Supergroup“, deren wechselnde Besetzung aus lauter Frauen besteht, die sich in der jungen Bluegrass-Szene bereits als Solokünstlerinnen hervorgetan haben.
Bellowhead
Burlesque (2006)
Die irrwitzigen Bellowhead sind den Köpfen des in Folkclubs wohlbekannten Songschreiber-Duos Jon Boden/John Spiers entsprungen: es ist eine veritable Folk-Big-Band mit elf Mitgliedern samt Sousaphon, Cello, Oboe, Dudelsack, Trompete, Flügelhorn, Bratpfanne, Glockenspiel, Messern und Gabeln. Das resultierende Tohuwabohu ist irgendwo zwischen zentraleuropäischer Zirkusmusik, englischen Jahrmärkten und einem Alptraum von David Lynch angesiedelt.
Mekons
Natural (2007)
Die Mekons waren Punks der ersten Stunde. Aber sie waren keine Rotznasen, die brav dem Vorbild der Londoner Sex Pistols folgten. Vielmehr waren es Kunststudenten aus Leeds, die sich mit der Debütsingle „Never Been In A Riot“ den riskanten Scherz gönnten, die heiligen Clash mit ihrem „White Riot“ satirisch auf die Schippe zu nehmen. Auf musikalischer Ebene wirklich interessant wurde die Band aber erst, als sie in den 80er-Jahren Freude an Fiedeln, Handorgeln und Country & Western fand. Mit dieser Entdeckung standen sie wohlvermerkt allein auf ganz schön weiter Flur. Die Besetzung von damals ist noch heute sporadisch auf unseren Bühnen zu erleben – und ihre Alben sind über die Jahre hinweg nur besser geworden. Natural ist ein typisches Mekons-Werk: ein rockendes Sammelsurium an folkigen Einflüssen, aufgelockert von punkigem Brio, erstklassigen Texten, die auch Woody Guthrie gefallen hätten, und einem hinterlistigen Sinn für Humor.
Emily Barker & The Red Clay Halo
Despite The Snow (2008)
Die singende Songschreiberin Emily Parker stammt aus Westaustralien, ist aber vor ein paar Jahren in England hängen geblieben. Mit Akkordeon und allerhand Streichern schafft sie Lieder, die sich in ihrer erhebend herbstlichen Stimmung wunderbar in die Tradition der drei Island-Alben von Richard und Linda Thompson einfügen. Die Platte enthält übrigens eine überaus würdige Coverversion von „Bright Phoebus“. siehe Lal & Mike Waterson, S. 49
Bowerbirds
Hymns For A Dark Horse (2008)
Mit einer ungewöhnlichen Besetzung von Gitarre, Akordeon/Piano und Perkussion strickt dieses Trio (zwei seiner Mitglieder leben tatsächlich in einer selbstgebauten Blockhütte) aus North Carolina Melodien, die sich durch die sonnigen Auen schlängeln wie ein friedlicher Forellenbach. Die Gesänge von Phil Moore und Beth Tacular gemahnen an den kalifornischen Sunshine-Pop der Sixties, aber vom Geist her liegen die Bowerbirds eher in der Nähe Devendra Banharts oder Alela Dianes. Prominentester Unterstützer und Hyper der Band: John Darnielle, Chef der Mountain Goats. Auf den hören die Leute ja eigentlich. Sie sollten noch mal genauer hinhören.
Alasdair Roberts
Spoils (2009)
Die Lieder des Schotten halten sich von Melodie und Struktur her ganz ans traditionelle Liedgut, wagen sich aber mit den knappen Arrangements (Gitarren, Schlagzeug, aber auch Psalterium, Dulcimer, Synthesizer und Drehleier) und eigenwilligen Texten auf die Äste hinaus. Am Schlagzeug sitzt wieder mal Bonnie-„Prince“-Billy- und Richard-Youngs-Kollaborateur Alex Neilson.
Villagers
Becoming A Jackal (2010)
Der Hausmeister seiner Schule versorgte den jungen Conor J. O’Brien (zumindest im Geiste verwandt mit seinem Vornamensvetter Conor Oberst) aus Dunleary bei Dublin mit der Musik von The Velvet Underground, Scott Walker und Syd Barrett. Nach seiner Lehrzeit mit einer Schrummelband zog sich O’Brien in die Klause zurück und verarbeitete diese Einflüsse unter instrumenteller Mithilfe von allerhand Hausgenossen zu labyrinthartigen Songs, deren stille Dramatik und subtile Wortgewalt immer wieder neue Geheimnisse preisgeben, aber auch mal Bier und Sandwiches thematisieren.