„So viele Goths vergraulen wie möglich“
Dabei könnten Placebo die ungewohnten Bläsersätze auf ihrer neuen Platte tatsächlich helfen. Doch was tun, wenn sich die Düstermädchen alle in den neuen, blutjungen kalifornischen Schlagzeuger des Trios verlieben? Fragen wir Onkel Molko und Onkel Olsdal. Ernten wir Gelächter.
Es gab eine Zeit, da konnte man Placebo hinter der Bühne in ihrer eigenen neonlichtgrellen Vorhölle begegnen. Brian Molko, fertig vom Konzert, mit interessanten Substanzen in der Blutbah n, kauerte da mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, der Kajal verwischt um die flackernden Augen. Eben hatte ihn David Bowie, nachdem er eine Demo-Aufnahme der Band gehört hatte, zu seinem 50. Geburtstag eingeladen und öffentlich „die Tochter, die ich nie hatte“ genannt. Stefan Olsdal fiel es als schweigsamer Nordmann-Tanne von fast zwei Metern Höhe weitaus schwerer, sich zusammenzufalten. Linkisch lehnte er in der Ecke und schüttete sich Dosenbier in den Kopf. Daneben zündete sich, aufgeräumt und ausgepowert, Schlagzeuger Steve Hewitt eine Zigarette nach der anderen an. Mit seinem kleinen Bärtchen und den schulterlangen Haaren sah er aus wie ein schluffiger Musketier, der das elektrisch aufgeladene Treiben um ihn herum mit milder Distanz zu betrachten schien. Dort, wo Placebo waren, war vorne. Eine Rakete, deren zweite Stufe gerade gezündet hatte, um sich in die Stratosphäre des Rock zu katapultieren. WITHOL’T YOU IM NOTHING. Placebo erwiesen sich als das einzige wirklich wirksame Medikament gegen den Studentenrock von Blur und den Arbeiterrock von Oasis, als einzige britische Alternative zum Britpop. Hungrig und wütend wie der ]ungc Punk, leidend wie die frühen Smashing Pumpkins und eine eigentümlich anziehende sexuelle Ambivalenz ausstrahlend, die im längst verflossenen Glamrock wurzelte. Die Band der Stunde. Ein stabiles Molekül aus drei unterschiedlichen Atomen. Mehr als zehn Jahre ist das her. Heute trifft man Placebo im Konferenzraum des Berliner Hilton, wo sie ihr sechstes Album vorstellen. Auf den ersten Blick scheint sich kaum etwas geändert zu haben in den Jahren des sich Etablierens. BATTLE FOR THE SUN ist das, was man seit SLEEPING WITH GHOSTS (2003) und MEDS (2006) als typisches Placebo-Album bezeichnen darf: straighter Rock, an den Rändern elektronisch ausgefranst. Hier und da mit Streichern unterfüttert. Auch inhaltlich sind sie sich treu geblieben, es geht um Liebe, Weltschmerz und Drogen, mit denen alles erträglicher wird, bevor es ins Unerträgliche kippt. An Molko, inzwischen 36 Jahre alt und Vater geworden, und Olsdal scheint die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein. Der Frontmann trägt sogar die Haare wieder feminin lang und neckisch mittelgescheitelt. Auf den zweiten Blick fällt auf, dass Placebo sich vom Majorlabel getrennt und ihre Geschicke wieder in die eigenen Hände genommen haben. Sie werden später von ausdauernden, frustrierenden Tourneen berichten, wobei dieser Frust zu einer ganz entscheidenden Veränderung beigetragen haben könnte, deren Tragweite auf den dritten Blick deutlich wird. Denn dort sitzt, neben Molko und Olsdal, strohblond im Muscleshirt und die braun gebrannte Haut bis auf die Handrücken tätowiert, der gerade mal 22-jährige neue Schlagzeuger: Steve Forrest. Für elf Jahre war das Molekül Placebo stabil, bevor es sich doch spaltete und Steve Hewitt herausbrach. Die offizielle Begründung für die Trennung liest sich, wie sich solche Begründungen eben lesen: „Eine Band ist einer Ehe sehr ähnlich, und in Partnerschaften können die Leute sich über die Jahre auseinanderleben … Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem du feststellst, dass ihr unterschiedliche Dinge von der Beziehung erwartet und nicht mehr unter dem gleichen Dach -wohnen könnt.“ Tatsächlich haben Placebo sogar ihr gemeinsames südfranzösisches weiter auf Seile 56 Text Arno Frank Fnlas Anna Rosa Krau
Kompositionsnest verkauft, eine Villa in den Hügeln von Cannes. Gekauft habe sie „ein russischer Oligarch“ – und dann abgerissen, „der Arsch“. Auf Nachfrage ist Molko bereit, die Gründe für das Zerwürfnis mit Hewitt zu präzisieren: “ Mein Verhältnis zu Stefan war getrübt. Unser aller Verhältnis zueinander war ziemlich gestört. Was zwischen zwei Leuten nicht mehr klappte, wirkte sich auf das ganze Gefüge aus. Ich wollte vor allem wieder einen Draht zu Stefan finden, zurückfinden zu der Zeit, als wir zusammen Songs schrieben, in diesem beschissenen winzigen Zimmer, das mir der Staat finanzierte, als ich arbeitslos war. Wir haben in elf Jahren mit Placebo eine Art zweiter Pubertät erlebt, wir sind zusammen durch die Höhen und Tiefen des Rock’n’Roll-Lifestyles gegangen. Inzwischen geben Stefan und ich einen Dreck auf diesen Lebensstil, uns geht es darum, bessere Musik zu machen. Steve dagegen wollte immer 19 bleiben.“
Aber wenn das stimmt, warum dann ein so junger Schlagzeuger? Der Placebo erst 2006 richtig zur Kenntnis nahm, als er mit seiner Band Evaline in deren Vorprogramm spielte? Einer, der alles noch vor sich hat. Nach seinem spontanen Gegacker zu urteilen, freut Molko sich genau darauf: „Oh, er hat wirklich noch alles vor sich! Und wir werden an der Seitenlinie stehen und uns die Köpfe ablachen, wenn er in die üblichen Fallen tappt.“
Forrest selbst gibt sich abgeklärter, als Alter und Erscheinen vermuten lassen: „Ich glaube, weil diese beiden all das durchgemacht und so viele Fehler begangen haben, werden sie mich davor bewahren. Ich will mich gerne an das Abenteuer erinnern können, das vor mir liegt.“ „Genau“, sekundiert Molko und lacht: „Onkel Brian und Onkel Stefan werden ein Auge au} dich haben. Ich selbst kann mich nicht einmal an die Hälfte der Songs erinnern, die ich live gespielt habe. Das ist traurig. Ich habe mich entschieden, künftig mehr zu behalten.“
Deshalb fühlt Molko sich auch nicht wie in einer neuen Band, im Gegenteil: „Ich habe das Gefühl, meine alte Gruppe zurückzuhaben. Es geht dabei weniger um einen neuen Schlagzeuger als um einen neuen Menschen. Wir waren eine Band, die keine Songs mehr zusammen schreiben konnte. Als würden wir langsam ersticken. Jetzt ist es so, als habe jemand im Proberaum das Fenster aufgemacht. Man kann wieder frei atmen.“
Nachzuhören ist der erfrischende Einfluss Forrests gleich zu Beginn des Titelstücks „Battle For The Sun“, wo Forrest die weiten Räu me der seh leppenden Melodie mit ungewöhnlich verspielten Drumfills auffüllt. Das Songwriting hat er aber auf BATTI.E FOR THE SIN den beiden Onkels überlassen. Nach dem künstlerischen Fortschritt auf dem neuen Album befragt, fallen Molko die Streicher ein:
„Aber Streicher hatten wir ja schon aufMEUS. Also fragten wir uns: Was hatten wir noch nicht?
Bläser! Also rein mit den Bläsersätzen, möglichst viele Goths vergraulen. Das ist es, was wir mit unserer Musik wollen: So viele Goths vergraulen wie irgend möglich!“
Ihr Ziel sei es gewesen, wieder kompakter zu klingen. Bloß kein Leerlauf, den sie auf dem eher stilleren Vorgänger MEDS nicht vermeiden konnten.
„Normalerweise, wenn wir ins Studio gehen, haben wir etwa neun Songs geschrieben“, erzählt Olsdal. „Diesmal kamen wir mit 20 Songs ins Studio, von denen schnell nur 18 übrig blieben, die wir dann auch rasch runterkochten auf 13. “ Zwar ist das Reduzieren auch in der Küche eine gute Methode, Saucen intensiver schmecken zu lassen — wenn’s allein nach Molko gegangen wäre, hätten Placebo diesmal aber auch mit einem Doppelalbum überraschen können. Aber: „Ich will immer Dreifach-Alben machen, aber Stefan sagt: ,Nein, nein, nein, schlechte Idee, komm wieder runter!‘ Es hätte diesmal auj jeden Fall für ein Doppelalbum gereicht, aber, um ehrlich zu sein: Ich habe mir nicht einmal ein so großartiges Doppelalbum wie MELI.OX COLLIE AND THE INFINITE SADNESS von den
Smashing Pumpkins jemals am Stück angehört.“
Placcbo orientierten sich an der Ökonomie einer ganz anderen Gruppe: Radiohead. „Neulieb traf ich Ed O’Brien (Gitarrist von Radiohead-Anm. d. Red.) in einem Restaurant und gratulierte ihm zu ihrem letzten Album“, erinnert sich Molko: „Ich sagte: Wenn ich IN RAIN-BOWS höre, muss ich es jedes Mal wieder von vorne abspielen, da gibt es keine Füller, und Ed meinte: .Genau so wollten wir sie klingen lassen!'“
Tatsächlich nennen Placebo die Kollegen von Radiohead als wichtige Inspirationsquelle – nicht stilistisch, aber in Fragen der Haltung: „Radiohead folgen nur ihrem Herzen, und das hört man. Und das wollen wir auch … wie bei den Bläsersätzen. Wir haben uns gefragt: ,Okay, wie sehr nach Earth, Wind & Fire wollen wir klingen?‘ Des Rätsels Lösung fanden wir auf RATE!) R von den Queens OfThe Stone Age. Das Album ist voll mit Bläsern, aber die sind unter den Gitarren begraben, sie stützen sie. Das Ergebnis ist ein wahnsinnig breiter Sound. „
Helfen lassen haben sie sich dabei in Toronto von David Bonrill, der dEus‘ IDEAL CRASH zu verantworten hat und auch den dichten Sound von Tool. Weil sie es einfach mal mit einem nordamerikanischen Produzenten versuchen wollten – und weil sie eben jenen Markt im Auge haben, wo sie bislang kaum Fuß fassen konnten. Mit der „Project Revolution Tour“ ist es ihnen 2007 gelungen, ihn wenigstens in die Tür zu bekommen, als sie mit Linkin Park und My Chemical Romance tourten und so ein neues Publikum erschlossen: die Emo-Kids und ja, auch die „Goths“, die gar nicht einmal durch die Bläser, aber mit dem neu gewonnenen Optimismus von BATTLE FOR THE SUN gleich wieder verschreckt werden könnten.
Es ist eben keine leichte Sache, sich nach so langer Zeit „neu zu erfinden“. Nachgeholfen hat, laut Molko, auch die Trennung von ihrer Plattenfirma:
„Wir wurden von der EMI beziehungsweise Virgin zu einer Zeit unter Vertrag genommen, die ich gerne als das ,Goldene Zeitalter‘ bezeichne. Damals hatten die Spiee Girls ihren Durchbruch. Ich liebe die Spiee Girls, denn mit dem Erfolg der Spiee Girls wurden Placebo bezahlt: die Platten, die Videos, alles! Doch in den letzten fünf Jahren bei der EMI hatte ich das Gefühl, dass sie keine Ahnung hatten, was sie mit uns anstellen sollten. Als würden sie denken: Okay, dies und das hat diese Band inzwischen erreicht, mehr geht nicht. Diese Leute arbeiten nur noch nach Stechuhr, keine Leidenschaften.“
Zuletzt wurde von EMI SLEEPING WITH GHOSTS kurz nach seiner Veröffentlichung noch einmal veröffentlicht, mit einer Bonus-CD mit Coverversionen wie „Running Up That Hill“ von Kate Bush oder „Daddy Cool“ von Boney M. Zuletzt coverten Placebo live sogar den 80s-Pop-Schlager „Wouldn’t It Be Good “ von Nik Kershaw. Es gibt nur wenige andere Gruppen, bei denen dergleichen nicht als künstlerische Bankrotterklärung gewertet würde. Aber Placebo sind, auch wenn sich über die Jahre ihr hedonistisches Profil abgeschliffen und ihr kreatives Potenzial womöglich ausgereizt hat, noch immer eine berauschende Liveband: offen und bereit, Neues zu probieren.
So werden Placebo als Sextett auf Tournee gehen, u. a. mit der Multiinstrumentahstin Fiona Brice an der Violine, die schon zuvor für Placebo Streicher arrangiert hat: “ Es wird spannend sein zu hören, wie die alten Songs dadurch klingen“, sagt Molko. „Außerdem ist es für die Chemie gut, eine Frau in der Band zu haben.“ „Fiona gehört aber eigentlich auch zu den Jungs“, gibt Olsdal zu bedenken. Molko grübelt und räumt ein: „Sie hat zumindest schon viel Zeit mit einigen Jungs verbracht, die wesentlich bösartiger drauf sind als wir.“ Er hält inne, senkt die Stimme, als spräche er eine Fernsehwerbung ein und sagt:
„Die Zeiten ändern sich, aber wir bleiben uns treu. Placebo — Ihr Lieferant für süße Melancholie seit 1996.“
www.placeboworld.co.uk
Albumkritik S. 104