U2: Vom Präsidenten zum Praktikanten
Wenn Bono im richtigen Moment aus seinem Arbeitszimmer auf die irische Küste schaut, verschmelzen am Horizont das Meer und der Himmel. Nicht umsonst haben U2 ihr neues Album nach diesem optischen Schauspiel benannt. Auch auf "No Line On The Horizon" verschmilzt einiges: Pop und Avantgarde, Folklore und Futurismus. Nach zwei Alben voller Heavy-Rotation-Hits wollen die Iren nun wieder das "Radio interessanter machen".
„wow … das nervt aber!“ – „Ein Song, den man gleich wieder vergessen kann. Nur sture Die-Hard-Fans werden dem widersprechen!‘
„Nach dem ersten Anhören war ich skeptisch, nach dem zweiten war mein Interesse geweckt, heim dritten Mal riss ich den Lautstärkeregler nach oben und jetzt liebe ich es!“: Eine kleine Auswahl aus der ellenlangen Reihe an Kommentaren von YouTube-Usern, die das Online-Posting der neuen U2-Single „Get On Your Boots“ provozierte. Ganz recht: U2 provozieren. Wieder. Nach zwei bestverkaufenden Konsensalben stoßen sie die größte Anhängerschaft, die eine Band auf dieser Erde wohl momentan hat, wieder vor den Kopf. Nicht, dass „Get On Your Boots“ eine ähnliche Sprengkraft wie 1991 „The Fly“, die radikale Abkehr vom Folk und Blues von „Rattle & Hum“ hätte. Aber zumindest verfügt der Song über keinen mits(pr)ingbaren Stadionrefrain wie „Vertigo“ und taugt nicht zum Castingshow-Standard wie „Beautiful Day“: funky Basslinie, elektronische Einsprengsel, plötzlicher Beatwechsel in Richtung HipHop – und ein Text über die Sexyness von Damenstiefeln. „I don’t wanna talk about wars between nations, not right now“, singt Bono, der dreimalige Anwärter auf den Friedensnobelpreis („Den werde ich nie kriegen. Dafür bin ich zu widersprüchlich.“). Den niederen Gelüsten für einen Moment Platz gewähren. Die Welt wird auch morgen noch um Rettung flehen. Nach ihren experimentellen 90ern, die sie 1991 mit dem ebenso künstlerischen und kommerziellen Höhepunkt „Achtung Baby“ begannen und mit dem für Band wie Publikum gleichsam unbefriedigenden TOP beendeten, bewarben sich U2 im Jahr 2000 erfolgreich „erneut um den Job der besten Band der Welt“ (Bono). „All That You Can’t Leave Behind“ (2000) und „How To Dismantle An Atomic Bomb“ (2004) füllten die zuletzt leerer gewordenen Stadien bis auf den letzten Platz und verkauften gemeinsam über 21 Millionen Exemplare. Noch während der „Vertigo“-Tour 2005/06 stellte Drummer Larry Mullen, Jr. aber klar, dass die Band „zum Experimentieren zurückkehren“ müsse. Vom amtsmüden Präsidenten zum sich erstmal orientieren wollenden Praktikanten und zurück. Und wieder vor und wieder zurück. Schluss mit Nummer sicher. Im Dezember 2007 deutete Bono dann an, das neue Album, entstanden in Frankreich, Marokko, New York, London und Dublin, enthalte „Trance-Einflüsse“, „einen Dancefloor-Schocker“ und „Hardcore-Gitarren von The Edge. Die Platte klingt wie nichts, was wir jemals zuvor gemacht haben und wir glauben sogar, dass es wie nichts klingt was irgendjemand jemals zuvor gemacht hat“. Ins selbe Horn blies ein Jahr später Produzent Daniel Lanois: dass mit dem zwölften Album der Iren „der Rock’n’Roll mal wieder neu erfunden wurde“. Richtig gelesen: Daniel Lanois, nicht wie geplant Rick Rubin. Die Sessions mit dem Rauschebart wurden verworfen, stattdessen engagierte man das eingespielte Team Lanois, Brian Eno und Steve Lillywhite (erste Zusammenarbeit des Trios auf einem U2-Werk: „The Unforgettable Fire“, 1984). Mullen, Jr.: „Rick ist es gewohnt, mit Profis zu arbeiten, die ihre Ideen haben und diese aufzeichnen. Er ist es nicht gewohnt, mit Amateuren zu arbeiten, die im Studio ankommen und schauen, was passiert. Und U2 sind oftmals genau diese Amateure!“ Bono: „Dan und Brian sind in ihren eigenen Nischen so experimentell, dass es für sie spannend ist, diese Experimente in den Pop zu bringen. Und für uns ist das auch spannend. Darum sollte es bei U2 gehen: Das Radio interessanter zu machen.“
Zumindest das sollte ihnen mit Stücken wie „Fez – Being Born“ (macht seinem Namensgeber, der nordmarokkanischen Stadt Fes, alle Ehre), „Stand Up Comedy“ (hier tragen The Edges letztjährige Jams mit Jack White und Jimmy Page Früchte) und dem Titelstück (Bono: „The Buzzcocks meets Bow Wow Wow“) gelingen. Wobei eine interessante Frisur freilich noch lange keine formschöne sein muss. Doch es ist der Innovationswille, nach 140 Millionen verkauften Alben und einer Rekordsumme 22 abgeräumter Grammys in 33 Jahren im Geschäft, der imponiert. Die Verweigerung der Rolling-Stones-Werdung. Gott weiß, wie leicht U2 noch in Jahren Arenen ausverkaufen, „Pride (In The Name Of Love)“ und „With Or Without You“ Karaoke singen lassen könnten, mit nichts weiter als einer weiteren Best-Of als Alibi-Aufhänger. Es ist, die Angst, scheiße zu werden“, wie Bono sagt, die die Band davon abhält, zur nächsten Hauptattraktion im Rock’n’Roll-Wanderzirkus zu werden. „Der Unterschied zwischen den Stones und U2 liegt darin, dass die Beziehung von Mick und Keith nicht angehalten hat. Stell dir mal vor, was für Songs die heute schreiben könnten, wenn sie sich noch so eng wären wie damals. Die zwischenmenschliche Chemie ist eben etwas ganz eigenartiges. (…) Edge und ich haben zwei Söhne im gleichen Alter, deren Namen sich reimen – Eli and Levi. Das ist uns damals gar nicht aufgefallen“, sagt der 48-Jährige. Der Forscherdrang hat aber auch seine Grenzen. Wie „Achtung Baby“ sein „One“, „Zooropa“ „Stay (Faraway, So Close!)“, „Original Soudtracks 1“ (von den Passengers, ihrem Alter-Ego-Projekt mit Brian Eno) „Miss Sarajevo“ und „Pop“ „Staring At The Sun“ hatte, finden sich auch auf „No Line On The Horizon“ klassische U2-Stücke: „Magnificent“ ist so eins, eine Hymne. „I’ll Go Crazy If I Don’t Go Crazy Tonight“ ein andres, Pop für Freunde von „Sweetest Thing“. Dazu wird die Platte ganz regulär erscheinen. U2 machen keine Radiohead-Stunts. Bono: „Musik ist nicht überteuert. Die Leute geben 50 Pfund für ein Videospiel aus“ Vielleicht ist Bono da aber auch ein gebranntes Kind; schließlich ist er selbst für einen der dämlichsten Leaks der Geschichte verantwortlich: Im letzten August ließ er sturztrunken Songs aus dem neuen Album in hoher Lautstärke über die Stereoanlage seines Hauses im südfranzösischen Eze laufen. Passanten aktivierten ihre Tonbandgeräte und stellten die Songs ins Internet. Auch hier zeigt sich: der Mut zur Fehlbarkeit. Der ging U2 in den letzten zehn Jahren ab.